abschied vom polyester
Niels Boeing, Hamburg, 2006

Ein Selbstversuch frei nach H. G. Wells' Klassiker "Die Zeitmaschine": Wie man in der eigenen Wohnung mittels Zeitreise in der Technik der Antike landet.

Die Verfilmung von H. G. Wells’ Sciencefiction-Klassiker „Die Zeitmaschine“ von 1960 hat mich kürzlich auf eine Idee gebracht. Es war diese Zeitreise aus einem viktorianischen Arbeitszimmer in eine ferne Zukunft, auf der der Reisende die Mauern seine Hauses verfallen sieht, während die Jahre auf der Anzeige hochzählen. Wie wäre es, in meiner Wohnung eine virtuelle Zeitreise durch die Technikgeschichte zurück zur Antike zu wagen? Spielregel Nr. 1: Wenn eine Technologie das Jahr ihrer Erfindung passiert, wird sie weggedacht und darf nicht mehr genutzt werden. Es sei denn – Spielregel Nr. 2 –, es gibt noch eine äquivalente Technologie.

Im Wohnzimmer starte ich die Gedankenmaschine. Sachte klicken die Jahre auf meinem imaginären Zeitreise-Display ins Gestern, und schon sind Laptop, Handys und CDs weg. 1948 schaue ich ein letztes Mal auf mein Plattenregal. In jenem Jahr wurde die Vinyl-LP eingeführt. 1938: Nylon kam auf den Markt und bereitete den Siegeszug der Kunstfasertextilien vor. Ich werfe einen Blick in meinen Kleiderschrank. Ganz schön leer: die bunten Hemden aus Polyester, die Outdoor-Jacken – das war’s dann auch mit Funktions- und Trendklamotten. 1910 kann ich sämtliche Plastikgegenstände aus meinem Inventar streichen. Damals entwickelte Leo Baekeland den ersten echten Kunststoff, das Bakelit. Ich beschleunige runter auf 1850. Zeit, meine einzige Wollhose anzuziehen, aus schottischem Tartan, denn die von Levi Strauss erfundene Jeans versinkt in der Zukunft. Ich sollte noch erwähnen, dass Lampen, E-Herd und Kühlschrank längst verschwunden sind, Radio und TV sowieso. Still und deutlich leerer ist meine Wohnung jetzt. Als ich Immanuel Kants Lebensabend im späten 18. Jahrhundert passiere, versiegt der Strom in den Batterien, die mir noch geblieben sind, das Fahrrad im Hinterhof (1817 von Karl Friedrich Dais erfunden) hat sich bereits verabschiedet.

1609, frühes Barock: Damals erschien die „Relation“, die erste gedruckte Zeitung der Geschichte, in Straßburg. Ab jetzt bin ich arbeitslos, denn mein Berufsstand gehört der Zukunft an. 1589 stoppe ich, um ein letztes Mal auf das in England erfunden WC gehen zu können. Soll ich eine Schüssel zum Nachttopf umfunktionieren? In Gutenbergs Jahrhundert, dem 15., leeren sich die Bücherregale. Was bleibt, sind eigene vollgeschmierte Kladden, die ich eigentlich nicht lesen will. Im 13. Jahrhundert entschwindet die einzige mechanische Zeigeruhr, die ich noch nutze: Am Turm der Altonaer Friedenskirche zeigt sie mir durchs Küchenfenster die Zeit. Und auch der Bleistift, mit dem ich Notizen gemacht habe wie Mönche des späten Mittelalters, ist perdu. Dann halte ich schließlich im Jahre 450, der Endzeit des klassischen Römischen Reiches.

Was bleibt? Bett, Tisch, Stühle, Schrank, Regale und ein paar Kleider sind noch da. Eine Kreidezeichnung an der Wand, denn Papier ist schon erfunden (im fernen China). Nun gut, auch Töpfe, Geschirr, Messer und Löffel. Was tun? Ich könnte mich nützlich machen und das letzte Brett am selbst gebauten Küchenschrank anschrauben, das seit Monaten achtlos in der Ecke steht. Blöd nur: Der Schraubenzieher wurde erst im letzten Jahrtausend erfunden, man mag es kaum glauben.

