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Niels Boeing, Oktober 2001

Gehasst, verspottet, fast zerlegt und totgesagt. Von wegen - 20 Jahre nach MS-Dos ist Microsoft stark wie nie und macht sich an die endgültige Unterwerfung des Internets. Der erste sichtbare Schritt: das neue Windows XP.

Microsoft hat eine neue Mission. Eine ungeheure Mission. Getreu dem Motto des letzten Bond-Films "The World is not enough” - auf 90 Prozent aller realen PCs läuft bereits das Windows-Betriebssystem, der PC-Absatz geht aber erstmals zurück - ist jetzt der Cyberspace dran. Unter dem harmlosen Name ".NET” (sprich: dot-net) soll seine bislang chaotische Kolonisierung vollendet werden. Die Bauleitung hat dabei: Microsoft. Der Architekt: Microsoft. Der Innenausstatter, die Post-und Telekommunikationsbehörde, das Einwohnermeldeamt des Cyberspace: alles Microsoft. Aus dem Internet wird das .NET.

Einen Vorgeschmack liefert Microsofts neues Betriebssystem Windows XP. Es ist nicht nur die erste Ausgabe des "vereinigten” Windows, das das Nebeneinander der drei Windows-Familien beenden soll (siehe Stammbaum) und - versehen mit der Codebasis von Windows 2000 - einen Grundbaustein für .NET bildet. In XP sind auch Internet- und Multimedia-Anwendungen in einem bislang nicht gekannten Ausmaß mit dem Betriebssystem des PCs verwoben. Mit XP soll Windows für den User nicht länger ein Arbeitstier, sondern eine aufregende "Erfahrung” sein - eXPerience eben.

Luna ist cool

Auch wenn es computer-politisch überhaupt nicht korrekt ist: XP ist definitiv "cool", wie es Bill Gates sagen würde. Das Design der neuen Oberfläche "Luna” ist elegant und durchdacht. Keine Spur mehr von jener faden grauen Fensterästhetik, von Schaltflächen, die unverständlich bleiben, von Optionen, die in verschachtelten Menüs vergraben sind. Das Startmenü ist nicht mehr statisch, sondern listet die zuletzt verwendeten Programme auf. Geöffnete Ordner-Fenster versammeln nicht nur Dateisymbole, sondern bieten in einer Extra-Spalte verständlich formulierte Vorschläge, was man damit anstellen kann.

Verbindungen zum Internet werden - hat man einmal Zugangsdaten und Email-Konto festgelegt - im Hintergrund ausgeführt. Will man etwa Bilder oder Musikdateien an Freunde schicken, muss nicht erst das Email-Programm gestartet werden. XP ist die bislang beste Verschmelzung zwischen Desktop und Internet: Alles fließt ineinander, verknüpft sich, informiert präzise. Überhaupt ist alles, was im Jahre 2001 für User von Interesse ist: mailen, chatten per Instant Messenger, CDs brennen, Bearbeitung von Bildern aus Digitalkameras, ist all das in XP enthalten. Und dadurch kinderleicht zu bedienen.

Auch wenn dies die Kartellbehörden von USA und EU - ökonomisch völlig zurecht - in Rage bringt, dürften es die meisten Durchschnittsnutzer als Segen empfinden, keine Programme mehr installieren zu müssen. Für sie sind Computer eine Qual geblieben, die - Ironie der Geschichte - gerade Microsoft mit unausgereiften Produkten mitzuverantworten hat.

Neu ist der Ansatz, unterschiedliche Programme unter einer Oberfläche zu bündeln, ohnehin nicht. Staroffice, heute im Besitz von Erzkonkurrent Sun Microsystems, begann vor Jahren, Desktop, Office-Programme und Browser in einem Fenster zu versammeln. Und Apple, die Kunsthandwerker des modernen PC-Baus, haben Internet-Dienste über das iTools-Konzept längst an ihr Betriebssystem gekoppelt.

Aber Innovation war Microsofts Sache bekanntlich nie. Steve Wood, ein Windows-Veteran, hat die Firmenphilosophie so zusammengefasst: "Schauen, wo alle hinlaufen, sie einholen und dann überholen.” Überholen, das kann dann in der Tat niemand besser als Microsoft, das über eine Barreserve von rund 30 Milliarden Dollar verfügt und jährlich 15 Prozent seines Umsatzes in die Forschung pumpt.

Erst als alle ins Web liefen, entschied Gates, dass das "next big thing” wohl doch nicht die 500 Fernsehkanäle seien, die er noch in seinem Buch "Der Weg nach vorn” beschwor. Am 26. Mai1995 gab er in einem berühmten firmeninternen Memo die Anweisung zum "Einholen”: "Das Internet hat für mich jetzt erste Priorität." Mit .NET setzt Microsoft nun zum Überholen an.

