science? fiction!
Niels Boeing, Hamburg, Dezember 1999

Der Millenniums-Hype ist los: Wir werden mit Prognosen fürs 21. Jahrhundert überschüttet. Dabei hat das schon vor hundert Jahren nicht funktioniert. Bedeutende Erfindungen des 20. Jahrhunderts hat keiner vorhergesehen, und grandiose Vorhersagen zerstoben wie Seifenblasen. Überblick über ein Debakel

5x erfunden, aber nicht vorhergesagt:

Kunststoff - 1906 schuf der Amerikaner Leo Baekeland aus Kohlenstoffverbindungen das brüchige Bakelit. Spätere elastische Kunststoffe wie Polyäthylen (1933) ließen sich beliebig formen, etwa zu Tüten und Dosen.

Kunstdünger - 1913 wurde mit der Haber-Bosch-Synthese die Massenproduktion von Ammoniak möglich und damit von Kunstdünger, Grundlage der industriellen Landwirtschaft, ohne die das Bevölkerungswachstum des 20. Jahrhunderts undenkbar gewesen wäre.

E-Gitarre - 1937 baute Adolph Rickenbacker die erste E-Gitarre mit Verstärker und schuf damit ein Instrument, das Musik zum Symbol für Freiheit, zum politischen Statement und zur milliardenschweren Industrie gleichermaßen machte.

Laser - 1957 konzipierte der Physiker Gordon Gould das enorm energiereiche, monofrequente Licht, das Stahl schneiden und Daten übertragen kann.

Internet - 1969 wurden die ersten drei Rechner zur Keimzelle des weltweiten Computernetzes verschaltet.

5x vorhergesagt, aber nicht eingetroffen

Zeppelin - Um die Jahrhundertwende glaubte man, dass die zivile und militärische Luftfahrt des 20. Jahrhunderts aus gewaltigen Zeppelin-Flotten bestehen würde. Mit dem Siegeszug der Flugzeuge rechnete niemand.

Radium-Therapie - Als Universal-Therapie gegen Krebs, Tuberkulose oder Blindheit wurde 1910 die Einnahme des radioaktiven Elements Radium gepriesen. Sein Einsatz sollte die Lebensdauer verdreifachen.

Künstliche Lebensmittel - Einige Auguren sahen uns im Jahr 2000 ausschließlich synthetische Lebensmittel essen. Andere wollten Hungersnöte durch Nahrung aus Plankton endgültig ausrotten. Die moderne Landwirtschaft sah niemand voraus.

Unterwasserstädte - Die Platzprobleme der explodierenden Weltbevölkerung sollten durch die Besiedlung der Ozeane gelöst werden.

Bemannte Mondbasis - Nach der Mondlandungseuphorie sollte der Erdtrabant ab 1984 besiedelt werden. Geldmangel hat dies weit ins 21. Jahrhundert verschoben.

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warum futurologen scheitern müssen

Seit Jahrtausenden versuchen die Menschen das Leben einfacher und aufregender zu gestalten. Ebenso lange sinnieren sie, wann es endlich so weit sein wird. An magischen Daten wie jetzt beim Millenniumswechsel packt sie die Ungeduld. Wenigstens ein kleiner Blick in die Zukunft müsste doch möglich sein. Doch allen Orakeln, Propheten und Trendforschern zum Trotz: Der Vorhang zur Zukunft geht nicht auf — auch diesmal nicht.

Die Auguren des Industriezeitalters haben das lange nicht wahrhaben wollen. Mit einer unerschütterlichen Hybris, die für die moderne Wissenschaft keine Grenzen mehr akzeptierte, waren sie überzeugt, auch die Zukunft beherrschbar machen zu können. "Die Zukunftsforscher dachten, sie könnten die Dampfmaschine der Gesellschaft berechnen", sagt Hans-Joachim Schellnhuber, Physiker und Chef des Wissenschaftlichen Beirats für Globale Umweltveränderungen.

Der "Laplace’sche Dämon" tobte durch die Köpfe der "Futurologen": Da die Naturgesetze das Weltgeschehen eindeutig determinieren, könne man es im Prinzip auch vorausberechnen. Alles nur eine Frage der Datenlage und der Rechenkunst.

Hochintelligente eggheads steckten Mitte des Jahrhunderts in think tanks wie der Rand-Corporation. Dabei kam so etwas raus: Heute, an der Schwelle zum Jahr 2000, können wir Hurrikans verhindern und überhaupt das Weltklima nach unserem Gusto manipulieren. Bodenschätze holen wir mit nuklearen Sprengsätzen aus der Erde, jedes Kind der Welt geht zur Schule, Wissenschaftler jetten durchs Sonnensystem auf der Suche nach neuen Rohstoffen, das Bruttosozialprodukt der Sowjetunion ist höher als das der EU, und es gibt gegen jedes erdenkliche Virus die passende Impfung.

Diese Prognosen fußten alle auf ausgefeilten Hochrechnungen. Doch taugen die nicht viel mehr als der Versuch "mit dem Rückspiegel vorwärts zu fahren, während alle anderen Scheiben des Autos zugeklebt sind", beschreibt Eckard Minx das Problem, Leiter des Daimler-Chrysler-think-tank Forschung, Technik und Gesellschaft. Denn: "Die Vergangenheit determiniert nicht die Zukunft."

