die mythen der freien software
Ein Interview von Niels Boeing, Hamburg, Mai 2003

Der Programmierer und IT-Experte Rishab Ayer Gosh über die wirklichen Macher der Freie-Software-Bewegung, ihre Bedeutung für Forschung und Ausbildung im Zeitalter der Privatisierung und die leider begrenzte Anwendbarkeit des Open-Source-Prinzips auf andere Bereichen der Wirtschaft.

km 21.0 Es ist einige Jahre her, seit das Konzept der so genannten Freien oder Offenen Software erstmals die breite Öffentlichkeit erreichte. Bei Microsoft wird es längst als potenzielle Bedrohung für ihr Software-Imperium gesehen. Ist Freie Software – anders als der New-Economy-Hype – mehr als ein vorübergehendes Phänomen?

Rishab Gosh Auf jeden Fall. Schon 1996 hatte ich die Produktionsweise von Freier Software im "Modell des Kochtopf-Marktes" beschrieben...

...bei dem jeder eine Zutat, also ein Code-Schnipsel, in den Topf wirft, aber unbegrenzt die ganze Suppe, zum Beispiel das Betriebssystem Linux, löffeln darf.

Ja. Als ich es dann 1998 veröffentlichte, hielten es die meisten für ein Hobby. Heute gehört es zum Mainstream der Wirtschaftstheorie. Viele Soziologen und Ökonomen beschäftigen sich damit, und Freie Software hat es inzwischen aufs Cover von "Fortune" und von "Forbes" geschafft.

Es gibt ja einen großen Mythos um die Freie-Software-Bewegung: Da schreiben Tausende von jungen, bleichen Freaks rund um die Welt gemeinsam an einem Computercode, ohne Bezahlung, ohne Hierarchie, aus blankem Enthusiasmus. Sie haben vor einiger Zeit die erste umfassende Studie vorgestellt, wie Freie Software wirklich entsteht, den F/LOSS-Report (für Free/Libre Open Source Software). Ist an dem Mythos was dran?

Die Mehrheit der Freie-Software-Community produziert nicht allzu viel Code. Das sind die User, während die eigentlichen Programmierer nur einen kleinen Teil ausmachen. Linus Torvalds sagte mir einmal, dass die User im Modell der Freien Software wertvoller sind als die Entwickler, weil sie das Feedback dazugeben. Bei den Entwicklern gibt es eine Kerngruppe, die den größten Teil des Codes schreibt. Was allerdings nicht heißt, dass sie alles ohne den Rest machen können. Die Kerngruppe kann nur entwickeln, weil Hunderttausende einen Teil beisteuern und kleine Verbindungen herstellen.

Wie lebt denn der typische FLOSS-Entwickler?

Die wirklich aktiven aus der Kerngruppe sind häufig verheiratet, kaum Singles. Sie sind deutlich älter, eher in den 30ern als in den 20ern, und selten Studenten, anders als man immer gedacht hatte.

Was treibt diese Leute an?

Viele Leute an der Spitze der Bewegung haben zwar eine Art Ideologie, aber nicht im politischen oder religiösen Sinne. Man könnte sie mit "Lasst uns das Gute zum Laufen bringen" umschreiben. Ihre Motivation ist, bessere Software zu schreiben. Das wichtigste sind für sie Produktivität und Programmierfertigkeiten.
Auf der anderen Seite gibt es einen Zusammenhang zwischen diesen Leuten und dem Einkommen, das sie direkt für diese Arbeit bekommen. Deshalb lässt sich nicht beantworten, ob ihre nichtfinanzielle Motivation die entscheidende ist. Wahrscheinlich nicht.

Wird die Freie-Software-Bewegung also pragmatischer?

Ich habe schon zu Zeiten des Kochtopf-Marktmodells, gesagt, dass sie pragmatisch ist. Damals gab es nur noch nicht so viele Möglichkeiten, mit Freier Software direkt Geld zu verdienen.
In den USA kann man mit der Beratung in Freie-Software-Projekten ohne weiteres 100.000 Dollar verdienen. Für Unternehmen ist das einfach nur ein weiterer Kostenpunkt. Viele der Entwickler des Linux-Kernels arbeiten so nebenbei als unabhängige Berater. Die Idee, das Freie-Software-Programmierer arm oder selbstausbeuterisch seien, ist definitiv falsch.