Die .NET-Idee

.NET ist keine Software, sondern eine Software-Architektur. Mit ihr wird das Internet in eine riesige einheitliche Datenbank verwandelt, auf die alle User und Firmen mit jedem beliebigen Computer zugreifen können. Ganz gleich, ob per Handy, PC oder Großrechner, ob es um Online-Shopping, Kommunikation oder Unterhaltung geht: Alle Daten im Netz sind auf dieselbe Weise abrufbar und austauschbar.

Dies ist bislang nicht der Fall. Webseiten sind oft statisch und können nur von PC-Browsern, nicht aber von Kleincomputern aufgerufen werden. Produktdatenbanken sind nicht in Standard-Internet-Formaten angelegt. Zahlreiche Spezialprogramme in Unternehmen können über das Internet nicht zur Verfügung gestellt werden, weil sie in der falschen Programmiersprache geschrieben sind. Kurz: Der Cyberspace besteht aus inkompatiblen Inseln.

.NET will das ändern, indem es eine Art allgegenwärtigen Daten- und Programmiersprachen-Übersetzer ins Netz einbaut, der auf den vom World Wide Web Consortium verabschiedeten offenen Standards XML und SOAP aufbaut. Und natürlich auch auf Windows, dem verbreitetsten Betriebssystem der Welt. Klingt ungemein vernünftig. Wo also ist das Problem?

Leider gibt es da mindestens drei Probleme: Sicherheit, Datenschutz und Wettbewerb.

Sicherheit

.NET wird die gesamte Software- und Service-Palette von Microsoft enthalten, die nahtlos integriert sein soll - und wahrscheinlich löchrig wie ein Schweizer Käse sein. Kein Monat vergeht, in dem nicht eine neue Lücke zum Vorschein kommt. Berüchtigte Viren wie der I-Love-You-Wurm oder Bubbleboy nutzten im vergangenen Jahr Schwächen in Outlook aus. Erst im August 2001 hatte das Hacker-Magazin Root Core Network eine Lücke im Hotmail-Dienst entdeckt, durch die man sich Zugang zu fremden Mails verschaffen konnte. Hotmail hatte schon vor zwei Jahren einmal offen wie ein Scheunentor gestanden: Mit einer simplen Javascript-Zeile im Adressfeld des Browsers kam man an Tausende von Konten. Und der bulgarische Sicherheitsexperte Georgi Guninski listet auf seiner Website allein für den Internet Explorer 40 Sicherheitsprobleme auf.

Das müssen nicht Designfehler sein. Ein falsches Semikolon im Code kann an ungeahnter Stelle Folgen haben. Bei einem Code-Umfang von 30 - 40 Millionen Zeilen - wie das bei Windows 2000 oder XP der Fall ist - kann man pro 10 Millionen Zeilen etwa 200 000 Fehler veranschlagen. Software derartiger Komplexität ist nicht mehr vollständig beherrschbar, ein Umstand, auf den Kritiker wie Joseph Weizenbaum seit Jahren – mitunter belächelt – hinweisen. Gartner-Analyst David Smith stuft denn auch die Sicherheit von Microsoft-Produkten in einer neuen Untersuchung gegenwärtig als "stark negativ”, für das Jahr 2006 als "negativ" ein.

Diesem Urteil entsprechen erste Tests, die ein seit August von Microsoft zur Verfügung gestellten Werkzeug namens MPSA liefert. Wired online berichtete von erbosten WindowsNT/2000-Nutzern, auf deren Rechnern MPSA zig Sicherheitslücken diagnostizierte - und das, obwohl regelmäßig von Microsoft angebotene Patches ("Softwareflicken") installiert worden waren. Was nichts anderes bedeutet, als dass nicht einmal der sich sicher fühlen kann, der regelmäßig die von Microsoft angeboten Patches aufspielt.

Datenschutz

Wer das erste Mal mit WindowsXP arbeitet, wird ihn schnell kennenlernen: den Microsoft Passport. Ohne einen Netzausweis aus Redmond funktionieren nämlich die schönen Dienste wie MSN Messenger, Hotmail oder der webbasierte Terminplaner MSN Calendar nicht. Auch hier ist die Idee bestechend: Warum für all die vielen Angebote im Web verschiedene Kennwörter haben, die man sich sowieso nicht merken kann? Stattdessen loggt man sich nur einmal bei Passport ein, und Microsoft übernimmt dann die Anmeldung bei den derzeit fast 90 weiteren Partnersites. Ebenso die Übermittlung von Kreditkarteninformationen und Nutzerprofilen, die Online-Transaktionen und die Personalisierung von Webangeboten erleichtern sollen und vom Software-Riesen treuhänderisch verwaltet werden. In abgeschirmten, hochgesicherten Rechnerparks.

