die wahrheit über das zoon technikon
Niels Boeing, Hamburg, April 2004

Oppenheimer zum 100.: Zeit, um Abschied von den Mythen der unschuldigen Wissenschaft und der neutralen Technik zu nehmen - und von der Illusion, der technische Lauf der Dinge ließe sich aufhalten. Doch einen Lichtblick gibt es immerhin...

Am 22. April 2004 jährt sich der Geburtstag Robert Oppenheimers, des Leiters des „Manhattan Project“ zum Bau der amerikanischen Atombombe, zum hundertsten Mal, und wieder einmal ist vom Sündenfall der modernen Wissenschaft die Rede. Viele der brillantesten Physiker des 20. Jahrhunderts, darunter Albert Einstein, Enrico Fermi und Richard Feynman, waren an der Entwicklung der Bombe beteiligt, um Hitler-Deutschland zuvorzukommen – und bereuten es doch schon nach dem ersten und einzigen Test im Juli 1945. Die Abwürfe auf Hiroshima und Nagasaki einen Monat später konnten sie nicht mehr verhindern. Das US-Militär hatte die Sache endgültig in die Hand genommen. Der Fall scheint klar: Naive Wissenschaftler haben mit ihren Erkenntnissen eine Büchse der Pandora geöffnet, die sich in den Händen von verantwortungslosen Zeitgenossen in eine mörderische Waffe verwandelt. Und dieses Muster kann sich jederzeit wiederholen.

Diese Interpretation ist ganz offensichtlich – und leider nicht haltbar, weil sie auf zwei modernen Mythen aufbaut. Der Erste: Naturwissenschaftliche Erkenntnis und Technik sind voneinander getrennt. Der Zweite: Technik ist an sich neutral, es kommt nur darauf an, wie man sie einsetzt.

Bis heute lernen wir in der Schule, dass der Physiker die Natur teilnahmslos beobachtet und sich dann in sein Kämmerlein zurückzieht, um mit dem geistigen Werkzeug der Mathematik ihre Gesetze herauszuarbeiten. Das Ergebnis bekommt der Techniker in die Hand und ersinnt einen Apparat, der dann erstaunliche Dinge vollbringt. Das mag noch für das Gravitationsgesetz gelten: Newton sah der Legende nach den Apfel auf die Erde fallen, verfasste seine berühmten Gleichungen, und 250 Jahre später bauten Ingenieure auf ihrer Grundlage Raketen, die das Sonnensystem erkunden.

Doch seit dem 19. Jahrhundert sind viele Durchbrüche in der Physik nur noch durch ausgeklügelte technische Instrumente zustande gekommen. Manche Erkenntnis ist gar nicht mehr von ihnen zu trennen. „Einige der erstaunlichsten Entdeckungen der Wissenschaft – wie die Gesetze der Thermodynamik – wurden nicht im Hinblick auf die &Mac226;bloße Natur’ gemacht, sondern aufgrund von Problemen, die Maschinen – also Technik – aufgaben“, schreibt der US-amerikanische Technikphilosoph Don Ihde. „Die Thermodynamik entstand aus den Rätseln der Dampfmaschine.“ Laser und Supraleitung sind weitere Beispiele für Phänomene, die überhaupt nur in technischen Apparaten entdeckt werden konnten. Schaut man sich die Liste der Physik-Nobelpreise – vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – an, stellt man fest, dass vermehrt technische Versuchsanordnungen oder gar lupenreine technische Erfindungen ausgezeichnet wurden.

