warum die zukunft uns doch braucht
Moritz Avenarius, Berlin, 7. Juni 2000

Was macht eigentlich Bewusstsein aus? Aus einem seltsamen Traum aufwachen zu können zum Beispiel. Das werden auch die von Bill Joy an die Wand gemalten allmächtigen Nano-Roboter nicht hinbekommen

Im Feuilleton der FAZ erschien am vergangenen Dienstag (6.6.2000) ein außergewöhnlich ausführlicher Beitrag von Billy Joy, seines Zeichens Chefentwickler bei SUN Microsystems und Mitentwickler der Computersprachen Java und Jini. Joy beschrieb dort unter dem Titel "Warum die Zukunft uns nicht braucht" auf zwei kompletten Zeitungsseiten seine Erwartungen und vor allem Befürchtungen, daß in schon 30 Jahren Wissenschaftler in der Lage sein werden, Computer und Roboter zu erschaffen, die über ein menschenähnliches Bewußtsein verfügen werden (Traum von der künstlichen Intelligenz). Joy erwartet von diesen denkenden Robotern, daß sie die neue Krone der Evolution sein werden, und daß sie die Menschen (wie auch immer) verdrängen, überflügeln werden. Wir stehen folglich kurz vor dem Aussterben.

Joy beruft sich bei seinen Ausführungen in erster Linie auf Ray Kurzweil, der gerade ein Buch mit dem Titel "The Age of Spiritual Machines" (auf Deutsch: "Homo S@piens") veröffentlicht hat. Die Kernthese von Joy (und auch Kurzweil) besagt, daß wenn die Evolution der Computerchips mit der selben Dynamik anhält wie bisher (Gesetz eines mir unbekannten Herrn Moores), dann wird die Rechenleistung eines PCs (definiert als Anzahl der Rechenoperationen pro Sekunde) im Gegenwert von $1000,- im Jahre 2030 die eines menschlichen Gehirns übersteigen. Diese Definition erscheint mir selbst noch klärungsbedürftig. Treffender klingt folgende Erläuterungen von Kurzweil: Schon im Jahre 2019 sollen solche Computer den sogenannten Turing-Test bestehen, das heißt sie sollen in einem beliebigen Gespräch wie menschliche Wesen agieren können, ohne daß man sie als Computer erkennen wird (Blade Runner läßt grüßen ...).

Joy, der in dem Artikel wie der aufgewachte Zauberlehrling aus dem Computerlabor agiert, zieht als Konsequenz seiner Überlegungen den Aufruf zum baldigen Verzicht weiterer wissenschaftlicher Tätigkeiten, um schlimmeres zu verhindern.

Nun zu meinem Traum. Als ich letzten Dienstag die FAZ ins Haus bekam, hatte ich nur Zeit kurz die (etwas dramatisch klingende) Ankündigung der Feuilletonredaktion zu dem Thema zu lesen, nicht jedoch den Artikel selbst. Dort hieß es unter anderem, „Wir wissen, was wir den Lesern damit zumuten. (Gemeint ist die Länge des Artikels) Wir glauben aber, daß diese Zumutung nichts ist im Vergleich zu den Zumutungen der neuen Technologien„. Offensichtlich hatte dies schon ausgereicht mein Traumbewußtsein zu stimulieren, den in der folgenden Nacht träumte ich das folgende:

Das Wunderkind (Traum vom 7.6.2000)

"Ich sitze an einem runden Tisch mit diesem ungewöhlichen Kind, ein Mädchen, welches neben seiner Mutter spielt und malt. Ich schätze, es ist sechs oder sieben Jahre alt, geht gerade in die Schule vielleicht. Ich rede mit ihm wie mit einem erwachsenen Menschen, über Gott und die Welt. Das fällt mir schon mal eigenartig auf. Dann stelle ich fest, sie kann auch fließend Englisch und so unterhalten wir uns eine Weile in dieser Sprache. Wie wir so reden, bemerke ich, sie ließt auch noch in einem Klaviernotenheft und zeichnet da fleissig Noten ein. 'Aha', denke ich, 'jetzt bin ich neugierig und will mal sehen, was sie noch kann.’ „Hablas espanol?„ frage ich sie. „Si, si, no problema„ antwortet sie. Jesses, also dreisprachig schon. Langsam wird mir das doch etwas unheimlich zumute. Ich schaue ihre Mutter an, die mich still und weise anlächelt. Sie sagt, die Kleine beherrsche außerdem noch eine vierte Sprache perfekt. „Ups„, erwidere ich und frage, wie alt sie denn wirklich sei. '3 Wochen', sagt die Mutter. „WAS??„ entfährt es mir, „Wie konnte sie so schnell wachsen und lernen?„. Da erfahre ich das Geheimnis des Mädchens. Sie ist ein Cyborg, ein künstlicher Mensch, der perfekte Androide. Vor lauter Aufregung wache ich auf ..."

Wie gesagt, ich habe den Artikel von Bill Joy erst gestern gelesen (9.6.2000).

Offensichtlich war ich in dem Traum bereits im Jahre 2019, da das kleine Mädchen problemlos mit mir den Turing-Test bestand. Was mich mehr an der Zweckmäßigkeit des Turing-Tests für Alltagssituationen hat zweifeln lassen, als an meinem Verstand. Ich weiß, daß ich dazu neige, die Dinge, die mir begegnen in einen positiven Einklang mit meinen bisherigen Erfahrungen zu bringen. Sprich, ich bin innerlich bereit, mich eher mal täuschen zu lassen, damit eine Sache Sinn macht. Spannend sind aber gerade jene Momente, wenn ich aufwache aus solch einer Illusion. Dort entsteht menschliches Bewußtsein (noch spannender sind solche raren Momente im Schlaf, bei denen ich im Traum meines Träumens bewußt werde und doch im Traum bleibe, also nicht völlig aufwache). Meiner Meinung läßt sich genau das nicht künstlich erzeugen.

Anders gesagt, wäre nicht der eigentliche Turing-Test der, bei welchem ein Androide als Tester mir gegenüber sitzt und rausfinden muß, ob ich Mensch oder Maschine bin? Welche Art von Reaktion würde er zeigen, wenn er dann die Erfahrung machte, ein falsches Urteil zu fällen, falls es mich als Roboter erkennt und nicht als Mensch? Können Computer Fehler machen und daraus lernen? Was denkt das kleine Mädchen in meinem Traum über mich – oder ist es ihr vielleicht egal, ob ich Mensch oder Maschine bin?

Die Frage ist also, was macht menschliches Bewußtsein aus? In meinem Traum begegne ich einem Kind mit offensichtlich überdurchschnittlicher Intelligenz, sprich Rechenleistung, welches vier Sprachen fließend beherrscht und auch noch sich mit Musik beschäftigt. Aber Intelligenz ist noch längst nicht Bewußtsein. Bewußtsein entsteht, wenn ich meine persönlichen Erwartungen und bisherigen Erfahrungen durchschaue und etwas neues erlerne, sprich aufwache. Deswegen widerspreche ich auch der Einschätzung von Joy und Kurzweil, daß allein der weitere Anstieg von Rechnerleistung der Computerchips schon hinreichende Bedingung ist für künstliches Bewußtsein.


[zurück zum Anfang]



© 2000 km 21.0 - diese Seite ist Bestandteil von www.km21.org