Bleiben wir einmal beim Begriff der Arbeit. Im FLOSS-Report haben Sie auch gefragt: "Ist die Arbeit in diesem Sektor erfüllend?", was recht häufig bejaht wurde...

Das hat uns nicht überrascht. Denn wenn diese Leute die Arbeit nicht mögen und obendrein kein Geld bekommen, wäre es seltsam, wenn sie das dann trotzdem tun.

Bedeutet das aber nicht ein ganz anderes Arbeitsverständnis? Es gibt seit längerem eine Debatte darüber, ob klassische Lohnarbeit noch zeitgemäß ist.

Tatsächlich finden wir dieses Konzept sowohl bei der gemäßigten Linken als auch unter Mainstream-Ökonomen. Die argumentieren aus ihrer Theorie heraus, dass Lohnarbeit einen nicht ausfüllen kann, weil man ja gerade so viel Lohn bekommt, dass die fehlende Befriedigung im Job ausgeglichen wird. Andererseits haben auch Börsenmakler Spaß daran, Börsenmakler zu sein. Es geht also nicht nur ums Geld. Es ist keine Frage: Entweder Geld oder Erfüllung.

Könnte die Tatsache, dass die Arbeit in der Freie-Software-Bewegung ohne ausdrückliche Hierarchien organisiert ist, wegweisend sein?

Der Punkt bei der ganzen Sache ist doch: Man entscheidet sich aus freien Stücken dafür, an der Entwicklung von Freier Software mitzuarbeiten. Es gibt keinen Zwang dahinter.
Für Neulinge und eher politisch Motivierte geht es vor allem um neue Fertigkeiten. Für sie ist das besser, als in einer Firma für einen niedrigen Lohn zu arbeiten oder das ganze umständlich an einer Universität zu lernen. Und es gibt hier eine reelle Chance, schnell in die Spitze der Community aufzusteigen.

Das Durchschnittsalter der FLOSS-Entwickler ist 27,1 Jahre. Ist die Bewegung also eine Art neues offenes Ausbildungssystem?

Ja.

Aber stiehlt sich die Industrie damit nicht billig aus der Verantwortung, Ausbildungsplätze anzubieten?

Wenn man den armseligen Zustand der Universitäten betrachtet, frage ich mich, ob die Industrie bisher überhaupt viel zur Uni-Ausbildung beigetragen hat. Sicher, die Ausbildung in der FLOSS-Community kostet die Gesellschaft auf den ersten Blick weniger. Wir haben das in Diskussionen immer wieder betont: Ein Land, dass die Entstehung Freier Software unterstützt, fördert ein Ausbildungssystem, für das es nicht direkt aufkommen muss. Die Kosten sind versteckt.
In unserem Report haben wir drei Argumente herausgefunden, weshalb die Leute sich an FLOSS beteiligen: Um Fertigkeiten zu bekommen, die einem auf dem Arbeitsmarkt helfen, um diese zu demonstrieren, und weil FLOSS-Entwickler angesehen sind.
Andererseits beschäftigen nur wenige Unternehmen Programmierer, um Freie Software zu schreiben.

Man hört ja immer wieder die Klage, dass Firmen auf diese Weise wenig investieren müssen, aber vom Gesamtprodukt, etwa dem Serversystem Apache, profitieren können. Ist das Argument unfair oder dumm?

Es ist dumm. Auch wenn IBM Apache unterstützt, macht die Open-Source-Lizenz es sehr schwierig, sich die Software anzueignen. IBM müsste keine Apache-Entwickler beschäftigen, wenn sie es dennoch tun, dann auch um zu zeigen, dass sie sich beteiligen wollen. Natürlich will IBM auch Einfluss auf die weitere Apache-Entwicklung haben. Außerdem sehen sie, dass sie auf diese Weise mehr Server und Dienstleistungen verkaufen können.

