das netz ist eine baustelle -
mit hübschen fallgruben für den user

Niels Boeing, Hamburg, Januar 2000

Nachtrag im Sommer 2002

Geschafft. Der Millennium Bug - die letzte Unwägbarkeit, die den Eintritt in das multimediale Netzwerk-Zeitalter hätte verhindern können - hat nicht zugeschlagen. Die Zukunft kann beginnen.

Und so sieht sie aus: Mit einem Analog-Modem gehe ich ins Netz, wie rund zwei Drittel aller deutschen Web-Surfer, die noch keine ISDN-Internet-Verbindung haben. Heiß auf digitale Musik im MP3-Format, auf brandneue Software, auf skurrile Video-Cartoons, auf Internet-Radiokanäle aus Mexiko und, und, und É Ein viel versprechendes Hip-Hop-Stück soll auf meine Festplatte, 3,5 Megabyte sind runterzuladen. Nach 15 Minuten sind gerade mal ein Drittel der Daten angekommen, 10 Minuten später - ich habe inzwischen zu spülen begonnen - passiert gar nichts mehr: "A network error occurred", Download abgebrochen. Internet-Alltag im Januar 2000.

Die Netz-Revolution entpuppt sich schon in ihren Fundamenten, beim Internet-Zugang, als Langzeit-Baustelle. Nur 10 000 Telekom-Kunden nutzen bislang die neue DSL-Technik, die bis zu 100-mal schneller als ISDN ist. Selbst im Internet-Musterland USA surfen erst 225 000 User per DSL-Anschluss.

Die zweite Möglichkeit, enorme Datenmengen in kürzester Zeit zu übertragen - per Fernsehkabel -, ist in Deutschland nicht mehr als eine Vision: Das Kabelnetz der Telekom kann Daten bislang nur in eine Richtung befördern. Auf 10 Milliarden Mark (5,11 Mrd. Û) beziffert Telekom-Sprecher Willfried Seibel die Investitionen, um das gesamte Kabelnetz Internet-fähig zu machen. In den USA gehen zwar schon 1,6 Millionen per Kabel ins Netz, doch klagen zahlreiche Kunden über miserablen Kundendienst und wechselhafte Verbindungsqualität.

Aber erst mit einer Datenübertragungsgeschwindigkeit (Bandbreite) von mehreren Megabit pro Sekunde - die nur DSL und das Fernsehkabel leisten können - wird der Traum der Medienkonzerne realisierbar: die Verschmelzung von Internet und Fernsehen zu interaktivem Web-TV. Bislang stieß allerdings kein Pilotprojekt bei Testkunden auf ungeteilte Begeisterung. Unvereinbar scheinen die Nutzergewohnheiten: hier der Netz-User, der vornüber gebeugt direkt in den Monitor starrt, dort der Fernsehzuschauer, der sich meterweit vom Gerät entfernt auf das Sofa fläzt.

Die Vision des PCs als Universalgerät für sämtliche elektronischen Medien hat die Branche längst verabschiedet: "Es wird keine Konvergenz der Endgeräte geben, nur eine Konvergenz der Inhalte", sagt Werner Lauff, Chef der Bertelsmann Broadband Group, die gerade ein ehrgeiziges Web-TV-Projekt anschiebt.

Die Hoffnung auf einen Milliardenmarkt Web-Fernsehen treibt dennoch die Entwicklung des Internets wie keine andere Kraft voran und steckt auch hinter der geplanten Mega-Fusion von AOL und Time Warner. Das ist der erste Zusammenschluss, der alle strategischen Internet-Bausteine - Datentransport, Provider, Web-Portale und Inhalte - vereint; und sicher nicht der letzte der Branche. Dem Go-Network von Disney und Infoseek, einem der großen Suchdienste, fehlt noch ein Breitbandnetz und ein großer Provider. Der Block aus Telekommunikationsriese AT&T, das den Kabelnetzbetreiber TCI schluckte, dem Provider @home sowie dem Web-Portal Excite wird erst mit einem der großen Medienkonzerne zum vollwertigen Player im anvisierten Multimedia-Business.

