good bye internet, welcome disney.net
Stefan Krempl, Berlin, Februar 2000

Der Cyberlaw-Professor Lawrence Lessig stimmt den Abgesang auf das "originäre" Netz an

Lawrence Lessig will nicht zum Historiker des Niedergangs des Cyberspace werden, der die Freiheitsrechte betont, Innovationen fördert und allgemein wegen seiner nicht diskriminierenden Eigenschaften die Demokratisierung stärkt. Doch die Geschichte, die er am Donnerstag abend in der American Academy in Berlin vortrug, hat einen hohen Depressions-Faktor: Überlassen wir das Internet "sich selbst" und achten wir nicht auf seine Architekturen und deren Code, glaubt der Professor für Cyberlaw an der Harvard Universität, der momentan am Wissenschaftszentrum Berlin forscht, werden wir bald in einem Raum perfekter Kontrolle aufwachen, der von den "Ansprüchen der alten Welt" bestimmt sowie von "großen, bürokratischen und langweiligen Firmen" beherrscht wird.

Einen Vorgeschmack auf das durchregulierte "Internet der Zukunft" gibt Lessig zufolge AOL. Der Online-Dienst, der bereits die Hälfte aller Internetnutzer online bringe, zeichne jeden Platz auf, den ein Abonnent besucht, bemerke, wer wann wo an wen eine Email sende, überwache die Kommunikation in "privaten" Chat-Rooms, und führe Buch darüber, was jemand wo einkaufe. Wie der Jurist auch in seinem Band Code and Other Laws of Cyberspace darstellt (Wer regiert den Cyberspace?), gebe es in AOL auch keinen öffentlichen Versammlungsort, keine Agora, keinen zentralen Ort des Protests: In den Chat-Rooms könne man sich zwar mit anderen Usern unterhalten, mehr als 23 "passen" aber nicht in die virtuellen Plauderstuben gleichzeitig. Zahlreiche Nachrichtenbretter und Diskussionsforen seien ebenfalls zugänglich - aber keine einziges beschäftige sich mit Themen, die AOL selbst betreffen. Metakommunikation ist innerhalb des Dienstes nicht erwünscht.

Die Architektur, die mit Hilfe des sie bestimmenden Softwarecodes eine Zusammenrottung von Protestanten verhindert und eine weitgehende Kontrolle der Nutzer erlaubt, erscheine den meisten Abonnenten zwar "natürlich". Kaum jemand würde sie daher hinterfragen. Der Code sei aber keineswegs von Gott geschrieben worden, sondern von Programmierern. Den Managern der "Kleinstadt", als die sich AOL gerne definiert, käme damit eine "enorme Regulierungsmacht" zu.

Das "originäre" Internet ist für Lessig das genaue Gegenteil von AOL. Seine Designer hätten sich dazu entschlossen, die Freiheiten des einzelnen User gegenüber dem Realspace durch den Code und die Basisarchitektur des Netzes zu stärken und ökonomische Beschränkungen aufzuheben. Kennzeichnend dafür seien drei Features: Zum einen die End-to-End-Kommunikation, die alle "Intelligenz" an das Ende der Fahnenstange bzw. in die Applikationen auf dem Client packe und deswegen keine Differenzierungsmacht über Inhalte und Dienste zulasse. Zum zweiten der offene Quellcode, der das Netz in eine Almende verwandelt hätten, auf der sich jeder das Gewünschte von Websites, Programmen oder Protokollen nehmen und frei weiter verteilen könne, und drittens das Prinzip des offenen Zugangs, das selbst Software-Bots einschließe.

Praktisch habe sich daraus ein Raum großer Freiheiten und weitgehender Anonymität entwickelt. "Es ist im Netz schwierig herauszufinden, wer jemand ist", so Lessig, da ein Surfer anders als ein Spaziergänger nicht automatisch seine zumindest ungefähre Identität oder seinen Aufenthaltsort verrate. Diese spezielle Form der "Blindheit" sei ein bewusst in den Code der Netzarchitektur eingebautes Merkmal. Neben der Anonymität bewahre dieses Feature auch das Recht auf freie Meinungsäußerung: "Niemand kann dich aufspüren und für das, was du gesagt hast, bestrafen", erläutert Lessig das ursprüngliche Design des Netzes.

"Offensichtlich kann sich dieser Code aber auch ändern", betont der Jurist. So würden momentan Identifikationstechniken und Zertifizierungsdienste für den Aufbau von Architekturen eingesetzt, die das Überwachen der Surfer möglich machten. Das sei nicht einmal die Idee von Regierungen, sondern eine Notwendigkeit für den E-Commerce. Der Nebeneffekt bestehe darin, dass das Netz viel einfacher zu regulieren sei. Nun würden auf den ersten Blick vielleicht nur wenige etwas gegen den Verlust der "totalen" Freiheit im Internet einwenden. Beängstigend sei aber, dass auch Politiker die neuen Kontrollstrukturen für Zensurmaßnahmen nutzen könnten.

