die dunkle seite des internet

Justus Aardvark, Berlin, Juni 1999

Es dauerte nicht lange, bis die Gerüchteküche brodelte. Nur wenige Stunden nach dem Massaker in Littleton, bei dem Ende April zwei Jugendliche, Eric Harris und Dylan Klebold, in einem beispiellosen Amoklauf 13 Mitschüler und dann sich selbst umbrachten, hieß es bereits, die beiden Mörder hätten ihre Bluttat im Internet angekündigt und sich dort auch die Bauanleitungen für ihre Rohrbomben geholt. So war es geradezu zwangsläufig, daß bei der öffentlichen Aufarbeitung des Dramas das Internet als eine der Hauptursachen für dieses Gewaltverbrechen an den Pranger gestellt wurde. Bei einer Umfrage von Time Magazine und CNN meinten 75 % der Befragten im Alter von 13 bis 17 Jahren, daß das Internet mitverantwortlich für das Massaker wäre. Die Washington Post zitierte eine andere Meinungsumfrage, in der 82 % der Befragten äußerten, das Internet träfe zumindest eine Teilschuld.

Fakt ist, daß die beiden Täter sich im Internet gut auskannten. Fakt ist auch, daß AOL die mutmaßlichen Homepages der Mörder vom Netz nahm und dem FBI zu Untersuchungszwecken übergab. Seitdem sind sie unter Verschluß. Ob Eric Harris sein AOL-Profil wirklich mit "Halt’s Maul und schieße. Hör auf zu heulen, es ist nur eine Fleischwunde. Tötet sie alle!" unterschrieben hatte, und ob er die Bauanleitung für seine Mordinstrumente aus dem WWW erhielt, fällt nach wie vor unter die Rubrik unbestätigte Gerüchte.

Nichts desto trotz rief US-Präsident Clinton binnen kürzester Zeit die konzertierte Aktion "Youth Violence Summit" ins Leben, bei der führende Köpfe der Internet-, Unterhaltungs- und Waffenindustrie, gemeinsam einen Jugendschutzplan aufstellten. Teil der Strategie ist der US-Senatsbeschluß, daß Internet Service Provider mit mehr als 50.000 Nutzern innerhalb der nächsten drei Jahre ein Filtersystem entwickeln sollen, das jugendgefährdende Seiten ausschließt. Um weiteren staatlichen Eingriffen vorzubeugen, gründeten die größten Internet-Unternehmen, unter ihnen AOL und Microsoft, die Organisation ICRA (Internet Content Rating Association). Diese soll binnen einen Jahres ein kostenloses, globales Bewertungssystem schaffen, welches über Ausmaß an Nacktheit, anstößiger Sprache und Gewalt auf Websites aufklärt und diese dann auf Wunsch blockiert.

Ob diese Initiativen Wirkung zeigen werden, ist zweifelhaft. Denn bisher ist noch jeder Versuch einer Zensur im Netz fehlgeschlagen. Bestes Beispiel: Als deutsche Behörden 1997 den Zugang zum Server XS4all sperrten, da sich auf diesem die verbotene Zeitschrift "Radikal" befand, entstanden innerhalb weniger Tage über 50 Mirrorsites, über die das gesperrte Material deutschen Usern wieder zugänglich gemacht wurde.

Und auch die bisher entwickelten Filtersoftwaremodelle [siehe nebenstehenden Kasten] erweisen sich als fehlerhaft: sie blockieren nicht nur fragwürdige Netzangebote, sondern gleichzeitig seriöse Beratungsseiten für Sexualprobleme und ironischerweise auch Angebote von Moralaposteln, die auf ihren Webseiten über Pornographie im Netz schimpfen.

Sinnvoller erscheint es da, die verschiedenen Seiten, die zweifelhafte oder gefährliche Inhalte aufweisen, zu beobachten und über sie zu informieren, wie es das jugendschutz.net [siehe nebenstehendes Interview] seit Oktober 1997 in Deutschland tut.