Klingt banal? Für viele Naturwissenschaftler und Ingenieure — die Hohepriester des Industriezeitalters — war es ein Schock, als sich diese Erkenntnis in den 80er Jahren in der etwas irreführend und despektierlich bezeichneten Chaostheorie endgültig zur Gewissheit verdichtete. Physiker, Mathematiker und Biologen hatten unabhängig voneinander entdeckt: Milch, die sich im Kaffee verteilt, Finanzmärkte oder Nahrungsketten im Wald — all das sind Systeme, die zwar mathematischen Regeln gehorchen, deren künftiges Verhalten sich aber nicht eindeutig berechnen lässt.

Ein schönes Beispiel ist ein Sandhaufen, auf dessen Spitze alle zehn Sekunden ein einziges Sandkorn herabfällt. Irgendwann kommt es zu Lawinen. Doch obwohl die Sandkörner immer gleich groß sind, fallen die Lawinen unterschiedlich groß aus — und es ist unmöglich vorherzusagen, ob das nächste Sandkorn eine ganze Flanke des Haufens ins Rutschen bringt. Wer will da im Ernst glauben, die Folgen eines wie auch immer gearteten Inputs in Gesellschaften überblicken zu können?

Bemerkenswert ist auch die Blindheit vieler Prognostiker für politische Veränderungen. Den Zusammenbruch der Sowjetunion und die Wiedervereinigung hatten die mit Statistiken wie Wachstumsraten und Bevölkerungsdynamik hantierenden Futurologen nicht auf dem Radar. Selbst den oft visionären Sciencefiction-Autoren fehlte in der Weltpolitik die Phantasie.

Der legendäre Jules Verne dachte in seinem lange verschollenen, 1863 geschriebenen Roman "Paris im 20. Jahrhundert" zwar damalige Erfindungen konsequent weiter. In seiner fiktiven Seine-Metropole fahren tatsächlich Autos (verwirklicht 1885), durchzieht ein S-Bahn-Netz die Stadt, werden Schriftstücke und Bilder per Fax in alle Welt übertragen. Für Verne ist Frankreich im Jahr 1960 jedoch immer noch ein Kaiserreich. Und der Zweite Weltkrieg, der die Nutzung der Atomenergie, die Entwicklung des Radars sowie die Computertechnik anstieß? Hat nie stattgefunden.

Manchmal sind geniale Neuerungen einfach nur frühere Fehlschläge. Spencer Silver, Chemiker beim US-Klebstoffhersteller 3M, hatte eigentlich den ultimativen Kleber entwickeln wollen. Heraus kam eine Masse, die nirgendwo hängen blieb, aber immerhin den Untergrund nicht verdreckte. Daran erinnerte sich zehn Jahre später ein Kollege Silvers, der sich ärgerte, dass die Merkzettel in seinem Kirchengesangbuch rausfielen. Die befestigte er mit Silvers Kleber — die Post-it-Notizzettel waren erfunden.

In einem Punkt waren SF-Autoren den Futurologen immer überlegen: Sie waren unterhaltsamer und kritischer. Die drögen, zahlenstrotzenden Zukunftsausblicke von "Experten" kommen an faszinierende Klassiker wie Aldous Huxleys "Schöne neue Welt", Isaac Asimovs Robotergeschichten, Arthur C. Clarkes "2001: Odysse im Weltraum" oder Philip K. Dicks "Träumen Androiden von elektrischen Schafen? Der Bladerunner" nicht heran. "Sciencefiction-Autoren haben oft ein gutes Gespür für die Risiken von Technologien. Ihre Fragestellungen treffen die Eigenarten des Menschen besser", sagt Karlheinz Steinmüller vom Gelsenkirchener Sekretariat für Zukunftsforschung, der selbst auch SF-Autor ist. "Und sie müssen auch den Alltag in der Zukunft beschreiben."

Das macht Sciencefiction-Ideen lebendiger als alle Prognosen und dürfte wohl manchen Forscher inspiriert haben. Klone, Cyborgs, Roboter oder Übersetzungscomputer, seit Jahrzehnten Standardrepertoire der SF, sind in den 90er Jahren mehr oder weniger Realität geworden.

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Zukunft hat angesichts der Pleite der traditionellen Futurologie die Perspektive gewechselt. Heute gehe es nicht mehr um die Berechnung von Prognosen, sondern um "die Entwicklung von realisierbaren Zukunftsstrategien", betont Rolf Kreibich, der das Berliner Institut für Zukunftsstudien IZT leitet: "Wir fragen: Welche Zukunft ist wünschbar und wie ist sie zu gestalten?"

Im Gegensatz zu früher werden nicht vermeintliche Trends von heute in die Zukunft weitergedacht, sondern Szenarien bewertet wie "Berlin wird im nächsten Jahrzehnt die Filmstadt Europas" und in die Gegenwart zurückverfolgt. Erscheint dies plausibel und wünschenswert, werden Handlungsoptionen formuliert. Genau darauf haben Forscher wie Kahn verzichtet. "Die haben sich als Intellektuelle verstanden, die nichts gestalten wollten", sagt Hans Joachim Schellnhuber. Und fügt hinzu: "Prognostik ist einfach Unsinn: Wenn man eine Entdeckung vorhersagen könnte, hätte man sie ja schon gemacht."

erschienen im Dezember 1999 in der „Woche“

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