das dotcom-delirium
Peter Glaser, Berlin, März 2002

Die digitale Revolution entlässt ihre Kinder. Die Kernschmelze der New Economy ist verglüht – und das Internet erstarkt weiter.

1989 startet Tim Berners-Lee das WWW. 1993 schreibt Marc Andreessen ein Programm, mit dem sich das Web ganz einfach nutzen läßt. 1995 geht seine Firma Netscape an die Börse, der Aktienkurs schießt hoch wie eine Rakete. In den unberührten Weiten des Internet kristallisieren plötzlich glitzernde Verheissungen.

Längst ist das Netz eine Projektionsfläche für Utopien geworden. Nun entwickelt sich, was man an der Börse vornehm «Phantasie» nennt: zügellose Gier. Eine neue Religion entsteht: die New Economy. Sinn wird durch Geschwindigkeit ersetzt. GBF heißt das Mantra, Get Big Fast. Verluste sind irrelevant, Wachstum ist alles. 1997 bricht die Internet-Mania aus wie eine Supernova. In den folgenden Jahren werden allein in den USA mehr als 100 Milliarden Dollar in über 1000 Börsengänge von Technologiefirmen gebuttert.

Bemerkenswert an der Neuen Wirtschaft ist, dass sie weniger mit ökonomischen Realitäten zu tun hat, als vielmehr damit, wie über Wirtschaft berichtet wird. Wirtschaftsjournalismus nimmt den Appeal von Sportreportagen an. Die Kurse von Hightech-Aktien werden nun beeinflusst durch die Statements von Star-Analysten wie Mary Meeker, der Internet-Queen von Morgan Stanley, oder Henry Blodget von Merrill Lynch. In einer legendären Prognose sieht er den Kurs des Internet-Buchhändlers Amazon.com bei 400 Dollar pro Aktie.

Manche träumen zu der Zeit noch davon, sich ganz aus den Gesetzen der Ökonomie befreien zu können, aber der Markt wird bereits nervös. Die Stimmung erinnert an den James Dean-Film «Denn sie wissen nicht, was sie tun», wo Halbstarke sich ein Rennen liefern und mit ihren Autos auf einen Abgrund zurasen. Gewonnen hat, wer als letzter aus dem Wagen springt.

Auf einmal ist viel von der «burn rate» die Rede – der Quote, mit der Start-ups ihr eingesammeltes Geld verbrennen. Viele Firmen expandieren und fusionieren, ohne einen Gedanken an Gewinn zu verschwenden. Ein neues Vergnügen macht die Runde: «Dotcom Deathwatch», das öffentliche Anpeilen von Pleitekandidaten.

Im März 2000 brechen die Kurse der Technologiewerte ein. In den folgenden 12 Monaten lösen sich 3500 Milliarden Dollar an Buchwerten in Nichts auf. Am 18. Mai 2000 kollabiert Boo.com – der Versuch, einen hypermodernen Shop für Sportswear und Designerklamotten im Internet einzurichten – nachdem 135 Millionen Dollar Anschubfinanzierung verpulvert sind. Nach diesem ersten spektakulären Konkurs eines Internet-Unternehmens fallen sie wie Dominosteine.

Was ist passiert? Mit seinem Buch «Boo.hoo» versucht sich Firmengründer Ernst Malmsten auch in der Aufarbeitung des «Dotcom Downturn» als Pionier. Malmstens Chronik der schieflaufenden Ereignisse macht die Strukturen des Verhängnisses anschaulich: eine große Vision, die an noch größeren technischen Problemen scheitert; ein Lebensstil wie in einem Krieg («Nachdem er einen Monat lang praktisch nicht geschlafen hat, verschwindet der Chief Technology Officer spurlos»), gefolgt von «massiven Restrukturierungen» vulgo Entlassungen; dann Leute, die keine Lust mehr haben, echtes Geld in falsche Hoffnungen zu pumpen; dann das Aus.

Dasselbe Muster findet sich in den brillianten Porträts und Einblicken («Mein Büro war etwas grösser als eine Zwangsjacke»), in denen J. David Kuo seinen Höllenritt als PR-Mann der Internet-Handelsplattform ValueAmerica (VA) beschreibt.

VA war geplant als virtueller Marktplatz, ohne Waren und ohne Lager. Eine der Schlüsselszenen ist die Beschreibung eines unerwarteten Einbruchs der materiellen Welt nach einer weihnachtlichen Werbeoffensive. Die Mitarbeiter müssen sich durch Berge von Waren-Rücksendungen quetschen. Die Kunden sollen zwar an den jeweiligen *Hersteller* retournieren, aber viele schicken ihre Ware einfach an das Unternehmen zurück, bei dem sie gekauft haben – ValueAmerica.

Fünf Monate (!) nachdem Kuo er eine Testbestellung von der eigenen Website aufgegeben hat, trifft der erwartete Grill ein. In einer Styroporbox daneben sonderbare Geräusche: die ebenfalls bestellte Eiskrem. Im August 2000 ist ValueAmerica bankrott. Der Aktienkurs von Amazon.com ist von 118 auf 15 Dollar abgesackt.