Das Simon-Wiesenthal-Institut richtete bereits 1995 eine Beobachtungsstelle ein, die problematische Netzangebote listet und diese Informationen an die zuständigen Behörden weiterleitet. Die Liste wuchs in den vier Jahren von ursprünglich 50 Seiten auf heute 1.400 an. Rabbi Abraham Cooper, Leiter der digitalen Haßstudie, gab an, seine Forscher seien Anfang des Jahres auf Material der beiden Littleton-Attentäter gestoßen, aber im Vergleich zu anderen untersuchten Seiten, erschienen die beiden eher ungefährlich.

Ein Irrtum, der seine Berechtigung hat, angesichts einer Vielfalt von Webseiten, die nicht nur Jugendliche zutiefst verstören könnten. Das Angebot extremistischer Seiten wächst zunehmend, wobei insbesondere das rechtsradikale Lager das Internet immer mehr zu Propagandazwecken mißbraucht. Aber das Netz bietet auch anderen aggressiven Ausbrüchen eine Plattform. Unlängst wurde ein US-Amerikaner puerto-ricanischer Abstammung für schuldig befunden, asiatische Kommilitonen in Emails mit Mord bedroht zu haben. Ein Verfahren gegen einen asiatischen US-Bürger, der wiederum hispanische Mitbürger per Email bedroht und beleidigt hat, läuft derzeit.

Aufsehenerregendstes Beispiel für den nicht mehr nur noch virtuellen Haß und seine Folgen sind jedoch wohl die berüchtigten "Nuremberg Files". Eine christliche Fundamentalistengruppe stellte Namen, Photos und persönliche Informationen über Personal von Abtreibungskliniken ins Netz und forderte, daß die "Babyschlächter ihre gerechte Strafe erhalten" sollen. Mindestens sechs Ärzte auf dieser Liste sind ermordet worden und makabrerweise wurde der Name des letzten Mordopfers unmittelbar nach der Tat auf der Liste durchgestrichen. Nach einem spektakulären Prozeß, bei dem den Persönlichkeitsrechten der auf der Website gelisteten Personen mehr Gewicht beigemessen wurde, als dem Recht auf freie Meinungsäußerung, auf das sich die Fundamentalisten berufen hatten, wurde die Homepage www.christiangallery.org vom Netz genommen und ihre Betreiber zur Zahlung von 108 Millionen Dollar verurteilt. Sie legten umgehend Berufung gegen das Urteil ein.

Neben diesen Hatepages macht sich aber auch eine zunehmende Zahl von Webangeboten breit, die zwar nicht zu Gewalt aufrufen, aber Gewalt und Gewaltopfer in jeder erdenklichen Form darstellen. Dabei wird das gesamte Spektrum menschlicher Abgründe zum Mittelpunkt perverser Begierden. Von Vergewaltigungen über Hinrichtungen, Folterungen, Autopsien, Nekrophilie, bis hin zu KZ-Bildern wird alles feil geboten, für welchen Zweck auch immer. Perverser Tiefpunkt des Ganzen sind Top 100-Listen, die Links zu den grauenhaftesten Inhalten bieten, wobei Einschätzungen wie "grauenhaft", "wirklich verstörend", "schockierend" und "krank" zu Markenzeichen und Qualitätsmerkmalen werden.

Die Frage ist, was tun, angesichts dieses eklatanten Mißbrauchs der Möglichkeiten des Internets? Fest steht, einfache Beobachtung dieser Auswüchse und Aufklärung darüber reichen auf Dauer nicht aus. Ebenso kann davon ausgegangen werden, daß Zensur, auch in Form von Filtersoftware oder Paßwortschutz, kein probates Mittel ist, um der Findigkeit und der kriminellen Energie der schwarzen Schafe auf der weltweiten Weide Wirksames entgegenzusetzen. Die immer wieder diskutierte Telekommunikations-Überwachungs-Verordnung (TkÜV) stößt bereits in Deutschland an ihre rechtlichen Grenzen, ein internationaler Vorstoß dieser Art erscheint nicht nur utopisch, sondern auch nicht erstrebenswert. Zudem scheint es derzeit technisch unmöglich, gegen alle fragwürdigen Seiten vorzugehen. Außerdem existiert gerade im Internet eine sehr starke Anti-Zensur-Bewegung, die sich auch vor seltsamen Allianzen nicht scheut und das Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit als höchstes Gut ansieht.

