1989 startet Tim Berners-Lee das WWW. 1993 schreibt Marc Andreessen ein
Programm, mit dem sich das Web
ganz einfach nutzen läßt. 1995 geht seine Firma Netscape an die Börse, der
Aktienkurs schießt hoch wie eine
Rakete. In den unberührten Weiten des Internet kristallisieren plötzlich
glitzernde Verheissungen.
Längst ist das Netz eine Projektionsfläche für Utopien geworden. Nun
entwickelt sich, was man an der Börse
vornehm «Phantasie» nennt: zügellose Gier. Eine neue Religion entsteht: die
New Economy. Sinn wird durch
Geschwindigkeit ersetzt. GBF heißt das Mantra, Get Big Fast. Verluste sind
irrelevant, Wachstum ist alles. 1997
bricht die Internet-Mania aus wie eine Supernova. In den folgenden Jahren
werden allein in den USA mehr als
100 Milliarden Dollar in über 1000 Börsengänge von Technologiefirmen
gebuttert.
Bemerkenswert an der Neuen Wirtschaft ist, dass sie weniger mit ökonomischen
Realitäten zu tun hat, als
vielmehr damit, wie über Wirtschaft berichtet wird. Wirtschaftsjournalismus
nimmt den Appeal von
Sportreportagen an. Die Kurse von Hightech-Aktien werden nun beeinflusst
durch die Statements von
Star-Analysten wie Mary Meeker, der Internet-Queen von Morgan Stanley, oder
Henry Blodget von Merrill Lynch.
In einer legendären Prognose sieht er den Kurs des Internet-Buchhändlers
Amazon.com bei 400 Dollar pro Aktie.
Manche träumen zu der Zeit noch davon, sich ganz aus den Gesetzen der
Ökonomie befreien zu können, aber
der Markt wird bereits nervös. Die Stimmung erinnert an den James Dean-Film
«Denn sie wissen nicht, was sie
tun», wo Halbstarke sich ein Rennen liefern und mit ihren Autos auf einen
Abgrund zurasen. Gewonnen hat, wer
als letzter aus dem Wagen springt.
Auf einmal ist viel von der «burn rate» die Rede der Quote, mit der
Start-ups ihr eingesammeltes Geld
verbrennen. Viele Firmen expandieren und fusionieren, ohne einen Gedanken an
Gewinn zu verschwenden. Ein
neues Vergnügen macht die Runde: «Dotcom Deathwatch», das öffentliche
Anpeilen von Pleitekandidaten.
Im März 2000 brechen die Kurse der Technologiewerte ein. In den folgenden 12
Monaten lösen sich 3500
Milliarden Dollar an Buchwerten in Nichts auf. Am 18. Mai 2000 kollabiert
Boo.com der Versuch, einen
hypermodernen Shop für Sportswear und Designerklamotten im Internet
einzurichten nachdem 135 Millionen
Dollar Anschubfinanzierung verpulvert sind. Nach diesem ersten spektakulären
Konkurs eines
Internet-Unternehmens fallen sie wie Dominosteine.
Was ist passiert? Mit seinem Buch «Boo.hoo» versucht sich Firmengründer
Ernst Malmsten auch in der
Aufarbeitung des «Dotcom Downturn» als Pionier. Malmstens Chronik der
schieflaufenden Ereignisse macht die
Strukturen des Verhängnisses anschaulich: eine große Vision, die an noch
größeren technischen Problemen
scheitert; ein Lebensstil wie in einem Krieg («Nachdem er einen Monat lang
praktisch nicht geschlafen hat,
verschwindet der Chief Technology Officer spurlos»), gefolgt von «massiven
Restrukturierungen» vulgo
Entlassungen; dann Leute, die keine Lust mehr haben, echtes Geld in falsche
Hoffnungen zu pumpen; dann das
Aus.
Dasselbe Muster findet sich in den brillianten Porträts und Einblicken
(«Mein Büro war etwas grösser als eine
Zwangsjacke»), in denen J. David Kuo seinen Höllenritt als PR-Mann der
Internet-Handelsplattform
ValueAmerica (VA) beschreibt.
VA war geplant als virtueller Marktplatz, ohne Waren und ohne Lager. Eine
der Schlüsselszenen ist die
Beschreibung eines unerwarteten Einbruchs der materiellen Welt nach einer
weihnachtlichen Werbeoffensive.
Die Mitarbeiter müssen sich durch Berge von Waren-Rücksendungen quetschen.
Die Kunden sollen zwar an den
jeweiligen *Hersteller* retournieren, aber viele schicken ihre Ware einfach
an das Unternehmen zurück, bei dem
sie gekauft haben ValueAmerica.
Fünf Monate (!) nachdem Kuo er eine Testbestellung von der eigenen Website
aufgegeben hat, trifft der erwartete
Grill ein. In einer Styroporbox daneben sonderbare Geräusche: die ebenfalls
bestellte Eiskrem. Im August 2000
ist ValueAmerica bankrott. Der Aktienkurs von Amazon.com ist von 118 auf 15
Dollar abgesackt.
Unangenehmstes Beispiel der Dotcom-Diaries ist Stephan Paternots Bericht von
Aufstieg und Fall seiner
Web-Community Theglobe.com, der genauso amateurhaft abgefasst ist wie das
Unternehmen geführt wurde.
