"es geht um die verteidigung der freiheit"
Ein Interview von Niels Boeing, Hamburg, Dezember 2002

WWW-Erfinder Tim Berners-Lee über die Lage des Netzes Ende 2002, den wachsenden Druck von Regierungen, die Chancen friedenstiftender Verbindungen und seine Rolle in der Informationsrevolution.

Tim Berners-Lee, wir sitzen hier in New York zusammen. Vor zwei Jahren war das noch die Hauptstadt der New Economy. Jetzt ist es Symbol einer neuen ungewissen Epoche, die mit den Anschlägen auf das World Trade Center begann. Ist das Internet überhaupt noch so wichtig wie vorher?

Wissen Sie, das Internet ist im großen und ganzen nur ein Spiegel des Lebens. Wenn Ihr Provider kontrollieren kann, welche Seiten Sie zu sehen bekommen, kann er Ihnen seine Sicht der Dinge aufpfropfen. Wenn das Internet aber offen bleibt, sollte ein intelligenter Mensch schon in der Lage sein, das Leben in anderen Ländern wahrzunehmen.

Viele Menschen in der Dritten Welt haben allerdings noch keinen Internet-Zugang. Die können sich nicht einfach einloggen und die Welt entdecken. Dazu kommen Sprachbarrieren und kulturelle Hindernisse. Alles Missstände, die angegangen werden müssen. Das Internet darf nicht zu einer bestimmten Sprache und Kultur neigen.

In Regionen mit historischen Konflikten könnte es sehr wirkungsvoll sein: Man zeigt jemandem, der auf der einen Seite lebt, das Leben auf der anderen Seite der Konfliktlinie, was in der Realität sehr schwierig ist. Ich glaube, viele Menschen hoffen, dass das Netz in diesem Sinne lebensnäher wird, zurück auf den Boden der Tatsachen kommt: indem es solche kleinen Verbindungen ermöglicht. So wie das bei den Partnerstädten in Europa funktioniert.

Letztlich wird es Frieden nur geben, wenn er von unten aufgebaut wird. Von den Graswurzeln der Gesellschaft.

Das ist also keine Frage der Technik? Das Internet selbst wird keinen Frieden stiften?

Nein, Technik kann das alleine nicht leisten. Sie kann nur helfen, Frieden zu schaffen, indem sie Menschen verbindet. Das Besondere sind aber die Menschen.

Einerseits lässt das Internet die Welt näher zusammenrücken. Andererseits fürchten viele, dass Terroristen es für ihre Zwecke missbrauchen.

Natürlich kann Technik immer so oder so genutzt werden. Wenn Sie Kryptographie- oder Datenschutzgesetze nehmen, werden Sie feststellen, dass es Alternativen gibt. Es liegt in unserer Entscheidung, ob eine Website von vorneherein mit den Userdaten machen kann, was sie will. Das ganze ist nicht einfach "Business as usual". Das Web ändert die Lage entschieden.

Das Gleichgewicht zwischen dem Recht auf Datenschutz und auf freie Meinungsäußerung und der nationalen und internationalen Sicherheit ist so eine Entscheidung, die wir treffen müssen. Andererseits sind einige technischen Möglichkeiten, wie die Leichtigkeit, mit der man Personendaten sammeln kann, oder die Schwierigkeit, einen kryptografischen Code zu knacken, von der Welt des Telefons und des Briefverkehrs weit entfernt. Die Gesetze, die diese regeln, müssen so verändert werden, dass die Balance in dem neuen Kontext wieder stimmt.

Mischen sich Regierungen im Namen von Sicherheit und Copyrightschutz heute stärker ein?

Ja, ich sehe einen wachsenden Druck von Regierungen, der Gefahr läuft, persönliche Freiheiten und Rechte zu missbrauchen. Das ist leider wahr. Einige Grundrechte müssen unbedingt geschützt werden, denn es geht um die Verteidigung der Freiheit.

Das Copyright ist ein weiteres Problem. Die Verlängerung des Urheberschutzes in den USA ist von großen Konzernen durchgedrückt worden. Ich glaube nicht, dass irgendjemandem damit geholfen ist, dass das Copyright auf 75 Jahre ausgedehnt wurde. Denn für den akademischen Fortschritt und die Kultur überhaupt es ist enorm wichtig, dass es ein umfassendes Repertoire von großartigem Material gibt, das die Menschen frei nutzen und zitieren können.

Würde Goethe heute leben, hätte er seine Gedichte nach den neuen Regeln für elektronische Medien an irgendein Hollywood-Studio lizensiert. Dann müssten Sie jedesmal zahlen, wenn Sie ihn zitieren wollen. Das ist die Richtung, in die die neuen Gesetze gehen.