Da ist noch ein alter Wollpullover, den ich schon lange zum Stopfen bringen wollte. Ich überschlage die Entfernung: Der Laden befindet sich in der Hamburger Neustadt, gut einen Kilometer entfernt. Ich schnappe mir meine Jacke aus Wollfilz, greife die Lederschuhe –Turnschuhe sind nicht mein Ding – und mache mich auf den Weg durch den Hamburger Nieselregen. In der einbrechenden Dämmerung sind die Straßenlaternen angegangen. Wie das? Die erste Straßenbeleuchtung der Antike ist für das Jahr 350 in Antiochia, dem heutigen Antakya in der Südosttürkei bezeugt, zwar nicht mit Glühbirnen, aber ich beschließe, Regel Nr. 2 gelten zu lassen. Das Konzept existiert 450 schon. Auf dem Rückweg verkneife ich mir einen Kaffee in einer Gaststätte – den bescheren uns erst Jahrhunderte später die Araber. Aber ich könnte mir Fleisch in einer Metzgerei kaufen, denn das erste Kühlhaus der Geschichte soll 1700 v. Chr. in Syrien gebaut worden sein. In der Bäckerei unten im Haus kaufe ich Brot: Die vom Land in die Stadt abgewanderten Unterschichten in den antiken Großstädten hatten in den kleinen Mietwohnungen keine Öfen fürs Brotbacken, so dass überall Bäckereien entstanden.

Als ich wieder in meiner Wohnung ankomme, ist es immerhin warm, denn noch einmal lasse ich Regel Nr. 2 gelten: Die Heizung kennt die Antike spätestens seit dem ersten vorchristlichen Jahrhundert mit dem Hypokaustum, einer Fußbodenheizung. Aber es ist dunkel. Ich zünde ein paar Kerzen an. Im funzligen Licht höre ich durch den Zeittunnel meiner imaginären Maschine in weiter Ferne ständig das Telefon klingeln. Aber ich kann nicht mehr abheben, kann auch nichts mehr im Internet, in Büchern recherchieren, mich nicht einmal mit Musik zerstreuen – ich spiele leider kein Instrument. Es gibt nichts zu tun. Aber das hier ist kein Besinnungsurlaub auf dem Land, den sich gestresste Städter gerne mal gönnen. Es ist ein stinknormaler Werktag in einer Großstadt, in der mir außer Sport und Essen nichts geblieben ist, was meinen Alltag ausmacht.

Im Vorratsschrank standen ein paar Konservendosen, aber die sind 1804 verloren gegangen, als Napoleon für seine Truppen eine Verpackung für haltbare Verpflegung entwickeln ließ. Ich könnte versuchen, auf dem Dach im Grill ein paar Holzkohlen anzuzünden (womit?) und mir eine Suppe zu kochen. Wenn es nicht regnen würde bei drei Grad Celsius. Dumm, wenn man keine Feuerstelle in der Wohnung hat und stattdessen sogar fürs Essen am Energietropf der modernen Zivilisation gehangen hat, der aus der Steckdose kommt.

Der Mensch der Spätantike hat es da so schlecht nicht gehabt, denke ich mir, in einer Zivilisation, die anders, aber durchaus komplex und organisiert war. Mit einer dezentralen Energieversorgung, über deren Wiederbelebung wir seit 30 Jahren streiten. Mit Technologien, die der Philosoph José Ortega y Gasset die „Technik des Handwerkers“ genannt hat: eine unmittelbare Technik, deren Wirkprinzipien noch durch Zeigen und Nachschauen verstanden werden kann. Nichts davon kann ich rekonstruieren. Ich habe nie ein Handwerk gelernt und kann mich Informationsarbeiter des 21. Jahrhunderts schimpfen – wie Millionen andere in der Dienstleistungsgesellschaft auch. Aber meine Werkzeuge sind alle Black Boxes, an denen ich nur Knöpfe drücken kann. Meine Rettung ist Holzofenpizza in einem Restaurant am Platz – die haben noch Feuer in der Hütte.

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