Unangenehmstes Beispiel der Dotcom-Diaries ist Stephan Paternots Bericht von Aufstieg und Fall seiner Web-Community Theglobe.com, der genauso amateurhaft abgefasst ist wie das Unternehmen geführt wurde. Paternot schafft es, ein ganzes Buch über eine elektronische Gemeinschaft zu schreiben, ohne ein einziges Mal näher auf die Menschen einzugehen, die sie ausmachen. «Investoren hatten die Hosen voll von Chats», heisst es an einer Stelle, «Sie sahen, daß die Leute über Sex reden und sagten: “Oh, mit sowas möchten wir nichts zu tun haben”. Chat wurde tabu. Also versuchten wir, eine reichere Community-Erfahrung zu vermitteln. Mehr Geld für schöne Grafik...»

Das Internet ist ein junges, unfertiges Medium, das sich ständig weiter verändert und entwickelt. Nicht nur der WWW-Erfinder Tim Berners-Lee weist beständig darauf hin, wie wichtig es ist, die kommunikativen Defizite aufzuholen, die das Netz in den Jahren des Dotcom-Deliriums erlitten hat. In dieser Zeit hat das Web sich aus einem Kommunikationsmedium in die längste Schaufensterflucht des Planeten verwandelt. Kommunikation schrumpfte auf Kaufanreize.

Die erfolgreichen Teile der digitalen Revolution sind im titanischen E-Commerce-Gedröhn der letzten vier Jahre aus dem Scheinwerferlicht der Medien geraten. Soziale Entwicklungen im Netz waren höchstens als «Community» Businessmodell interessant und galten im übrigen als idealistische Zeitverschwendung.

Aber längst sind Kommunikationsformen wie Weblogs – kurz blogs – zu den neuen Hoffnungsträgern der Entwicklung im Netz geworden. Es handelt sich dabei um eine offene Form zwischen Tagebuch, öffentlichem Journal und handsortierten Link-Empfehlungen. Versiert nutzen sie die Publikations-Power, die das Internet dem Einzelnen in die Hand gibt. Oft sind sie einem bestimmten Themenfeld gewidmet und zeigen, wie sich elitäres Expertentum demokratisieren läßt.

Beispiel für ein Weblog auf der Höhe der Zeit ist «The End of the Free» (www.theendoffree.com), wo Nutzer aus allen Teilen der Welt vermelden, wenn wieder ein Gratis-Angebot im Web eingestellt oder ein Dienst kostenpflichtig gemacht wurde.

Manche gewinnen der Ernüchterung konstruktive Aspekte ab. Der Zukunftsforscher Paul Saffo etwa sieht die zurückliegenden Jahre als eine Art Astronautentraining für die jungen Gründer: «Aus denen wird die beste Unternehmerschicht, die wir seit vielen Generationen gesehen haben.» Nach wie vor gehen monatlich mehr als zwei Millionen neue Nutzer online. Das Internet wird ebensowenig verschwinden wie die Web-Wirtschaft. Dazu ist es einfach zu bequem und verlockend, um drei Uhr früh einem Wunsch folgen und ein Buch oder ein Paar Sneakers ordern zu können. Das Netz ist nach wie vor dabei, die Welt zu verwandeln, diesmal allerdings ohne hysterisches Getöse.

Vorsichtig versuchen die ersten Unternehmer, praktische Lehren aus der kommerziellen Kernschmelze zu ziehen. Die Firma Ricochet etwa, ein kalifornischer Anbieter für drahtlose Netze, war eine der vielen, die durch die Implosion der Cyberwirtschaft in die Insolvenz gerissen wurde. Nun hat sie einen neuen Besitzer und startet neu unter dem Namen Aerie Networks, Ziel ist nicht mehr schnellstmögliches, sondern marktgerechtes Wachstum.

Auch andere Entrepeneure durchsuchen den Dotcom-Schrottplatz vorsichtig nach recycelbaren Ideen. Die Firma Ensenda beispielsweise hat das Geschäftsmodell des grandios gescheiterten Online-Supermarkts Webvan adaptiert. Das Prinzip «Lieferung am Tag der Bestellung» wurde beibehalten – aber man liefert nicht mehr an Einzelkunden, sondern an Händler. Das könnte klappen.

Nach dem Dotcom-Crash und dem 11. September erlebt der Westen nun einen Wertewandel. Die Deregulierung der Werte, die in der New Economy ihren Ausdruck fand, hat keine Anziehungskraft mehr. Stattdessen sehen wir die Wiederkunft von Werten aus einer Zeit, in der der Staat mehr als nur ein Wirtschaftshemmnis und die Menschen mehr als bloß *der Markt* waren. Nerds und Börsenbillionäre sind nicht länger Vorbilder für Kids und Studenten.

Viele, die ihr Studium abgebrochen haben, um es mit einem Internet-Startup zu versuchen, schlüpfen nun wieder unter die Fittiche der Alma Mater. Auch Sergey Brin, Mitbegründer der erfolgreichen Suchmaschine Google, will seine Doktorarbeit an der Stanford University fertigmachen. «Das Lustige für mich ist, das Leute glauben, Google würde bald dichtmachen, weil ich auf dem Campus auftauche. Also versuche ich, möglichst unauffällig zu bleiben.»

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Bücher:

Ernst Malmsten, Erik Portanger, Kajsa Leander
Boo Hoo: a Dot-com Story

Stephan Paternot, Andrew Essex
A Very Public Offering

J. David Kuo
dot.bomb: My Days and Nights at an Internet Goliath

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