Sehen Sie das World Wide Web Consortium als Verteidiger gegen solche Entwicklungen?

Das W3C kümmert sich in erster Linie um die Technik. Aber es muss dabei gesellschaftspolitisch sehr wach sein. Mit einer Technologie wie P3P, die inzwischen den Status einer offiziellen Empfehlung hat, können Sie eine maschinenlesbare Datenschutzerklärung auf ihren Server stellen, wo sie automatisch vom Browser des Nutzers gecheckt wird. Sie sollten das ausprobieren! Das ist eine der Sachen, die das W3C gemacht hat. Man kann keine Technik entwickeln und dabei die Augen vor den gesellschaftlichen Fragen schließen.

In Ihrem Buch 'Der Web-Report' zeigten Sie sich ein bisschen verwundert, wie kommerziell das Web geworden ist. Sind Sie enttäuscht?

Nein. Enttäuschend finde ich, wenn Firmen versuchen, die Kontrolle über das Web zu übernehmen. Dinge wie Popup-Fenster, die aus dem Browser herauskommen und sich des Desktops bemächtigen. Das geht einfach zu weit. Oder Spam, wo der Email-Header gefälscht ist - das ist ein Missbrauch der Internet-Protokolle.

Andererseits ist es sehr vernünftig, das Web auch kommerziell zu nutzen. Es soll ja ein universeller Raum sein, da kann man nicht irgendein Gebiet ausschließen. Viele fragen mich: Bist du nicht enttäuscht, dass es soviel Unsinn im Web gibt? Aber niemand ist verpflichtet, das alles zu lesen. In einer Bücherei gibt es ja auch viele Bücher, die man nicht lesen will.
Wenn Sie die Straße entlang gehen und ein Windstoß plötzlich einen Zeitungsfetzen aufwirbelt, greifen Sie nach ihm und lesen ihn?

Natürlich müssen Sie in jedem Medium aufpassen, welchen Informationen Sie trauen.
Es gibt großartige Sachen im Web. Aber nur weil es kommerzielle Seiten gibt, gibt es nicht automatisch weniger nichtkommerzielle.

Aber finden Sie nicht, dass es zwei Kulturen im Netz gibt? Eine, die von Enthusiasten gemacht wird und frei zugänglich ist, und eine kommerzielle?

Haben Sie 'Die Kathedrale und der Basar' von Eric Raymond gelesen?

Ja

Das ist es, was Sie meinen. Es gibt diese zwei Kulturen: Die Kathedralen-Richtung...

...in der Hunderte Entwickler eines Unternehmens an einem Produkt bauen, das nicht offen ist...

...und die Basar-Richtung...

...in der viele gemeinsam und lose organisiert an einem neuen, offenen System werkeln. Das ist das Open-Source-Prinzip.

Die Netzentwickler sind allerdings nicht in zwei Lager gespalten. Eher befinden sie sich irgendwo zwischen diesen Polen.

Nehmen Sie Hewlett-Packard als Beispiel. Die sind ein großer Verfechter von Open-Source-Software. Sie glauben ebenso wie Sun Microsystems daran, dass Internet-Standards gebührenfrei sein sollten. Gleichzeitig sind sie ein Unternehmen, das Produkte verkauft. Ihre Ingenieure sind Teil einer lebhaften Open-Source-Community, deshalb haben sie sehr gute Verbindungen in die akademische Welt. Auf diese Weise kommen sie an hervorragende Ideen, die sie in ihre Produkte einspeisen können. Es ist ja nicht so, als ob man plötzlich nicht mehr Teil der weltweiten Entwickler-Gemeinde wäre, nur weil man für ein Unternehmen arbeitet.

Sie sind kürzlich für die Erfindung des WWW wieder einmal ausgezeichnet worden, diesmal mit der Marconi Fellowship, die für bahnbrechende Erfindungen in der Kommunikationstechnik verliehen wird. Wie fühlt sich das an, immer wieder damit konfrontiert zu werden, etwas Historisches vollbracht zu haben?

Es ist schon eigenartig. So müssen sich Kronprinzen fühlen, die ihr ganzes Leben lang hören, dass sie etwas Besonderes sind. Ich dagegen habe mein halbes Arbeitsleben als Entwickler verbracht. Mir ist bewusst, dass das, was ich getan habe, jeder hätte tun können. Die Idee des World Wide Web herauszubringen war, als ob man ein Streichholz in eine Scheune wirft, die voller Stroh ist. Es war nur der erste Akt. Das Web hat sich ausgebreitet, weil viele Individuen kräftig mitgeholfen haben, dass es angenommen wird.

Nehmen Sie Paul Mockapetris. Er schrieb das Protokoll, das das Domain-Name-System zum Laufen brachte...