Der Anfang vom Ende der Innovationsfreiheit im Netz?

Besondere Sorgen macht sich Lessig um die Kontrolle über die Verbreitung von Inhalten und das Ende von Prinzipien wie "Fair Use" oder "Free Access", was letztlich die "Ideenökonomie", die Wettbewerbsfreiheit und die vom Internet ausgelöste Innovationswelle torpediere. Um sein wenig hoffnungsvolles Szenario plausibel zu machen, wirft Lessig zunächst einen Blick zurück in die 1970er, das "dunkle Mittelalter", wie er sagt. Wollte man damals ein Buch veröffentlichen, brauchte man einen Verleger. Wer Musik vertreiben wollte, brauchte eine Plattenfirma. Und wer ein Video oder ein Radioprogramm senden wollte, war natürlich auf eine Rundfunkanstalt angewiesen. All diese in der Medienökonomie angelegten Restriktionen sind für den Professor unglaubliche Kreativitätsblocker, da sie zu einer von großen Konzernen kontrollierten Architektur führten.

Die "Essenz" des Cyberspace sei es nun gewesen, diese Barrieren zu sprengen. Mit Hilfe von MP3 etwa wurde es Künstlern möglich, direkt an ihre Fans übers Web heranzutreten. Jeder könne zudem mit Streaming-Techniken problemlos seinen eigenen Radio- oder Fernsehsender im Netz eröffnen, jeder könne seine eigene Site gestalten oder neue Applikationen und Dienstleistungen über Nacht anbieten. Diese Innovationsmöglichkeiten seien auch ein wichtiger Teil der kommerziellen Erfolgsstory des Cyberspace gewesen, wie zahlreiche, die Macht gestandener Großunternehmen angreifenden Startups bewiesen hätten. Die Wurzeln all dieser Erfolgsgeschichten und der in ihnen steckenden Kreativität sieht Lessig in der "Architektur der Freiheit" des Internet, die keine Kontrolle über neue Ideen zuließ. Jeder konnte von heute auf morgen eine Geschäftsidee entwickeln, verwirklichen und auch kopieren - mit einer guten Chance, groß raus zu kommen.

Angriffe auf die Architektur der Freiheit

Diese innovationsfördernden Prinzipien würden sich aber momentan auf Betreiben zahlreicher Player wandeln. Lessig zählt dazu AT&T, die nach dem Merger mit der Kabelgesellschaft MediaOne den Großteil der breitbandigen Netzzugänge übers Kabel und damit wichtige Teile der Architektur des zukünftigen Cyberspace sowie ihrer Distributionsmechanismen wie ein Monopolist (PDF-Dokument) kontrolliere. So müsse jeder, der über das nicht mehr auf das End-to-End-Prinzip bauende Breitbandnetz beispielsweise Musik streamen wollte, sich zuerst die Erlaubnis von AT&T einholen.

Die Angriffe auf die freie Netzwelt kommen laut Lessig aber noch von zahlreichen anderen Seiten. Mit Besorgnis betrachtet der Cyberlaw-Experte die jüngsten Kämpfe um das Copyright. Wie das harsche Vorgehen der Filmindustrie Hollywoods im Fall der Entschlüsselung des DVD-Antikopiercodes, der bis zur Verhaftung des norwegischen Hackers führte, gezeigt habe, sei die Balance zwischen Nutzern und Industrie zugunsten der "Content-Mächte" verschoben worden. "In einer Welt, wo Code verwendet wird, um Inhalte zu schützen, und in der gleichzeitig das Gesetz den Code schützt", sei es sehr schwer gegen das System anzukämpfen, erläutert Lessig. Das führe dazu, dass jemand, der letztlich ganz legitim Interoperabilität einfordere und seine DVD unter Linux abspielen wolle, sofort ins Gefängnis wandere und als Krimineller abgestempelt würde. Offener Quellcode sei daher als "Test auf die Macht von Regierungen" und der Copyright-Industrie zu begrüßen, weil er es leichter mache, nicht gewünschte Regulierungsmaßnahmen zu umgehen.