Anders gefragt: Ist es womöglich besser, dass die Freie-Software-Bewegung so ist, wie sie ist – ein offenes Forschungssystem, für das die Industrie nicht viel zahlt?

Ich glaube schon, dass sie ein Teil der Wissenschaftstradition ist, von der wir uns im Zuge verstärkter Privatisierung in den letzten 20, 30 Jahren entfernt haben. Mit FLOSS kehren wir zu einer "Mikro-Forschungsstruktur" zurück, von der Firmen profitieren, ohne das ganze an sich reißen zu können.

Können wir ökonomisch noch andere Lehren aus FLOSS ziehen? Deutet es vielleicht auf ein neues Marktmodell hin?

Ich weiß nicht, wie übertragbar es ist. Das Kochtopfmarkt-Modell: IBM trägt einen Teil bei und bekommt das ganze, funktioniert nur mit Informationsprodukten...

...weil sie beliebig oft ohne Abnutzungserscheinungen kopierbar sind. Trotzdem versuchen manche Leute in der FLOSS-Bewegung, das Modell auf ganz andere Wirtschaftszweige anzuwenden.

Das liegt zum Teil daran, dass einige nicht verstehen, was FLOSS wirklich ist. Nehmen Sie zum Beispiel Hardware: "Offene Hardware" ist unmöglich, weil man Hardware nicht beliebig reproduzieren kann, offenes Hardware-Design dagegen funktioniert. In der Kunstszene interessiert man sich sehr für das FLOSS-Modell, weil es hier keinen Autoren im ursprünglichen Sinne kennt.
Programmierer und Künstler verstehen aber unter "Autor" nicht dasselbe. Das spiegelt sich in der breiten Debatte wieder, die zur Zeit um die Gnu Free Documentation License geführt wird...

...eine Analogie zur Gnu General Public License (GPL), nach der jeder die Freiheit hat, ein GPL-Programm zu verändern, solange er das Ergebnis wieder der GPL unterwirft.

Ja, ich könnte in einem GPL-Programm alle Stellen "geschrieben von Niels" durch "geschrieben von Rishab ersetzen". In Dokumenten oder Musikstücken wäre das nicht möglich, auch nicht nach der GFDL. Die moralische Idee des Begriffs "Autor" hat noch nicht die Weiterentwicklung erfahren wie die Lizenz, ein Programm zu besitzen.


Zur Person: Rishab Ayer Gosh

Der Mann ist die Ruhe selbst. Er hat nichts von dem mitunter windigen Glamour an sich, mit dem so mancher Internet-Experte in den vergangenen Jahren seinen Worten mehr Bedeutung verleihen wollte. Rishab Ayer Gosh (Alter? soll er mir noch mailen)hat das auch nicht nötig: Er gehört seit vielen Jahren zu den originellen Vordenkern des digitalen Zeitalters. "Philosophische Fragen sind etwas für Leute, die ein für alle Mal vom Leben erschöpft sind", schrieb er 1994 in seiner ersten Kolumne "Electric Dreams" (http://www.dxm.org/dreams), der noch 79 weitere in der Zeitung "The Asian Age" folgten. Gosh beschäftigte sich mit der Realität der digitalen Revolution. Seine Einsichten veröffentlichte er ab 1995 in dem Newsletter "The Indian Techonomist", der bald nicht nur von den Großen der indischen IT-Industrie abonniert wurde. Im selben Jahr gründete er mit der US-Internet-Legende Esther Dyson das lesenswerte Online-Magazin "First Monday" (http://www.firstmonday.dk), das sich der Erforschung des Netzes mit wissenschaftlichem Anspruch widmet. Alle Beiträge werden – genau wie etwa in Biologie- oder Physik-Journalen – von Experten vor der Veröffentlichung genau geprüft. Im Jahre 2000 zog Gosh von Delhi nach Maastricht, wo er mit anderen das Institute for Infonomics aus der Taufe hob (http://www.infonomics.nl), das auch den F/LOSS-Report herausgegeben hat (http://www.infonomics.nl/floss). Als Berater, z.B. für die Weltbank, ist er ebenso gefragt wie als Vortragsredner rund um den Globus.

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