...das uns ermöglicht, Webserver zu benennen und zu finden.

Dieses System ist der Kern der Internet-Technik, und alles andere baut darauf auf. Aber er wird nicht so gefeiert, obwohl er es verdient hätte. Die Leute sehen eben nur HTML.

Klar, jeder spielt eine andere Rolle. Ich bekam die des 'Erfinders des WWW'. Das ist einfach nur meine Rolle.

Was machen Sie, wenn Sie nicht gerade am Web knüpfen?

Ich habe eine Familie, und ich bin gerne draußen in der Natur. Mit einem Kajak oder einem Kanu. Solche Sachen eben. Ich wandere gern.

Fällt es Ihnen schwer, von der Entwicklungsarbeit abzuschalten?

Ich liebe es, nachzudenken, aber ich bin am liebsten im Wald oder auf einem Berg, selbst wenn ich über Entwicklungskram brüten muss. Den ich im übrigen aufregend finde. Arbeit ist für mich keine Mühsal, vor der ich fliehen möchte.

Das Interview fand am 8. November 2002 an der Columbia University statt



tim berners-lee - der energische visionär

Nach all den Jahren der Technik-Euphorie gibt es wenige Leute, denen man das Wort "Vision" noch abkauft. Tim Berners-Lee (47) ist einer von ihnen. Wer den Schöpfer der World-Wide-Web-Technologie nur von Bildern kennt, wird von der Energie überrascht sein, die der der blonde Engländer mit dem unauffälligen Gesicht versprühen kann. Kaum steht er hinter dem Rednerpult, überschüttet seine Zuhörer mit einem atemberaubenden Strom an Worten, verschluckt vor lauter Begeisterung Silben, wechselt in kabarettistische Tonlagen, um dann energisch zu fordern: "Ich will, dass Sie da raus gehen und kämpfen: Das Web muss universell sein." Das sitzt. Als ihn eine Fotografin später beim Zuhören aufnimmt, dreht er sich zu ihr, zückt seine Kamera und schießt mit spitzbübischem Gesicht zurück.

Aber der Mann ist kein Exzentriker. Nach einem Physikstudium in Oxford arbeitete er Ende der 70er Jahre für britische Computerfirmen als Softwareentwickler. Während eines sechsmonatigen Beraterjobs am europäischen Kernforschungszentrum CERN schrieb er 1980 das Programm „Enquire“, das er einmal als „die Keimzelle der Idee des World Wide Web“ bezeichnete. Darin waren Karteikarten-Dateien miteinander verknüpft und aufrufbar – um sich Namen, Projekte und Rechner besser merken zu können. Enquire wurde nie veröffentlicht, war aber die konzeptionelle Basis für ein Softwareprojekt, das er 1989 am CERN – an dem er inzwischen angestellt war – beantragte: ein „World Wide Web“ von Informationen.

Hierin kam eine Vision zum Ausdruck, die er bis heute verfolgt: durch Vernetzung und Dezentralisierung das Wissen aus den Fesseln von Hierarchien zu befreien und damit auch den gesellschaftlichen Fortschritt anzuschieben. Angestoßen habe sie ein Gespräch über Hirnforschung mit seinem Vater, als er noch zur Schule ging, so Berners-Lee. Der Vater arbeitete als Mathematiker beim Computerhersteller Ferranti in Manchester und brütete gerade über einer Rede für den Präsidenten, wie Rechnern Intuition beigebrachte werden könnte. Da tauchte zum ersten Mal das Bild von der Verknüpfung von Informationen bei Berners-Lee auf.

1991 veröffentlichte er dann das Programm „World Wide Web“ im damals noch weblosen Internet. Dieser Verzicht auf Patentierung und Kommerzialisierung seiner Idee ermöglichte eine rasche Verbreitung und Weiterentwicklung des Konzepts. Zwei Jahre später waren die drei wesentlichen Bausteine, die Verlinkung, das Übertragungprotokoll http und die Seitenbeschreibungssprache HTML ausgereift. 1994 gründete Berners-Lee das World Wide Web Consortium (W3C) am MIT in Cambridge, Massachusetts, dessen Direktor er seitdem ist. Das W3C koordiniert die Entwicklung und Kodifizierung neuer Internet-Standards. Ziel seiner gegenwärtigen Arbeit ist der Übergang zum „semantischen“ Web, wie Berners-Lee es nennt. Dank neuer Standards wie XML soll künftig auch der Kontext von Informationen mit kodiert werden, so dass die Suchmaschinen der Zukunft – ähnlich wie der Mensch – Bedeutungsunterschiede erkennen können, vor denen sie heute noch kapitulieren.

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