Paternot schafft es, ein ganzes Buch über eine elektronische Gemeinschaft zu
schreiben, ohne ein einziges Mal
näher auf die Menschen einzugehen, die sie ausmachen. «Investoren hatten die
Hosen voll von Chats», heisst
es an einer Stelle, «Sie sahen, daß die Leute über Sex reden und sagten:
Oh, mit sowas möchten wir nichts zu
tun haben. Chat wurde tabu. Also versuchten wir, eine reichere
Community-Erfahrung zu vermitteln. Mehr Geld
für schöne Grafik...»
Das Internet ist ein junges, unfertiges Medium, das sich ständig weiter
verändert und entwickelt. Nicht nur der
WWW-Erfinder Tim Berners-Lee weist beständig darauf hin, wie wichtig es ist,
die kommunikativen Defizite
aufzuholen, die das Netz in den Jahren des Dotcom-Deliriums erlitten hat. In
dieser Zeit hat das Web sich aus
einem Kommunikationsmedium in die längste Schaufensterflucht des Planeten
verwandelt. Kommunikation
schrumpfte auf Kaufanreize.
Die erfolgreichen Teile der digitalen Revolution sind im titanischen
E-Commerce-Gedröhn der letzten vier Jahre
aus dem Scheinwerferlicht der Medien geraten. Soziale Entwicklungen im Netz
waren höchstens als
«Community» Businessmodell interessant und galten im übrigen als
idealistische Zeitverschwendung.
Aber längst sind Kommunikationsformen wie Weblogs kurz blogs zu den
neuen Hoffnungsträgern der
Entwicklung im Netz geworden. Es handelt sich dabei um eine offene Form
zwischen Tagebuch, öffentlichem
Journal und handsortierten Link-Empfehlungen. Versiert nutzen sie die
Publikations-Power, die das Internet dem
Einzelnen in die Hand gibt. Oft sind sie einem bestimmten Themenfeld
gewidmet und zeigen, wie sich elitäres
Expertentum demokratisieren läßt.
Beispiel für ein Weblog auf der Höhe der Zeit ist «The End of the Free»
(www.theendoffree.com), wo Nutzer aus
allen Teilen der Welt vermelden, wenn wieder ein Gratis-Angebot im Web
eingestellt oder ein Dienst
kostenpflichtig gemacht wurde.
Manche gewinnen der Ernüchterung konstruktive Aspekte ab. Der
Zukunftsforscher Paul Saffo etwa sieht die
zurückliegenden Jahre als eine Art Astronautentraining für die jungen
Gründer: «Aus denen wird die beste
Unternehmerschicht, die wir seit vielen Generationen gesehen haben.» Nach
wie vor gehen monatlich mehr als
zwei Millionen neue Nutzer online. Das Internet wird ebensowenig
verschwinden wie die Web-Wirtschaft. Dazu
ist es einfach zu bequem und verlockend, um drei Uhr früh einem Wunsch
folgen und ein Buch oder ein Paar
Sneakers ordern zu können. Das Netz ist nach wie vor dabei, die Welt zu
verwandeln, diesmal allerdings ohne
hysterisches Getöse.
Vorsichtig versuchen die ersten Unternehmer, praktische Lehren aus der
kommerziellen Kernschmelze zu
ziehen. Die Firma Ricochet etwa, ein kalifornischer Anbieter für drahtlose
Netze, war eine der vielen, die durch
die Implosion der Cyberwirtschaft in die Insolvenz gerissen wurde. Nun hat
sie einen neuen Besitzer und startet
neu unter dem Namen Aerie Networks, Ziel ist nicht mehr schnellstmögliches,
sondern marktgerechtes
Wachstum.
Auch andere Entrepeneure durchsuchen den Dotcom-Schrottplatz vorsichtig nach
recycelbaren Ideen. Die Firma
Ensenda beispielsweise hat das Geschäftsmodell des grandios gescheiterten
Online-Supermarkts Webvan
adaptiert. Das Prinzip «Lieferung am Tag der Bestellung» wurde beibehalten
aber man liefert nicht mehr an
Einzelkunden, sondern an Händler. Das könnte klappen.
Nach dem Dotcom-Crash und dem 11. September erlebt der Westen nun einen
Wertewandel. Die Deregulierung
der Werte, die in der New Economy ihren Ausdruck fand, hat keine
Anziehungskraft mehr. Stattdessen sehen wir
die Wiederkunft von Werten aus einer Zeit, in der der Staat mehr als nur ein
Wirtschaftshemmnis und die
Menschen mehr als bloß *der Markt* waren. Nerds und Börsenbillionäre sind
nicht länger Vorbilder für Kids und
Studenten.
Viele, die ihr Studium abgebrochen haben, um es mit einem Internet-Startup
zu versuchen, schlüpfen nun wieder
unter die Fittiche der Alma Mater. Auch Sergey Brin, Mitbegründer der
erfolgreichen Suchmaschine Google, will
seine Doktorarbeit an der Stanford University fertigmachen. «Das Lustige für
mich ist, das Leute glauben, Google
würde bald dichtmachen, weil ich auf dem Campus auftauche. Also versuche
ich, möglichst unauffällig zu
bleiben.»
--
Bücher:
Ernst Malmsten, Erik Portanger, Kajsa Leander
Boo Hoo: a Dot-com Story
Stephan Paternot, Andrew Essex
A Very Public Offering
J. David Kuo
dot.bomb: My Days and Nights at an Internet Goliath