Das könnte sich dramatisch auf die weitere Entwicklung des Webs auswirken. So bietet die Architektur des Internets Möglichkeiten, den vermeintlich anarchischen Datenverkehr zu manipulieren. Mit dem so genannten traffic shaping lässt sich softwaregesteuert die Datenübertragungsgeschwindigkeit in einem Router (das sind Computer an Internet-Knoten) beliebig drosseln. Diese Technik kann sinnvoll dafür genutzt werden, Netzkapazität freizuhalten: Wenn viele Kunden auf Support-Websites auf Firmen-Servern zugreifen wollen, wird die Bandbreite für surfende Firmenmitarbeiter kurzerhand runtergefahren, um einen Datenstau zu verhindern. Andererseits könnten damit aber auch Provider missliebige Server ausbremsen - auch die ihrer Konkurrenz. Wie selbstverständlich betreiben Netz-Provider auch Filter, mit denen der Zugang zu anstößigen Websites ganz blockiert oder das Herunterladen von Datei- en unterbunden werden kann. Der Verkauf solcher Listen mit heik- len Web-Adressen sei ein einträgliches Geschäft für Netz-Provider, gibt Markus Illenseer vom Deutschen Provider Network zu. Es gibt also längst digitale Schlagbäume im Netz, die den Datenverkehr manipulieren können, ohne dass der Nutzer etwas davon merkt. Der wundert sich nur, warum das Surfen selbst per ISDN mitunter unerquicklich verläuft.

Möglicherweise könnte das Netz als verlängerter Arm des Gesetzgebers sogar bis in die Rechner der User reichen. In den USA ist derzeit ein entsprechendes Gesetz auf dem Weg durch die Instanzen - der Uniform Computer Information Transaction Act (UCITA). Weil Software nur aus Bits besteht, also Informationen, wird sie durch den Kauf kein Eigentum, anders als Autos oder Geschirr. Der UCITA räumt Software-Herstellern nun das Recht ein, derartige Lizenzen online zu widerrufen und dann die Software auf dem Rechner der Nutzer zu deinstallieren oder zu sperren.

Auch beim Datenschutz werden die Web-Surfer so manches Mal allein gelassen. Mit Identifikationsnummern in der Software, die beim Surfen an die Hersteller übertragen werden, oder kleinen Programmen (Cookies) auf der Festplatte versuchen Unternehmen herauszubekommen, wie sich User durchs Web bewegen. Außerdem müssen sie sich registrieren lassen, um an all die schönen Online-Angebote wie kostenlose E-Mail-Konten, Terminplaner, Homepages oder Tauschbörsen zu kommen. Die Informationen, die Surfer hier eingeben, sind eine heiß begehrte Ware. Sie liefern entweder potenzielle Adressaten für Werbe-E-Mails, oder Web-Dienste erhoffen sich Erkenntnisse, wie sie die Aufmerksamkeit der Surfer - die begehrteste Ressource im Netz überhaupt - auf ihrer werbefinanzierten Website verlängern können. Denn längst ist klar, dass sich Information im Netz nicht verkaufen, sondern nur verschenken lässt. Das Geld kommt nur über Werbung oder "Marktforschung" rein.

Weil nur wenige User die Datenschutzrichtlinien von Online-Diensten prüfen, hat das World Wide Web Consortium W3C die P3P-Technologie entwickelt, die eine †berprüfung automatisieren soll (www.w3.org/ P3P). Der Nutzer kann damit sein individuelles P3P-Profil gemäß den eigenen Datenschutzbedürfnissen einstellen: Der Browser mit eingebautem P3P zeigt dann nur Websites, die dieses Profil erfüllen. Aber erst im Herbst will das W3C die neue Technologie als offiziellen Web-Standard empfehlen.

Dass dies so spät kommt, hat auch mit Patentstreitigkeiten zu tun. Die US-Firma Intermind hatte mit einer Patentklage den P3P-Standard monatelang aufgehalten. Immer wieder versuchen Trittbrettfahrer mit eigenen Patentanträgen ein Stück vom verheißungsvollen Internet-Kuchen zu ergattern. Dabei werden wie im Fall von P3P entweder öffentlich zugängliche Ideen ausgebeutet oder existierende Patente mit Zusätzen versehen, die eine erneute Patentierung ohne geistige Eigenleistung ermöglichen sollen - so geschehen bei der Kreditkartenverschlüsselung übers Netz oder bei "virtuellen" Warenkörben.

Mit dieser Profitgier wäre die Internet-Revolution, so zäh und verwirrend sie auch sein mag, gar nicht erst in Gang gekommen. Dass sie überhaupt begann, ist Tim Berners-Lee zu verdanken, der die Software für den ersten Web-Server, den ersten Browser und das Daten-Protokoll HTTP schrieb: Anstatt zu versuchen, diese durch Patentierung zu vergolden, stellte er sie für jeden zugänglich und kostenlos ins Internet.

nachtrag im dezember 2000



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