5x erfunden, aber nicht
vorhergesagt:
Kunststoff -
1906 schuf der Amerikaner Leo Baekeland aus
Kohlenstoffverbindungen das brüchige Bakelit. Spätere
elastische Kunststoffe wie Polyäthylen (1933) ließen
sich beliebig formen, etwa zu Tüten und Dosen.
Kunstdünger
- 1913 wurde mit der Haber-Bosch-Synthese die Massenproduktion
von Ammoniak möglich und damit von Kunstdünger,
Grundlage der industriellen Landwirtschaft, ohne die das
Bevölkerungswachstum des 20. Jahrhunderts undenkbar gewesen
wäre.
E-Gitarre -
1937 baute Adolph Rickenbacker die erste E-Gitarre mit Verstärker
und schuf damit ein Instrument, das Musik zum Symbol für
Freiheit, zum politischen Statement und zur milliardenschweren
Industrie gleichermaßen machte.
Laser - 1957
konzipierte der Physiker Gordon Gould das enorm energiereiche,
monofrequente Licht, das Stahl schneiden und Daten übertragen
kann.
Internet -
1969 wurden die ersten drei Rechner zur Keimzelle des weltweiten
Computernetzes verschaltet.
5x vorhergesagt, aber nicht
eingetroffen
Zeppelin - Um
die Jahrhundertwende glaubte man, dass die zivile und
militärische Luftfahrt des 20. Jahrhunderts aus gewaltigen
Zeppelin-Flotten bestehen würde. Mit dem Siegeszug der
Flugzeuge rechnete niemand.
Radium-Therapie
- Als Universal-Therapie gegen Krebs, Tuberkulose oder Blindheit
wurde 1910 die Einnahme des radioaktiven Elements Radium
gepriesen. Sein Einsatz sollte die Lebensdauer verdreifachen.
Künstliche
Lebensmittel - Einige Auguren sahen uns im Jahr 2000
ausschließlich synthetische Lebensmittel essen. Andere
wollten Hungersnöte durch Nahrung aus Plankton endgültig
ausrotten. Die moderne Landwirtschaft sah niemand voraus.
Unterwasserstädte
- Die Platzprobleme der explodierenden Weltbevölkerung
sollten durch die Besiedlung der Ozeane gelöst werden.
Bemannte
Mondbasis - Nach der Mondlandungseuphorie sollte der
Erdtrabant ab 1984 besiedelt werden. Geldmangel hat dies weit ins
21. Jahrhundert verschoben.
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warum futurologen scheitern
müssen
Seit Jahrtausenden
versuchen die Menschen das Leben einfacher und aufregender zu
gestalten. Ebenso lange sinnieren sie, wann es endlich so weit
sein wird. An magischen Daten wie jetzt beim Millenniumswechsel
packt sie die Ungeduld. Wenigstens ein kleiner Blick in die
Zukunft müsste doch möglich sein. Doch allen Orakeln,
Propheten und Trendforschern zum Trotz: Der Vorhang zur Zukunft
geht nicht auf auch diesmal nicht.
Die Auguren des
Industriezeitalters haben das lange nicht wahrhaben wollen. Mit
einer unerschütterlichen Hybris, die für die moderne
Wissenschaft keine Grenzen mehr akzeptierte, waren sie überzeugt,
auch die Zukunft beherrschbar machen zu können. "Die
Zukunftsforscher dachten, sie könnten die Dampfmaschine der
Gesellschaft berechnen", sagt Hans-Joachim Schellnhuber,
Physiker und Chef des Wissenschaftlichen Beirats für Globale
Umweltveränderungen.
Der "Laplacesche
Dämon" tobte durch die Köpfe der "Futurologen":
Da die Naturgesetze das Weltgeschehen eindeutig determinieren,
könne man es im Prinzip auch vorausberechnen. Alles nur eine
Frage der Datenlage und der Rechenkunst.
Hochintelligente
eggheads steckten Mitte des Jahrhunderts in think tanks wie der
Rand-Corporation. Dabei kam so etwas raus: Heute, an der Schwelle
zum Jahr 2000, können wir Hurrikans verhindern und überhaupt
das Weltklima nach unserem Gusto manipulieren. Bodenschätze
holen wir mit nuklearen Sprengsätzen aus der Erde, jedes
Kind der Welt geht zur Schule, Wissenschaftler jetten durchs
Sonnensystem auf der Suche nach neuen Rohstoffen, das
Bruttosozialprodukt der Sowjetunion ist höher als das der
EU, und es gibt gegen jedes erdenkliche Virus die passende
Impfung.
Diese Prognosen
fußten alle auf ausgefeilten Hochrechnungen. Doch taugen
die nicht viel mehr als der Versuch "mit dem Rückspiegel
vorwärts zu fahren, während alle anderen Scheiben des
Autos zugeklebt sind", beschreibt Eckard Minx das Problem,
Leiter des Daimler-Chrysler-think-tank Forschung, Technik und
Gesellschaft. Denn: "Die Vergangenheit determiniert nicht
die Zukunft."
