wenn medien zu
oszillieren beginnen:
(dann macht es) BLOG!

Christian Eigner, Graz, September 2003

Verlage und Medienkonzerne haben im Netz teure Inseln errichtet: getreue Abbilder ihrer Produkte, die nach der Logik von Zeitungen ticken. Das Ende der New Economy werden sie nicht lange überleben – die Zukunft gehört der Logik von arrog.antville.org & Co

I Vorspann: Der Fall Middelhoff
II Inselmedien
III Osziallationsmedien
IV LesenSchreibenLesenSchreiben...
V Auf dem Weg zu einer neuen Medienkultur des Internets


Der Text ist ein Auszug aus dem Buch:
Online-Communities, Weblogs und die soziale Rückeroberung des Netzes - FastBook Nr.2,
Eigner/Leitner/Nausner/Schneider;
Nausner&Nausner, Graz, Oktober 2003, 140 Seiten, ISBN 3-901402-37-3, € 12,00

I Vorspann: Der Fall Middelhoff

Hochsommer 2002; Wochenendausklang. Eine große mediale Aufregung kündigt sich an: Thomas Middelhoff geht!
Selbst der englischsprachige Musiksender, den ich morgens beim Rasieren und Duschen höre, berichtete davon. Es war die Hauptmeldung in den 6 Uhr Nachrichten, in denen normalerweise heimische Politik, der Nahost-Konflikt und so genannte internationale Initiativen der US Amerikaner im Zentrum stehen.
In der Tat hatte dieser Abgang etwas Historisches: Der – gewollte oder erzwungene – Rückzug des Bertelsmann-Chefs markierte das endgültige und unweigerliche Ende der großen Internet-Revolution, die fast ein halbes Jahrzehnt lang für Dauerschlagzeilen gesorgt hatte. Ein “integriertes Medienhaus” hatte Middelhoff aus dem Verlag machen wollen; einen Medienriesen, der die notwendigen Business-Strukturen des 21. Jahrhunderts rasch und zügig aufbauen sollte. In unzählige Abenteuer und Experimente hatte sich der Konzern deshalb verstrickt – etwa in den Kommerzialisierungsversuch der Gratis-Tauschbörse Napster –, deren Erfolge aber auf sich warten ließen.
Dennoch arbeitete Middelhoff unvermindert am Umbau der Bertelsmann AG weiter: Flott folgte ein Netz-Projekt auf das andere, flott wurde gekauft und wieder abgestoßen – bis es den “Bertelsmännern” offensichtlich zu viel wurde. Middelhoff wurde verabschiedet, und mit ihm auch gleich alles an Strategie, was er dem Gütersloher Verlagshaus verordnet hatte: In solchen Umbruchszeiten, wie sie die Medienbranche gerade erlebe, wolle man sich auf das Kerngeschäft zurückziehen, ließ Bertelsmann die Welt wissen. Also - wie es in einem mittlerweile schon legendären Rundbrief an die Belegschaft der Bertelsmann-Tocher Random House heißt - auf die Produktion – man höre und staune – guter Bücher.

Bei so viel keckem Medien-Konservatismus war es wenig verwunderlich, dass auf die Aufregung umgehend die Kritik folgte.
In der österreichischen Tageszeitung “Der Standard” meinte etwa der Medienspezialist Rüdiger Wischenbart einen Putsch der alten Medieneliten (sprich: derjenigen, die sich etwa mit Buch und Print die Sporen verdient hatten) ausmachen zu können: Die “Vorreiter der medialen Revolution” – Leute wie Middelhoff oder Steve Case (AOL Time Warner) – hätten erfolgreich “Grenzen niedergerannt”, würden nun aber jenen im Weg stehen, die sich die eroberten Terrains zu Nutze machen wollen. Die Verteilung der Beute stehe an, und das sei immer schon, so Wischenbart, Sache der Contra-Revolutionäre gewesen, die in diesem Fall eben von der alten Mediengarde gestellt würden. Der Abgang von Middelhoff, so kann man aus dem “Standard”-Kommentar folgern, sei deshalb in Wirklichkeit ein Zeichen dafür, dass das Zeitalter der Neuen Medien jetzt so richtig beginne; denn würde die alte Elite nicht die großen (Medienintegrations)Gewinne riechen, hätte dieser Putsch erst gar nicht stattgefunden. Die zukünftige Konzentration auf das Buch, so meint man aus dem Text herauszuhören, sei deshalb in Wirklichkeit nicht mehr als ein vorgeschobener, fast schon zynischer Joke.


