eine kapitalistische
revolution
David Hiltermann, Berlin,
Dezember 1998
Zum ersten Mal freuen sich die
Kapitalisten weltweit auf eine Revolution. Lauthals proklamieren
sie sie dieser Tage bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Diese
Revolution hat ihr Buzzword: E-Commerce. Das ist die Kurzform für
"Electronic Commerce" und bedeutet das Wirtschaften
über Datennetze. Wie bei jeder Umwälzung soll vieles
besser, vor allem alles ganz anders werden.
Dabei weiß noch niemand
genau, wann die Revolution stattfinden wird. "Wir sind noch
nicht in der E-Commerce-Gesellschaft", sagt Thomas Koll,
Vizepräsident von Microsoft, "nicht in den USA und erst
recht nicht in Deutschland." Denn vom Umsatz her ist der
online abgewickelte Handel - mit Büchern, Reisen, Computern
oder Software - eine zu vernachlässigende Größe.
Die gesamten Ausgaben für
Werbung im Internet lagen weltweit 1997 noch unter dem Werbeetat
von McDonald's. Nach Schätzungen der US-Marktforscher von
Jupiter Communications werden in Deutschland bald etwa drei
Milliarden Mark mit Hilfe des Internets umgesetzt werden - nicht
einmal ein Promille des hiesigen Bruttoinlandsprodukts. In den
USA, die sich E-Commerce als erste auf die Fahnen geschrieben
haben, erwarten die Unternehmensberater von Boston Consulting
21,6 Milliarden Mark Umsatz allein aus dem Geschäft der
Online-Shops - nur etwa 1,6 Promille des
US-Bruttoinlandsprodukts.
Die Propheten des E-Commerce ficht
das nicht an. Sie sind sich sicher, daß der Handel über
Datennetze mit märchenhaften Wachstumsraten in den kommenden
fünf Jahren explodiert. Die Wirtschaftsberater von KPMG sind
optimistischer: 3,5 Billionen Dollar sollen dann vermittels des
Internets den Besitzer wechseln.
Beratergeschwätz? Außer
in den USA, wo siebzig Millionen Menschen online sind, ist das
Internet nirgends ein Massenmedium. Bei uns können nur zehn
Prozent der Bevölkerung einen Flug online buchen. Die
exzellente Börsennotierung von Yahoo!, des legendären
Websuchdienstes, steht in keinem Verhältnis zu seinem
Umsatz. Buchhandlungen wie Amazon.com bieten zwar guten Service,
schreiben aber rote Zahlen. Internet-Commerce - Hype?
"Sie sollten E-Commerce nicht
begreifen als: Wie kaufe ich ein Buch im Internet?", wendet
Koll von Microsoft ein. Die meisten entstehenden Online-Shops
sind nichts als elektronische Einzelhandelsläden, sogenannte
E-Retails, die Warenkataloge als Website anbieten. Die Bestellung
bei ihnen geht nicht per Telefon oder Fax, sondern als E-Mail
ein. Spektakulär ist das nicht. Das revolutionäre
Potential lauert woanders: im Wandel traditioneller Produkte
sowie im elektronischen Handel der Unternehmen untereinander, im
"Business- to-Business".
Wer etwa Bücher im Internet
verkaufen will, muß mehr anbieten als die übliche
Papiersammlung zwischen zwei Pappdeckeln. Beispiel Amazon.com: Zu
jedem Bestseller, den man in den virtuellen Einkaufskorb legt,
meldet der Websiterobot, welche Schmöker andere Käufer
dieses Buchs sonst noch bestellt haben. Dem Leser erschließt
sich so eine Gruppe neuer Autoren, die er nicht miteinander in
Verbindung gebracht hätte. "Der Kunde muß einen
Mehrwert haben", sagt Jeff Bezos, Präsident von
Amazon.com.
Möglich wird dieser Mehrwert
durch Online-Datenbanken, die speichern, wer was in welcher
Kombination kauft. Ein weiterer e-commerce-typischer Service ist
Amazons Einrichtung unter dem Namen "Eyes". Eine
Suchmaschine paßt auf, ob irgendwo im Internet ein neuer
Titel der jeweiligen Lieblingsautorin angekündigt wird. Ist
das der Fall, schickt der Robot der Interessentin eine
entsprechende E-Mail.
Womit die wesentliche Neuerung des
E-Commerce benannt wäre: Reine Produkte werden um eine
Informationskomponente aus puren Bits im Internet erweitert, ohne
die sie sich zunehmend schlechter verkaufen. Güter wie
Software oder Nachrichten können am Ende ausschließlich
über Datenleitungen geliefert werden, ohne daß sie
noch eines Verkaufsträgers aus Magnetfolie oder Papier
bedürften.
Zur Zeit halten sich solche
Online-Geschäfte zwischen Unternehmen und Verbrauchern
("Business-to-Consumer") mit dem
"Business-to-Business"-Handel noch die Waage. Nicht
mehr lange. In zwei Jahren werde "Business-to-Business"
neunzig Prozent der Umsätze einsacken, schätzt der
Deutsche Multimedia-Verband.
Von den damit verbundenen
Veränderungen hinter den Kulissen merkt der Online-Shopper
nichts. Im Dienstleistungssektor bilden sich "virtuelle"
Unternehmen. Mehrere Firmen vernetzen sich mit ausgeklügelter
Software für die Dauer eines Projekts. Dann zerstreuen sie
sich wieder in den Weiten des Marktes, um neue Allianzen zu
schließen. Aber auch das Produktionsgewerbe verändert
sich. Zulieferketten von Auto- oder Computerherstellern
verwandeln sich über Extranets - eine Art geschütztes
Miniinternet, um Produktionsdaten und Dokumente auszutauschen -
in Zuliefernetzwerke.