Beruhigend? Vielleicht nicht ganz, wenn man sich etwa an erfolgreiche Einbrüch ins Microsoft-Netzwerk im Herbst 2000 erinnert. Noch im vergangenen Jahr deckten Sicherheitsexperten einen beunruhigenden Fehler im Zusammenspiel von Hotmail und Passport auf, der natürlich nur im Netscape Communicator auftrat. Wer in Hotmail seine Emails gelesen hatte und sich dann über den Passport-Button ausloggte, war leider nicht aus Hotmail ausgeloggt - obwohl beide laut Microsoft untrennbar miteinander verbunden sind. Die Redmonder beseitigten zwar dieses Problem. Doch wer weiß, an welcher Stelle Vergleichbares bisher unbemerkt blieb?

Und warum soll, wer schon dem Staat bei derartigen Aufgaben misstraut, ausgerechnet dem umstrittensten IT-Konzern aller Zeiten vertrauen?

Wettbewerb

Der sich dieses Misstrauen durch rüde Geschäftspraktiken redlich verdient hat. Und immer noch verdient: Obwohl die Universalprogrammiersprache Java - von Sun Microsystems 1994 entwickelt - längst zu einem Internetstandard geworden ist, beschloss Microsoft, sie im Internet Explorer 6 und Windows XP nicht mehr vorzusehen. Zwar kann die entsprechende Software nachinstalliert werden, aber die Datei ist 5 Megabyte groß. Ihr Download dauert mit normalen Internetverbindungen (56 K oder ISDN) zwischen 15 Minuten und einer halben Stunde. Fehlt sie, werden Java verwendende Webseiten nicht angezeigt. Microsoft hat stattdessen eine noch universellere Sprache namens C# (sprich: See sharp) entwickelt, die Javas Rolle im .NET übernehmen soll.

Wo immer man auch hinklickt, Microsoft sitzt dort mit einem Produkt und ruft "Ick bün all hier” wie der Igel im Wettlauf mit dem Hasen. Es gibt kaum einen Dienst, kaum Software, die nicht auch in einer Microsoft-Variante existiert und im künftigen .NET angeboten werden könnte.

Anderthalb ernstzunehmende Gegner hat Microsoft aber noch. Der ganze ist die Allianz von AOL Time Warner und Sun Microsystems. Auch sie verfolgt ein .NET-artiges Konzept, das Open Net Environment, kurz ONE. Als Alternative zu den Passport-Diensten wurde Magic Carpet angekündigt, gegen Microsofts Spielkonsole Xbox (die im November kommt) will man die Playstation des neuen Verbündeten Sony stellen, gegen Microsofts Portaldienst für mittelständische Unternehmen bCentral soll NetBusiness helfen...
Der halbe Gegner ist IBM, der im Unternehmensgeschäft mit den Web Services kontern kann, aber im Verbrauchermarkt keine Rolle spielt.

Dass diese beiden Lager Gates’ Imperium Paroli bieten können, ist alles andere als sicher. Zwar sind sich alle Analysten darin einige, dass die .NET-Strategie vor 2004 keine greifbare Gestalt gewinnt. Doch die Gelassenheit vom vergangenen Jahr, das Microsoft-Monopol bei PC-Betriebssystem sei ohnehin anachronistisch in Zeiten des Internets und erledige sich so von selbst, ist ins Wanken geraten. Es gibt praktisch keinen Firmenbereich mehr, der nicht Teil der .NET-Strategie. "Wir haben die Firma darauf verwettet, dass es klappt”, sagt Thomas Baumgärtner, .NET-Experte von MS Deutschland. Dass es klappt, könnte am langen finanziellen Atem Microsofts liegen. Mit 30 Milliarden Barreserven und gewaltige Umsätze durch den Umstieg der User auf XP verhält sich Microsoft zum Rest der Branche wie die USA zum Rest der Weltwirtschaft: Ein reifer Industriestaat, den auf dem Weg zur totalen Dienstleistungs- (oder. Webservice)-Ökonomie niemand einholen kann. Die anderen können zusehen, dass sie wenigstens lukrative Nischen behalten.

Und dann?

Was tun, wenn das .NET-Konzept zu der Infrastruktur des Cyberspace wird?
Die Antwort des 19. Jh. wäre gewesen, Microsoft zu verstaatlichen. Die Antwort des 20. Jh. war das Urteil von Richter Thomas Penfield Jackson, Microsoft zu zerschlagen, so wie es zuvor mit Standard Oil und mit AT&T geschah. Da letzteres zurecht vom Tisch ist, bleibt nur die Antwort des 21. Jh: Den Windows-Code zum öffentlichen Gut zu erklären und offenzulegen. Als freie Software.

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