II Inselmedien

Gut zwei Monate später; Frühherbst; Regen.
Allmählich höre sie auf, die aktuellen Medienentwicklungen zu begreifen, meint Anna, die mittlerweile seit siebzehn Jahren im Mediengeschäft arbeitet. Speziell der Fall Middelhoff: Die Vorgehensweise von Bertelsmann sei ihr einfach unverständlich! “Ihren besten Mann haben die auf die Straße gestellt”, stellt sie fast schon ärgerlich fest, “nur um eine Machtübernahme der alten Herren zu ermöglichen”. Und auch sonst....wo seien nur all die Visionäre hingekommen, will sie wissen. Ist das Netz für Medienhäuser tatsächlich uninteressant?
Ich erinnere mich an den Wischenbart-Text. Und auch daran, wie skeptisch ich war, als ich ihn das erste Mal las:

Natürlich bestreitet Wischenbart nicht, dass Middelhoff auch Fehler gemacht hat. Beispielsweise jenen, den Contentmarkt als Volumenmarkt zu interpretieren: Die Digitalisierung führt dazu, dass ein Inhalt wieder und wieder vermarktet werden kann; einmal als Soundfile im Netz, dann wieder als Hörprobe auf einer CD, das dritte Mal als Service-Content am Handy. Genau dieses Versioning (das Wischenbart nicht so nennt aber meint) haben die Medienrevolutionäre versucht – was dann doch zu viel des Guten war: Man habe die Leute, so Wischenbart, mit den immer gleichen Inhalten überfüttert; solange, bis sie niemand mehr wollte. Außerdem sei es heute nicht mehr möglich, auf die Regionalisierung von Inhalten zu verzichten; zu unterschiedlich und fragmentiert wären die Wünsche des Publikums.
Keiner dieser Fehler ist für Wischenbart aber schwer wiegend. Wie auch keiner dieser Fehler Symptom dafür ist, dass vielleicht auf der strategischen Ebene etwas Grundsätzliches nicht stimmte....

Doch genau das, sage ich zu Anna, wäre der Fall gewesen: Was Wischenbart und auch sie bei ihrer Verteidigung von Middelhoff übersehen würden, ist, dass er und mit ihm Bertelsmann von einer falschen Grundannahme ausgegangen sind. Nämlich von der, dass es im Netz um die Schaffung von Medienprodukten geht.

“Ich denke, ich verstehe, was du meinst”, erwidert Anna nach kurzem Nachdenken. “Wenn man sich die Entwicklung der letzten sechs, sieben Jahre ansieht, so waren die meisten Verlage und Zeitschriftenhäuser früher oder später bestrebt, ihre anfangs sehr offenen Netz-Plattformen abzurunden. Das heißt, die Web-Sites wurden mehr und mehr zu Zeitungen oder Magazinen auf elektronischer Basis, zu verkappten Printprodukten im Netz, die einen ganz bestimmten Aufbau und eine ganz bestimmte inhaltliche Ausrichtung hatten. Das Hypertext-Prinzip diente bald nur noch dazu, die einzelnen Seiten, die zum Magazin gehörten, zu verbinden; es führten aber kaum mehr Links nach außen. Auf diese Weise sind die Sites zu Inseln geworden, zu klassischen Medien-Produkten, die sich – wie alle Produkte dieser Welt – dadurch auszeichnen, dass sie in sich geschlossen sind, eine kompakte Einheit darstellen und so ein handliches Gut bilden, das sich gegebenenfalls rasch handeln lässt. Auch Bertelsmann folgte dieser Inselmedien-Logik; das meinst du doch, oder? Sie war so etwas wie das Grundparadigma, das nie hinterfragt wurde....”

