bürgerkrieg des rock'n'roll

Niels Boeing, Hamburg, Juli 2000

Für viele Punks und Rapper gehörte es zum guten Ton, das Publikum anzupöbeln. Das kam dann so richtig in Wallung, sprang wie bei The Clash auch schon mal auf die Bühne und prügelte sich mit den Musikern. Aber alle hatten eine gute Party.

Dieses Feeling war es nicht, das Metallica-Schlagzeuger Lars Ulrich kürzlich zu einer Publikumsbeschimpfung der besonderen Art trieb: "Haut ab, lasst uns in Ruhe!" Die Hardrock-Truppe aus Kalifornien hatte entdeckt, dass Hunderttausende Fans ihre Songs im Internet als Dateien austauschen – in der elektronischen Tauschbörse Napster (www.napster.com). Metallica zwang die Napster-Betreiber, 300 000 Fans aus dem System auszusperren, und ein Aufschrei ging durch die Fan-Gemeinde. Ulrich blaffte zurück: "Wenn ihr nur Metallica-Fans seid, wenn wir euch unsere Musik kostenlos geben, wollen wir euch nicht als Fans."

Seitdem ist in der US-Musikszene der Teufel los – ein "Bürgerkrieg des Rock'n'Roll" tobt, wie das britische Magazin New Musical Express formulierte. Keiner weiß, wo die Frontlinie verläuft, Musiker, Plattenfirmen, Fans hauen sich Vorwürfe und Kraftausdrücke um die Ohren. Eminem, der neue Hiphop-Superstar in den Staaten, pöbelte besonders schön: "Wer immer meinen Scheiß ins Internet gestellt hat, ich will das Arschloch treffen und ihm den Verstand rausprügeln."

Grund für den Aufruhr ist eine Software, die der 19-jährige Ex-Student Shawn Fanning schrieb und im Januar zum kostenlosen Download ins Netz stellte: Napster. Heute, 6 Monate später, nutzen schätzungsweise 20 Millionen Menschen Napster – und bieten sich gegenseitig Millionen Songs an, die sie vor allem illegal von ihren CDs in so genannte MP3-Dateien kopiert haben (siehe Kasten). Dass solche MP3-Files aus dem Netz runtergeladen werden können, ist an sich nichts Neues und hat die Musikbranche schon 1999 Nerven gekostet. Doch vor Napster war das große Problem, all die coolen Stücke im Netz zu finden. Deren Position änderte sich ständig, weil die Raubkopierer aus Furcht vor den Piratenjägern der IFPI (dem internationalen Verband der Musikindustrie) regelmäßig die Server wechselten. Immerhin 800 Server wurden im vergangenen Jahr von der IFPI überführt und abgeschaltet.

Mit Napster hat das ein Ende: Hier werden die PCs der User, die dem Zugriff der Piratenjäger entzogen sind, zu einer gigantischen Jukebox im Netz verbunden. Der Napster-Server durchforstet die Festplatten der registrierten Nutzer nach MP3-Dateien und listet diese in einer Datenbank auf. Da ist zum Beispiel Madonnas für Mitte August angekündigte Single "Music" seit Wochen drin. Wer nicht warten, klickt den Titel an, und der Napster-Server schaufelt den Hit von dem fremden PC in wenigen Minuten auf den eigenen Rechner. Copyright? Who cares?

Wieviele Millionen Songs derzeit in dem System kursieren, weiss niemand. Die Alben aller bekannten Popgrößen wie Beatles oder Nirvana sind jedenfalls komplett vorhanden, ebenso zahlreiche Hits und Remixes neuer Musikheroen. "Meine eigenen Kinder laden Stücke von Fatboy Slim runter, von deren Existenz ich gar nichts wusste - und ich manage den Kerl doch!" wundert sich Gary Blackburn, Managing Director von Anglo Plugging, das auch Oasis oder die Chemical Brothers vertritt.

Nicht nur die "Big 5" – also die fünf großen Musikkonzerne Universal, BMG, Sony, Warner und EMI, die mehr als 90 Prozent des weltweiten Tonträgerumsatzes, rund 80 Milliarden Mark, machen – und Stars wie Metallica und Eminem sind empört. Gerade auch Musiker, die es (noch) nicht zum Star gebracht haben, heulen auf. Wenn die Napster-Piraterie den CD-Verkauf ruiniere, werde er wohl "bald wieder bei McDonald's sein", stöhnte etwa Morgan Rose, Schlagzeuger der Hardrocker Sevendust, kürzlich im Online-Magazin Salon. Andere sehen sich dann zur lebenslänglichen Tournee verdammt, wenn sie überhaupt einen Pfennig bekommen wollen. Dabei sei doch heute "der einzige Grund für ein Konzert die Promotion der neuen CD", so Jonatha Brooke. Dabei ist die Songwriterin alles andere als internetfeindlich: Sie war Ende 1998 eine der ersten gewesen, die ein Album ausschließlich übers Netz vertreiben.