Das gilt besonders für Erkenntnisse über den Aufbau der Materie und die Kräfte, die ihre Bestandteile zusammen halten. Von der Versuchsanordnung zur Beherrschung solcher Phänomene sind es mitunter nur wenige Schritt in der Veränderung des technischen Designs. So führt eine direkte Linie von der Untersuchung der Kernspaltung zum Prinzip eines Reaktors, um daraus Energie zu gewinnen, ebenso wie zum Prinzip der Atombombe. An dieser Stelle kommt der zweite Mythos von der Neutralität der Technik ins Spiel. Denn schließlich sei es doch unsere Entscheidung, einen „guten“ Reaktor oder eine „schlechte“ Bombe zu bauen, lautet das Standardargument. Ein Hammer, mit dem man einen Dachstuhl zusammenzimmert, lasse sich leider eben auch dazu nutzen, einem anderen den Schädel einzuschlagen. Doch auch dieses Argument greift zu kurz, denn keine Technik existiert zunächst in einem politischen oder ethischen Vakuum.

Dass die Beherrschung einer potenziell sehr gefährlichen Technik zwangsläufig prekäre Folgen hat, haben Technikkritiker in den vergangenen Jahrzehnten am Beispiel der Kernkraft deutlich herausgearbeitet. Der kalifornische Reaktor Diablo Canyon sei ein „sehr gutes Beispiel für eine inhärent politische Technologie“, hat der Amerikaner Langdon Winner in seinem Buch The Whale and the Reactor klargestellt. „Sein Betrieb erfordert ein autoritäres Management und extrem straffe Sicherheitsvorkehrungen. Es ist eine dieser in der modernen Gesellschaft immer weiter verbreiteten Strukturen, die so gefährlich und verwundbar sind, dass sie gut überwacht werden müssen.“ Wer daran zweifelt, sollte eine Anlage wie das AKW Biblis oder das Zwischenlager Gorleben besichtigen.

Zu glauben, dieses Problem ließe sich dann eben durch einen präventiven Forschungsstopp bei der Wurzel packen, ist jedoch naiv. Denn der moderne Mensch kann nicht anders, als mit der Welt technisch umzugehen, um sie zu verstehen. Oder, wie es Martin Heidegger 1950 in einem Vortrag formulierte: „Die Technik ist also nicht bloß ein Mittel. Die Technik ist eine Weise des Entbergens.“ Und das „Entbergen“ ist hier nichts weniger als die Suche nach Wahrheit. Sehr frei in Anlehnung an Platos Diktum, der Mensch sei ein „Zoon politikon“, ein politisches Wesen, könnte man den modernen Menschen denn auch ein „Zoon technikon“ nennt.

Müssen wir also angesichts dieses Schicksals in Depression verfallen? Vielleicht nicht. Eine Sicherheitsvorkehrung, wenn schon keinen Ausweg, bietet nämlich ausgerechnet ein Zweig der Technik, der den Physikern des Manhattan Project noch nicht zur Verfügung stand: die Informationstechnik. Sie hat uns das Werkzeug der Simulation von Ereignissen im Computer gebracht. Hätte es Oppenheimer und seinen Mitstreitern zur Verfügung gestanden, hätten sie wohl immerhin erkannt, dass keine Gefahr besteht, die erste Textexplosion könne die Atmosphäre in Brand setzen. Diese Befürchtung hatte Enrico Fermi geäußert. Sie hätten aber vielleicht auch erkannt, welche verheerenden Langzeitfolgen die Bombe jenseits der unmittelbaren physischen Zerstörung durch den radioaktiven Fallout hat. Das Mittel der Simulation „könnte einen radikalen Einschnitt in der Geschichte der Technik bedeuten, der dazu beitragen könnte, die negativen Folgen einer neuen Technologie weiter zu minimieren, ja: vielleicht sogar ihren GAU von vornherein auszuschließen“, hofft der Philosoph Walther Christoph Zimmerli, derzeit Präsident der Volkswagen-Universität. Für die technische Nutzung der Kernkraft kommt dieses Mittel zu spät. Ihr GAU hat bereits mehrfach stattgefunden, in Hiroshima, Nagasaki und Tschernobyl. Auf den neuen Gebieten der Bio- und der Nanotechnik, die unser Leben in den nächsten Jahrzehnten prägen werden, könnte uns der GAU noch erspart bleiben.

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