Klingt banal? Für
viele Naturwissenschaftler und Ingenieure die Hohepriester
des Industriezeitalters war es ein Schock, als sich diese
Erkenntnis in den 80er Jahren in der etwas irreführend und
despektierlich bezeichneten Chaostheorie endgültig zur
Gewissheit verdichtete. Physiker, Mathematiker und Biologen
hatten unabhängig voneinander entdeckt: Milch, die sich im
Kaffee verteilt, Finanzmärkte oder Nahrungsketten im Wald
all das sind Systeme, die zwar mathematischen Regeln gehorchen,
deren künftiges Verhalten sich aber nicht eindeutig
berechnen lässt.
Ein schönes
Beispiel ist ein Sandhaufen, auf dessen Spitze alle zehn Sekunden
ein einziges Sandkorn herabfällt. Irgendwann kommt es zu
Lawinen. Doch obwohl die Sandkörner immer gleich groß
sind, fallen die Lawinen unterschiedlich groß aus
und es ist unmöglich vorherzusagen, ob das nächste
Sandkorn eine ganze Flanke des Haufens ins Rutschen bringt. Wer
will da im Ernst glauben, die Folgen eines wie auch immer
gearteten Inputs in Gesellschaften überblicken zu können?
Bemerkenswert ist
auch die Blindheit vieler Prognostiker für politische
Veränderungen. Den Zusammenbruch der Sowjetunion und die
Wiedervereinigung hatten die mit Statistiken wie Wachstumsraten
und Bevölkerungsdynamik hantierenden Futurologen nicht auf
dem Radar. Selbst den oft visionären Sciencefiction-Autoren
fehlte in der Weltpolitik die Phantasie.
Der legendäre
Jules Verne dachte in seinem lange verschollenen, 1863
geschriebenen Roman "Paris im 20. Jahrhundert" zwar
damalige Erfindungen konsequent weiter. In seiner fiktiven
Seine-Metropole fahren tatsächlich Autos (verwirklicht
1885), durchzieht ein S-Bahn-Netz die Stadt, werden Schriftstücke
und Bilder per Fax in alle Welt übertragen. Für Verne
ist Frankreich im Jahr 1960 jedoch immer noch ein Kaiserreich.
Und der Zweite Weltkrieg, der die Nutzung der Atomenergie, die
Entwicklung des Radars sowie die Computertechnik anstieß?
Hat nie stattgefunden.
Manchmal sind
geniale Neuerungen einfach nur frühere Fehlschläge.
Spencer Silver, Chemiker beim US-Klebstoffhersteller 3M, hatte
eigentlich den ultimativen Kleber entwickeln wollen. Heraus kam
eine Masse, die nirgendwo hängen blieb, aber immerhin den
Untergrund nicht verdreckte. Daran erinnerte sich zehn Jahre
später ein Kollege Silvers, der sich ärgerte, dass die
Merkzettel in seinem Kirchengesangbuch rausfielen. Die befestigte
er mit Silvers Kleber die Post-it-Notizzettel waren
erfunden.
In einem Punkt waren
SF-Autoren den Futurologen immer überlegen: Sie waren
unterhaltsamer und kritischer. Die drögen, zahlenstrotzenden
Zukunftsausblicke von "Experten" kommen an
faszinierende Klassiker wie Aldous Huxleys "Schöne neue
Welt", Isaac Asimovs Robotergeschichten, Arthur C. Clarkes
"2001: Odysse im Weltraum" oder Philip K. Dicks
"Träumen Androiden von elektrischen Schafen? Der
Bladerunner" nicht heran. "Sciencefiction-Autoren haben
oft ein gutes Gespür für die Risiken von Technologien.
Ihre Fragestellungen treffen die Eigenarten des Menschen besser",
sagt Karlheinz Steinmüller vom Gelsenkirchener Sekretariat
für Zukunftsforschung, der selbst auch SF-Autor ist. "Und
sie müssen auch den Alltag in der Zukunft beschreiben."
Das macht
Sciencefiction-Ideen lebendiger als alle Prognosen und dürfte
wohl manchen Forscher inspiriert haben. Klone, Cyborgs, Roboter
oder Übersetzungscomputer, seit Jahrzehnten
Standardrepertoire der SF, sind in den 90er Jahren mehr oder
weniger Realität geworden.
Die
wissenschaftliche Beschäftigung mit der Zukunft hat
angesichts der Pleite der traditionellen Futurologie die
Perspektive gewechselt. Heute gehe es nicht mehr um die
Berechnung von Prognosen, sondern um "die Entwicklung von
realisierbaren Zukunftsstrategien", betont Rolf Kreibich,
der das Berliner Institut für Zukunftsstudien IZT leitet:
"Wir fragen: Welche Zukunft ist wünschbar und wie ist
sie zu gestalten?"
Im Gegensatz zu
früher werden nicht vermeintliche Trends von heute in die
Zukunft weitergedacht, sondern Szenarien bewertet wie "Berlin
wird im nächsten Jahrzehnt die Filmstadt Europas" und
in die Gegenwart zurückverfolgt. Erscheint dies plausibel
und wünschenswert, werden Handlungsoptionen formuliert.
Genau darauf haben Forscher wie Kahn verzichtet. "Die haben
sich als Intellektuelle verstanden, die nichts gestalten
wollten", sagt Hans Joachim Schellnhuber. Und fügt
hinzu: "Prognostik ist einfach Unsinn: Wenn man eine
Entdeckung vorhersagen könnte, hätte man sie ja schon
gemacht."
erschienen im Dezember 1999 in
der Woche
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