Das taten auch die Hiphop-Veteranen Public Enemy vor einem Jahr. Doch ihr Frontmann Chuck D. – vom US-Kongress inzwischen zum MP3-Experten geadelt – zieht ganz andere Schlüsse aus dem Phänomen Napster: "Das ist das Radio der '0-Dec'", des Nuller-Jahrzehnts im 21. Jahrhundert. Dass die Piraterie das eingefahrene Musik-Business aufbreche, sei trotz aller Verluste besser als der Status Quo. "Was ist eigentlich Piraterie?" mischte sich kürzlich die Femme fatale des amerikanischen Punkrocks, Courtney Love, in einer vielbeachteten Rede ein. "Piraterie ist, wenn einem Künstler ohne Bezahlung sein Werk gestohlen wird. Und ich spreche nicht von Napster, sondern von den Plattenverträgen der großen Konzerne." Die fallen höchstens für Superstars wie Metallica und der Rapper Dr. Dre, die jetzt gegen einige ihrer Fans vorgehen, gut aus. "Abgesehen von dem Scheck, den sie bekommen, wissen die nicht, was vor sich geht", so Chuck D.

Was aber geht tatsächlich vor sich? Das Bild ist widersprüchlich. Eine Studie im Auftrag des Verbandes der US-Tonträgerindustrie RIAA fand heraus, dass der CD-Verkauf in amerikanischen College-Städten – dreiviertel aller US-Studenten nutzen Napster – im Gegensatz zu den USA insgesamt zurückging. Die europäische Musikindustrie bezifferte vergangene Woche die Umsatzverluste durch Raubkopien im Netz auf 2,7 Milliarden Mark (1,4 Mrd. ¤) pro Jahr. Das Marktforschungsunternehmen Angus Reid kommt zu einem anderen Ergebnis: Webnutzer, die MP3-Dateien runterladen, kaufen häufiger CDs. Superrüpel Eminem müsste das bestätigen können. Obwohl (oder eben weil) seine neue CD "The Marshal Mathers LP" Wochen vor dem Verkaufsstart komplett über Napster erhältlich war, ging sie in den Verkaufscharts ab wie eine Rakete.

Napster - Umsatzkiller oder geniales Marketinginstrument, das Copyright-Verletzungen als kleineres Übel erscheinen lässt? "Für uns ist Napster super, das ist doch die billigste Promotion, die man haben kann", freut sich Marcus Liesenfeld vom Indie-Label Bungalow Records in Berlin. "Das ist nur Promotion bei Leuten, die meine Musik sowieso schon kennen", hält Peter James, Experte vom Indie-Verband VUT und XXX vom Musik-Portal Dock11.com dagegen.

Während der musikalische Bürgerkrieg in Deutschland allerdings noch nicht angekommen ist, werden in den USA bereits schwere Geschütze aufgefahren. Die RIAA hat Napster.com verklagt. Vorwurf: Die Firma mache sich der Beihilfe zur massiven Verletzung des Urheberrechts schuldig. Wer glaubt, hier werde ein Robin Hood vom König drangsaliert, täuscht sich allerdings. Denn Napster.com ist äußerst copyright-bewusst – wenn es um ihre eigene Software geht. Wer die installiert, wird in einem Pop-Up-Fenster über Urheberrechtsbestimmungen belehrt. Als die Rockband Offspring – pro-Napster – kürzlich in Eigenregie T-Shirts mit Napster-Logo verkaufte, drohte Fannings Firma mit einer einstweiligen Verfügung. Mehr noch: von den 15 Millionen Dollar frischen Venture-Kapitals leistet man sich Staranwalt David Boies, der das US-Justizministerium gegen Microsoft vertrat und jetzt Napster retten soll. Denn sollte die RIAA Recht bekommen, könnte der Napster-Server, der die Riesen-Jukebox zusammenhält, abgeschaltet werden.

Folgt dann...

Szenario 1: Business as usual in digital?