Anna hatte es auf den Punkt gebracht und das zentrale Paradoxon aller Medienproduktion im Internet aufgezeigt: Nichts liegt näher, als im Netz runde, konsistente Medien-Produkte anzubieten. Und nichts steht zugleich in einem größeren Widerspruch zur prinzipiellen Struktur des Netzes als diese Vorgangsweise!
Schließlich unterbricht, ja, zerstört die Logik des Produkts, die heute fast alle Content-Seiten (und nicht nur diese) kennzeichnet, die Grundbewegung des Internets; dieses Spiel der Spur, dieses Verfolgen von Fährten, das einen von einer Seite zur anderen weiterträgt und doch nie an ein Ziel kommt. Das ureigenste Moment des Webs geht dadurch verloren – und damit wohl auch das, was das Internet für Millionen Menschen binnen kürzester Zeit so aufregend und schön machte.
Vielleicht ist auch deshalb die Online-Contentbranche in eine Krise geraten, erkläre ich Anna; weil sie auf einer Insel-/Produktlogik basiert und so permanent Fremdkörper – klassische Medienprodukte – produziert, die bei all ihrer Problematik schon irgendwie funktionieren, letztlich aber immer entbehrlich sind. Und vielleicht war so gesehen die Ablöse von Thomas Middelhoff nicht der Putsch alter Männer, sondern eine kluge Entscheidung von beeindruckender Weitsicht, weil hier jemand begriff, dass die Logik, der man folgte – die Middelhoff’sche Vision beschwor eine Welt der Inselmedien, die durch das Netz mit Inhalten gespeist werden – hochproblematisch ist.

“Also gehen Netz und Medienproduktion tatsächlich nicht zusammen!”

Das, erwidere ich Anna, hätte ich wiederum nicht gesagt.


III Oszillationsmedien

Ich weiß nicht, wie lange es her ist, dass ich in der Web-Statistik von “Texte zur Wirtschaft” (oder war es noch in jener von “ZumThema:”?) in der Rubrik “Verweisende Seiten” (das ist die Auflistung jener Sites, die einen Link zu der von mir mitproduzierten Page gelegt haben) eine höchstmerkwürdige Adresse fand: “http://arrog.antville.org” las ich da. Ich verfolgte sie zurück – und stieß auf etwas, dessen Namen noch eigenartiger klang. Ich war bei “le sofa blogger” gelandet, und was ich sah, glich einer Offenbarung: Das war, ohne Zweifel, eine Informations- und Medienseite – aber sie war kein Inselmedium! Wie sie auch die Kompaktheit und Rundheit eines klassischen Medienproduktes aufwies, ohne aber wirklich ein solches zu sein!
Wie sich nach einigen Minuten der Recherche herausstellte, hatte ich Peter Praschls Web-Logbuch entdeckt; sein Web-Tagebuch, das strukturell besehen nichts anderes als eine kommentierte Linkliste war: Die einzelnen Notizen, Anmerkungen und Minierzählungen, deren Inhalt von Persönlichem bis zu Politischem reichte und die chronologisch nach Stunden und Tagen geordnet waren, standen meist nicht allein und für sich da, sondern entfalteten sich um einen Link, der auf irgendein Content-Fundstück auf einer anderen Seite im Netz verwies. Was auf diese Weise entstand, war als Medium betrachtet etwas völlig Neues: Hier wurde wirklich das Netz als Netz genutzt; hier wurde wirklich mit dieser Spurenproduktion und Spurensuche gearbeitet, die das Internet so reizvoll macht und Fantasien von unendlich langen Wissens- und Lesepfaden eröffnet, bezüglich deren Realisierung aber gerade die Online-Medien bisher kläglich versagt hatten.