Patente und Copyright - die Balance geht verloren

Kein Verständnis für die Rhetorik der Rundfunk- und Filmindustrie der Vereinigten Staaten hat Lessig auch im Fall des kanadischen Unternehmens iCraveTV: Der Web-Broadcaster hatte Ende vergangenen Jahres für Schlagzeilen gesorgt, weil er von Toronto aus die Signale kanadischer und amerikanischer Fernsehstationen übers Internet verbreitete. Inzwischen mussten die Kanadier ihren Service nach einem rasch angestrengten Gerichtsverfahren und der Androhung von Schadensersatzforderungen in Millionenhöhe wieder dicht machen

"iCraveTV war dem kanadischen Gesetz zufolge absolut legal", wundert sich Lessig über die erneuten Erfolge der Wächter über das Copyright. Es hätte auch keinen Anlass gegeben, die Betreiber der Site als "Cyberdiebe" zu bezeichnen. "Wir brauchen ein neues Gespür für die Balance zwischen den Nutzern und den Copyright-Haltern", fordert der Harvard-Professor.

Beim Bestreben zahlreicher Internetfirmen wie Amazon.com oder Priceline.com, sich ihre "Technologien" wie das "Einkaufen mit einem Klick" und ihre Geschäftsideen wie das Modell der "Reverse Auction" für den Cyberspace patentieren zu lassen, ist für Lessig ebenfalls einiges aus dem Lot geraten. "Wir haben inzwischen sogar kriminelle Bots im Cyberspace", empört sich Lessig. Denn wenn ein Software-Agent etwa das geschützte Angebot von eBay durchstreife, bräuchte er dazu eigentlich eine Lizenz.

Man müsse sich daher fragen, ob die Weite des Patentbegriffs wirklich gerechtfertigt sei und im Einzelfall wieder stärker abwägen, ob die Gewährung eines Patents wirklich einen Anreiz für die Hervorbringung neuer Ideen für ein Unternehmen darstelle. Die Entwicklung des kommerziellen Internet habe bisher aber gezeigt, dass in der Regel Innovation gerade aus dem liberalen Geiste des Netzes entstanden sei und keine zusätzlichen Anreize nötig gewesen seien. Das amerikanische Patentamt würde von der Regierung allerdings als "Profit-Center" betrieben, was keine Umkehr der Patentflut erwarten ließe. Das führe zu der ausländische Unternehmen im Wettbewerb behindernden Situation, dass sie ihre Ideen nur noch nach Konsultation eines amerikanischen Patentanwalts in die Tat bzw. ins Web umsetzen könnten.

Das demokratische Netz stirbt, denn die Demokratie ist schon tot

Lessig blickt angesichts der beschriebenen "Trends" skeptisch in die Zukunft: "Durch eine Kombination von Gesetz und Code bewegen wir uns von einer virtuellen Almende auf einen Ort zu, der den dunklen Zeiten von 1970 sehr ähnlich sieht." Die einzige Ausnahme: die Beschränkungen seien jetzt nicht mehr ökonomischer Natur, sondern würden künstlich von Juristen und Programmierern nachgebaut. "Wir entledigen uns der originären Konstitution des Cyberspace, um das alte Regime wieder einzuführen", gruselt sich Lessig. "Wir errichten neue Disneyworlds, um Hollywood zu schützen."

Welche Konsequenzen zieht der Professor aus seiner Beschreibung? Eigentlich keine. Lessig zieht sich im Prinzip auf die Rolle des kritisch-verzweifelnden Beobachters zurück, der uns höchstens bewusst machen möchte, was "auf uns zukommt" bzw. wie die Codebastler vor unseren Augen die Architektur des Cyberspace umstellen. "Wir sollten uns wenigstens frei dafür entscheiden, dass wir ein Disney-Netz haben wollen" und die Konsequenzen dieser Entscheidung verstehen können.

Wirkliche Auswege aufzeigen oder Protestaufrufe starten, kann und will Lessig nicht. Das Regulierungs-Terrain erscheint ihm schließlich als zu ungangbar, wie er am Beispiel von ICANN aufzeigt: Die Unternehmung, die über den Namens- und Domainraum des Internet wachen soll, sei zwar als "Non-Profit"-Organisation konzipiert worden. Aber eben doch als Unternehmen, obwohl ihre Arbeit dem "öffentlichen Interesse" dienen soll. "Ist das nicht genau die Aufgabe von Regierungen?", fragt Lessig nun nach. Und warum habe man dann ICANN ausdrücklich der Regierungsaufsicht entzogen?

Selbst teile er größtenteils den "Ekel", den heute viele vor den Regierungen empfänden. Zumindest in Amerika habe wohl kaum einer mehr die Hoffnung, dass Politiker ihre Arbeit wirklich zum Schutz des Allgemeinwohls verrichten würden. Der pessimistische Ausblick auf das zukünftige Internet ist somit bei Lessig teilweise auch hervorgerufen durch die Enttäuschung über die Ausformungen der so genannten Volksherrschaft. "Wir sind keine Demokraten mehr", fürchtet der Jurist. "Und wir müssen uns fragen, warum nicht."

veröffentlicht am 13.2.2000 bei telepolis


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