Ob wiederum die selbstregulierenden Kräfte des Internets wie zum Beispiel in Form der ICRA globale und kulturneutrale Bewertungskriterien für Webseiten finden können, steht zu bezweifeln. Zurecht weist der Online-Rechtsexperte Dr. Johann Bizer darauf hin, daß zum Beispiel "der ‘graue Bereich’ zwischen Meinungsfreiheit und Jugendschutz kulturell zwischen vielen Staaten noch erheblich divergiert".

Die Frage nach den Auswirkungen der problematischen Internetangebote bedarf dennoch einer differenzierten Antwort. Eine Wechselwirkung zwischen virtueller und realer Welt ist zweifellos vorhanden, da das Internet zunehmend zu einem bestimmenden "Sozialisationsfaktor" wird, der auch "die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen" beeinflußt, wie Petra Müller vom jugendschutz.net feststellt. Es sollte dabei jedoch nicht übersehen werden, daß die Wirkung des Internets nur im Verbund mit anderen Faktoren zu bewerten ist. Letztendlich ist ein ursächlicher Einfluß dieses Mediums auf das menschliche Verhalten nicht nachweisbar, sowohl in Ausmaß als auch in Form. Nur allzu oft mußten die Medien schon als Sündenböcke herhalten, wenn Eltern, Schulen, die Gesellschaft und die Politik versagt haben. Dabei bildet das Internet "nur" einen Zerrspiegel unserer Gesellschaft, die von einer Vielzahl gewaltverherrlichender Einflüsse geprägt wird.

Bezogen auf das Littleton-Massaker erscheint es seltsam, daß die Rolle des Internets bei dieser Bluttat in der Öffentlichkeit stärker diskutiert wird, als die Frage, weshalb Jugendliche in Ihren Zimmern Schrotflinten und Rohrbomben offen herumliegen lassen können, ohne daß die Eltern einschreiten. Ebenso fragwürdig ist, wie Jugendliche in den Besitz von Waffen kommen konnten, obwohl ein Gericht den beiden den Zugang zu Waffen verboten hatte. Und die gesellschaftliche Verantwortung wird vollends deutlich, wenn man betrachtet, daß US-Präsident Clinton in seiner Rede zu den Angehörigen der Opfer sagt, daß man wieder lernen müsse, Konflikte gewaltfrei zu lösen, während gleichzeitig Bomben auf Jugoslawien und den Irak niedergehen, und in den Medien unreflektiert das Unwort "Kolateralschäden" als Synonym für Kriegsopfer die Runde macht. Ist es da verwunderlich, daß eine Studie der UNESCO anhand von einigen tausend Kindern zeigt, "daß es eine weltweit verbreitet Gewaltkultur gibt", wie Professor Werner Glogauer in Tomorrow 6/99 feststellt.

Schließlich sind Bombenbauanleitungen besonders in den Vereinigten Staaten problemlos in Bibliotheken, Buchläden sowie von staatlicher Seite erhältlich. Deutlich wird: Pauschalisierungen greifen zu kurz, Verteufelung greift daneben. Nur wenn man sich wirklich mit dem Medium kritisch befaßt, kann man beurteilen, worum es geht, und wirksame Strategien gegen fragwürdige Seiten und zum Schutz Jugendlicher entwickeln. Hier sind besonders Politiker und Medienmacher genauso wie Schulen und nicht zuletzt die Eltern gefordert. Die Forderung nach einem demokratischen Diskurs mit Toleranz gegenüber kranken oder extremen Auswüchsen erscheint zwar naiv, aber will man die Demokratie nicht durch Verbote gefährden, bleibt einem kaum eine andere Wahl.

Vielleicht tröstet der Gedanke daran, daß die Anzahl fragwürdiger Webangebote nur einen Bruchteil der mehr als 320 Millionen Internetseiten ausmacht. Und die Tatsache, daß das Web nach dem Littleton-Massaker Plattform für eine Vielzahl von Reaktionen bildete, die den Angehörigen helfen sollten, mit ihrem Verlust umzugehen, läßt darauf hoffen, daß es für die hellen Seiten des Internets immer eine Mehrheit geben wird.



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