Ich war auf die Welt des Bloggings gestoßen. Wie ich rasch lernte, entwickelte sich Bloggen (offensichtlich war das Web-Logbuch rasch zum Weblog und dann zum Blog mutiert, worauf in weiterer Folge aus dem Weblog-Schreiben das Bloggen wurde....) mit rasender Geschwindigkeit zu DER medialen Praxis im Netz. Suchte man erst einmal, fand man Blog(g)s wie Sand am Meer. Selbst vor dem MIT hatte dieser Trend nicht Halt gemacht, wie eine LinkPage des Forschungsinstituts, auf der die angeblich hundert wichtigsten Weblogs der USA (oder gar der Welt) aufgelistet sind, belegte.

Das Prinzip der Blogs war dabei immer das Gleiche: Geschichten und Statements – kurz oder lang, privat oder gesellschaftlich, philosophisch oder politisch, zahlreich (fünf pro Tag) oder selten (drei pro Woche) – ranken sich (meist, aber nicht immer) um einen Hyperlink, ohne den der Content auf dem Blog nicht wirklich verständlich ist.
Hypertextualität wird so völlig neu bestimmt, nämlich medial und nicht länger wissenschaftlich. Denn einen Link zu setzen, bedeutete bisher nichts anderes, als eine Anmerkung zu machen: Man verwies auf eine mögliche Quelle oder auf weiterführende Literatur; ganz im Stile einer Forschungsarbeit. Hypertextualität war deshalb wissenschaftliches Lesen auf neuer technischer Basis; ein Faktum, das durch den Begriff “Related Links” ganz wunderbar illustriert wird: Der Text, auf den sich ein Link bezog, blieb immer ein “Außen” (related...); für das, was man gerade las, war er nicht wirklich essenziell. Selbst die Netzkunst kam über diese Art der Hypertextualität nie hinaus; auch nicht in ihren attraktivsten Projekten, in denen bestenfalls die Sinnschichten eines für sich stehenden Textes durch komplexe Verlinkungsstrategien mit einem “Außen”(-Text) ein wenig durcheinander gewirbelt wurden (und umgekehrt), aber nicht mehr.

Nicht so auf einer Blogging-Site: Hier wird der Link zu einem integralen Bestandteil des Textes. Einen Link zu setzen, bedeutet etwas zu sagen; ja, man setzt ihn eigentlich nicht mehr, sondern schreibt ihn, schreibt mit ihm ein Stück Text und schreibt danach weiter, schreibt den Link gleichsam weiter, was auf den ersten Blick zu etwas führt, das wie ein Kommentar oder eine Erzählung aussieht, aber doch viel mehr ist. Denn etwas völlig Neues wird so in die Welt gesetzt:
Weblog-Einträge – wie sollte man diese neuen Entitäten sonst nennen? – sind wohl die erste Textform, die tatsächlich keinen Rand mehr hat. Nicht nur ihr Sinn weist weit über sie hinaus (was allerdings für die meisten Texte gilt), auch formal ist schwer festzulegen, wo ein Weblog-Eintrag beginnt und wieder aufhört: Der Eintrag schreibt ja den Link fort, führt ihn inhaltlich wie auch formal weiter – und damit auch das, was hinter dem Hyperlink steckt. “Texte” entstehen so, die unbegrenzt sind, die folglich kein “Außen” und “Innen” mehr kennen, die sich dauernd öffnen (“folge dem Link, sonst kannst du mich nicht verstehen”) und wieder verschließen (“folge ihm noch nicht, lies einmal hier zu Ende”), die mit einer Heftigkeit zwischen diesen beiden Polen (offen – geschlossen) oszillieren, das man als Leser einer Sammlung von Weblog-Einträgen (also eines Weblogs) permanent den Eindruck hat, noch auf einer (runden, produktartigen) Medien-Site zu sein, aber schon auch durch das Netz katapultiert zu werden.
Das Oszillieren der einzelnen Einträge färbt also gleichsam auf die Gesamtsite ab und gibt ihr jenen eigenartigen Charakter, der mir bei meiner Entdeckung von “le sofa blogger” sofort auffiel. Ein Oszillationsmedium entsteht auf diese Weise, mit dem auch das Hypertext-Prinzip neu bestimmt wird: Nämlich nicht mehr als (wissenschaftlicher) Modus, der nette Querverweise (und eine zahme Hypertextualität) hervorbringt, sondern als medienproduzierende Kraft, deren hypertextuelle Erzeugnisse erste zufrieden stellende Antworten auf die Frage geben, was Medienproduktion im Internet eigentlich heißen soll.