Die Lagerhaltung, durch die
"Just-in- time"-Philosophie der letzten Jahre ohnehin
drastisch geschrumpft, macht einer ausgeklügelten
Kommunikation in Echtzeit Platz - nötigenfalls auch verteilt
über den ganzen Globus. Wie viele CD-ROM- Laufwerke,
Drei-Gigabyte-Festplatten und RAM-Chips werden gerade von Kunden
in Skandinavien online bestellt und müssen morgen wo
zusammengebaut werden? Wenn der Verbraucher nach der Lieferung
seines PCs schließlich den Kaufpreis überweist, ist
das nur die letzte Transaktion in einer ausgeklügelten
elektronischen Handelskette. Dieser Strukturwandel senkt die
Kosten und verkürzt die Produktionszeiten drastisch - womit
der Wettbewerb noch härter wird.
"Dell Computer", einer
der Pioniere dieses Verfahrens, setzt zehn Millionen Dollar am
Tag via Internet um. Chipgigant Intel ist inzwischen umgeschwenkt
und erwirtschaftete zuletzt gar eine Milliarde Dollar im Monat.
Auch "Cisco", größter Produzent von
Netzwerkleitungen, -routern und -servern, wickelt seine Geschäfte
zu zwei Dritteln via Internet ab.
Diese Großkonzerne sind
bislang aber nicht mehr als die berühmte Avantgarde, die
eine Revolution vorantreibt. "Viele Unternehmen fühlen
sich noch gar nicht betroffen", sagt Jörg Wenzel, Chef
der Arbeitsgruppe für E-Commerce der EU- Kommission. Die
kleinen und mittleren Unternehmen beginnen erst zu begreifen, daß
sie über das Internet einen Markt betreten können, der
weit über den Horizont ihrer heimischen Regionen
hinausweist. Erst zwanzig Prozent von ihnen verfügen über
einen Internetanschluß, nur fünf Prozent haben eine
Homepage.
Viele, ob Verbraucher oder Firmen,
sind mißtrauisch. Die Skepsis ist berechtigt. Hindernisse -
wie zu langsame Internetanschlüsse der Verbraucher oder der
Diebstahl von Kreditkartennummern - sind dabei technisch lösbar.
Die drängenden, ungelösten Fragen zum elektronischen
Wirtschaften betreffen vielmehr die politischen und juristischen
Sphären. Aber nach welchem Standard soll Zahlungssicherheit
gewährleistet, sollen Verträge hieb- und stichfest
gemacht werden?
Wie kann sich der Konsument davor
schützen, von Firmen ausspioniert zu werden, während er
durch Online-Kataloge surft? Wie wird die Einhaltung von
Copyrights sichergestellt? Wer reguliert die elektronische
Wirtschaft - die Marktkräfte oder die Staatengemeinschaft?
Die USA haben die Kräfte des
Marktes bislang sich selbst überlassen. "Der
Privatsektor sollte die Entwicklung anführen, der Staat
sowenig wie möglich eingreifen", formuliert Ira
Magaziner, Berater des US- Präsidenten Bill Clinton, die
E-Commerce-Philosophie der US-Regierung. Das Magazin Wired
brachte das auf die Formel "Doing nothing, but doing it
well" - nichts tun, aber das gut machen.
Der EU hingegen ist das zu lasch.
"Verbraucherschutz, Besteuerung und Datenschutz brauchen
staatliche Richtlinien", sagt Jörg Wenzel von der
EU-Kommission. Denn die oft beschworenen Marktkräfte werden
dann doch schwach, wenn Milliarden Kundendaten aus dem Netz zu
holen sind. Beispiel: Microsofts "WebTV". Die Software,
die den Internetzugang per TV-Gerät ermöglicht,
speichert alle Klicks des Surfers. Bislang fehlen für dieses
Verfahren Schutznormen - ebenso wie die Möglichkeit, im
grenzüberschreitenden Online-Handel Schadensersatzklagen
durchzusetzen.
Die EU will nun Standards und
Umgangsformen des elektronischen Wirtschaftens in einer
internationalen E-Commerce-Charta festschreiben. Peinlich nur,
daß sich die EU-Länder nicht einmal untereinander
einig sind. Erst Ende November scheiterte der Versuch der für
Telekommunikation zuständigen Minister, einen einheitlichen
Sicherheitsstandard für elektronische Unterschriften
festzulegen.
Für E-Commerce-Enthusiasten
sind das lästige Verzögerungen. "E-Commerce hat
den Durchbruch im letzten halben Jahr geschafft", meint
KPMG-Experte Holger Röder. Selbst wenn das stimmt - im von
Arbeitslosigkeit geplagten Westeuropa dürfte die
Öffentlichkeit vor allem eines interessieren: Wie viele Jobs
werden dabei rausspringen? Pessimisten sehen viele weitere
Arbeitsplätze gefährdet.
Sicher ist: In vielen Branchen wird
E-Commerce den Zwischenhandel eliminieren. Andererseits werden
Scharen von Softwarebetreuern, Netzwerkverwaltern und
Programmierern benötigt, um die neue internetbasierte
Infrastruktur aufzubauen und in Schuß zu halten. Selbst in
den USA bleibt derzeit ein Viertel aller neuen Arbeitsplätze
in der Informationstechnik unbesetzt.
Daß
E-Commerce aber nicht einfach ein neuer Euphemismus für den
Effizienzwahn der vergangenen fünfzehn Jahre ist, zeigt der
Fall Cisco. Die Firma verlegte ihren Kundendienst ins Netz und
automatisierte ihn - weil nicht genügend Arbeitskräfte
für den Telefonverkauf zu finden waren, als der Konzern
expandierte.
Eine leicht veränderte
Version des Textes erschien im tazmag vom 19. Dezember 1998
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