IV LesenSchreibenLesenSchreibenLesen....

Anna hatte mittlerweile zu surfen begonnen. http://arrog.antville.org - “le sofa blogger” – war ihre erste Station gewesen; dann kamen “Der Schockwellenreiter” (http://www.schockwellenreiter.de) und “Der Zirbel” (www.x-7.de/zirbel/index.hm) dran. “Von solchen Medien haben wir schon Mitte der Neunzigerjahre geredet; ’netzgerecht’ nannten wir sie damals. Allerdings sind alle Experimente in diese Richtung gescheitert; die Ergebnisse waren manieriert oder einfach unlesbare Spielereien. Insofern ist es umso erstaunlicher, dass die netzgerechten Medien jetzt auf einmal da sind, einfach so”.

Der Schlüssel, antworte ich ihr, sei diese produktive Anwendung des Hypertext-Prinzips: Wo der Link zum Ausgangspunkt des Schreibens wird, entsteht nun einmal etwas anderes als dort, wo er bloß den fertigen Artikel ergänzt. Die Textfixierung sei in den Neunzigern das Problem gewesen; diese Priorität, die man dem Text in allen Medienexperimenten eingeräumt hatte: Sie führte dazu, dass es letztlich immer nur um das Vernetzen von Texten mit Hilfe von Hypertextstrukturen ging; selbst dort, wo User zum Mit- und Weiterschreiben eingeladen wurden. Unlesbare Text-Labyrinthe waren die Folge, nicht überzeugende Medienproduktionen.

“BloggerInnen hingegen, so mein erster Eindruck, sind keine ’Textmenschen’. Ihnen geht es nicht um die Produktion von Artikeln und Ähnlichem. Vielmehr ist ihr Schreiben ein Fortsetzen ihrer Lesebewegung. Wie auch die Umkehrung gilt, das heißt das Lesen ist eine Fortsetzung ihrer Schreibbewegung. LesenSchreibenLesenSchreibenLesen..... ’Ich sehe im Netz etwas, erzähle davon, ich kommentiere es, lese weiter, notiere, bin in einem permanenten aktiven wie passiven Fluss der Zeichenproduktion’: Die semiotische Bewegung der BloggerInnen ist genauso neu wie das, was sie als Medium hervorbringt. Nicht vernetzes Schreiben oder Vergleichbares ist es, was zum Internet gehört, sondern eben diese sich dauernd drehende RezeptionsProduktionsbewegung, die zu keinem Ende kommt”.

Was unter anderem, erwidere ich Anna, auch den Erfolg der Online-Communities erklärt. Dort würde diese Bewegung ebenfalls bereits praktiziert, speziell in den so genannten Wikis (wie etwa www.wikiservice.at/buecher/wiki.cgi), die sich immer größerer Beliebtheit erfreuen. Wahrscheinlich sei SchreibenLesenSchreibenLesenSchreiben.... eine neue Kulturtechnik; sei die neue zeichentheoretische Praxis, die zum Netz und zur Hypertextualität gehört, sich aber erst entwickeln musste. So gesehen hätten all die Forderungen der letzten zehn Jahre nach neuen Schreib- und/oder Lesegewohnheiten in die falsche Richtung gewiesen; was nun entstanden sei, gehe weit über das hinaus, was eine neue Schreib- oder eine neue Lesegewohnheit auch nur theoretisch sein könnte.

“Außerdem wird so begreiflich, weshalb Weblogs immer wieder auf andere Blogs verweisen und eine Art Community zu bilden scheinen: Es ist ein Effekt dieser neuen Kulturtechnik, ein Effekt des LesenSchreibenLesenSchreibenLesen.... Denn natürlich wächst durch diese Bewegung alles zusammen und verfilzt sich geradezu. Eine solche semiotische Praxis kennt keine homogenen Blöcke mehr, weder im Schreiben noch im Lesen”.


V Auf dem Weg zu einer neuen Medienkultur des Internets

Blöcke. Das ist das Stichwort....
Die Inselmedien kommen uns wieder in den Sinn:

“Fast möchte ich behaupten, dass deren Zeit wohl abgelaufen ist – angesichts der neuen Oszillationsmedien sind sie nicht mehr als vorsintflutliche Saurier! Allerdings dürfte es wohl nicht ganz so einfach sein....”

Ich kann Anna nur zustimmen: Evolution verläuft in der Regel etwas komplizierter. Immerhin würden die Weblogs nicht existieren, wenn es nicht die unzähligen inselartigen Medienprodukte gäbe, die täglich neue Massen an Content produzieren: Hier wird die Basis für all die Links und Kommentare gelegt, auf die sich BloggerInnen immer wieder beziehen.
Umgekehrt profitieren aber auch die Inselmedien von den Oszillatoren: Ihr Inhalt wird durch sie verteilt und multipliziert, was in der Regel die Bekanntheit, aber auch den Traffic erhöht: Auf einem Blog zu landen, garantiert einem Inselmedium massig Zugriffe; nicht nur, weil jeder Weblog seine tausendköpfige StammleserInnenschaft hat, sondern weil sich die Einträge, die sich darauf befinden, im Sinne des SchreibenLesenSchreibenLesenSchreiben.... rasch fortpflanzen und deshalb am Ende eines Tages meist ein ganzes Paket an Blogs auf einen bestimmten Text, den man angeboten hat, verweist.
Die Internet-Medienkultur der Zukunft dürfte deshalb wohl eher so aussehen, dass auf der einen Seite die Inselmedien, die Primärquellenanbieter, stehen, und auf der anderen die Oszillationsmedien oder Multiplikatoren, wie sie Weblogs nun einmal darstellen. Diese Differenz oder Spannung, sage ich zu Anna, würde die neue Netz-Medienkultur formen, wobei die Weblogs allerdings das sein könnten, was im Mittelpunkt des Interesses und der Aufmerksamkeit steht.

“Das bedeutet aber auch, dass die Medienkultur des Internets eine Medienkultur der öffentlichen Güter sein wird. Denn dass Weblogs unkommerzialisierbar sind, liegt auf der Hand; hier wird ja ’nur’ die Kulturtechnik LesenSchreibenLesenSchreibenLesen.... praktiziert, was praktischerweise automatisch auch zur Produktion eines Mediums führt; es geht aber in keinster Weise um Business. Blogs sind sozusagen ’Nebenher-Geschenke’ an die Welt, an die Öffentlichkeit, die sie offensichtlich dankbar entgegennimmt, weiterliest, weiterschreibt. Das wird aber auch die Primärquellenanbieter weiter unter Druck setzen, ihre Inhalte als öffentliche Güter zu betrachten. Und ihnen folglich neue Strategien abzwingen; 'schwächere’, wie ich sagen möchte: Nicht das 'große Netzprogramm’, das Superportal und dergleichen, gilt es dann zu realisieren, sondern nur das kleine, das heißt die kostengünstige Veröffentlichung interessanter, qualitätvoller Primärquellen im Rahmen eines hübschen, runden Medienprodukts. Gleichsam als Dienst an der Öffentlichkeit....”.

Abtritt. Wie nach einem Plädoyer lehnt sich Anna zurück. Warum sie so zufrieden lächelt, möchte ich von ihr wissen.

“Das sind doch schöne Aussichten, oder?”


Christian Eigner (che@tzw.biz) ist – zusammen mit Christine Maitz – Herausgeber von “Texte zur Wirtschaft”.

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