Napster und Konsorten ist das Handwerk gelegt worden, die Musikindustrie bringt ab Januar 2001 unkopierbare CDs auf den Markt und macht MP3 damit zu einer heißen, anarchistischen Anekdote aus den frühen Tagen des E-Commerce. Gleichzeitig wird ein weltweites System zur Überwachung des Copyrightschutzes bei Musikdateien und zur Abrechnung von Tantiemen übers Netz eingeführt. Alle ziehen an einem Strang – und so wie die gute alte Vinyl-LP von der CD ersetzt und zum obskuren Sammlerstück wurde, löst der Musik-Download allmählich die CD ab. Dann werden wir in einigen Jahren die Top-Hits für 5 Mark das Stück über Handy oder mobile Mini-Computer auf Speicherchips laden, die wir in diverse Geräte schieben können – tragbare Player, die Stereoanlage, das Autoradio... Kernstück des Geschäfts soll dann die so genannte Superdistribution werden: "Ein Peter-Maffay-Fan kauft ein Download-Produkt des Künstlers, schickt per Mail das File an seine Freunde. Diese haben dann die Möglichkeit, den Titel einmal kostenlos anzuhören. Kauft einer der Freunde den Titel ebenfalls, kassiert der Ursprungskäufer eine Provision", erklärt Thomas Stein, Präsident von BMG Deutschland, das Konzept.

Was dagegen spricht:

Vor einem Jahr hob die Musikindustrie die Inititiave für sichere Digitalmusik, SDMI, aus der Taufe. Digitale Wasserzeichen und neue Abspielgeräte sollten danach in diesem Jahr den Kopierwahnsinn von MP3-Files beenden. Stattdessen konkurrieren diverse Datenformate und Rechtemanagement-Systeme, die kein Mensch kennt. Warum sollte sich ein Kunde etwa für Sonys Musicstick-Technik entscheiden, wenn MP3-Dateien und -Abspielmöglichkeiten überall vorhanden sind?

Und selbst wenn Napster dichtgemacht wird: Zum einen könnte Napster seine Zelte einfach woanders aufschlagen. Das muss nicht einmal ein digitaler Freihafen sein, wie er gerade in der Nordsee entsteht. Kurz nachdem die RIAA die Klage eingereicht hatte, bot Kanada den Napster-Servern bereits "Asyl" an. Im E-Commerce ist sich, wie auch sonst im Welthandel, jede Nation selbst am nächsten. Außerdem ist Napster längst überholt worden: MP3-Dienste wie Gnutella verbinden die PCs der Musik-Gemeinde bereits jetzt ohne zentralen Server. Der Geist ist aus der Flasche.

Droht dann etwa...

Szenario 2: Der Untergang der Pop-Stars?

Irgendein Startup springt auf den Zug auf und programmiert eine Napster-artige Zusatzsoftware für Webbrowser wie Netscape Navigator oder den Internet-Explorer, und MP3-fähige CD-Player für die Stereoanlage kommen auf den Markt. Das Hören von MP3-Dateien und ihr Austausch übers Internet wird damit so selbstverständlich wie E-Mailen und Surfen. 2001 bricht der Tonträger-Verkauf dramatisch ein, während Sony als letztes unabhängiges Major Label von HYPERLINK mailto:Yahoo/AT&T/Excite@home µYahoo/AT&T/Excite@home§ geschluckt wird. Musik ist nun endgültig Content und Madonna unterschreibt 2002 einen Exklusiv-Vertrag bei AOL Time Warne. Dort erhofft man sich vom kostenlosen Download ihrer Hits märchenhafte Zugriffszahlen. Der bei allen Internet-Giganten einsetzenden Produktion kostenloser Musik folgt das Massensterben der kleinen Labels: "Mainstream is King". Ein Heer von Musikern werkelt l'art pour l'art in den Hobbyräumen dieser Welt, alternative Songs werden in kleinen, obskuren Netz-Communities angeboten.

Was dagegen spricht:

Aktivisten wie stopnapster.com untergraben die Glaubwürdigkeit von Napster mit gezielt platzierten Viren. Viele Napster-Kids wechseln von Uni oder Schule in den Job und haben schlicht keine Zeit mehr fürs Downloaden. Das Geld sitzt locker und eine CD zu kaufen ist einfach bequemer - zumal immer mehr Musikportale im Internet hervorragenden Service bieten und Wunsch-CDs ohne Lückenfüller zusammenstellen.

Das macht...

Szenario 3: Das kreative Chaos

wahrscheinlich. Die Branchenriesen werden noch zwei drei Jahre mit Hilfe von Technik, Justiz und Gesetzgeber versuchen, SDMI durchzudrücken und das bisherige Netzmusik-Geschäft im Sinne von Szenario 1 zu retten. "SDMI ist der Versuch, ein neues Monopol aufzubauen", sagt Peter James, der die Bedeutung der großen Plattenfirmen aber angesichts der Kosten, Musik auf einem globalen Markt zu platzieren, und der Unfähigkeit, auf neue Trends zu reagieren, schwinden sieht.

Den Ton könnten dagegen die zahlreichen neuen Musikportale wie MP3.com, Besonic oder Dock11 und Online-Labels wie Atomic Pop anbieten. Sie nutzen das Netz schon jetzt als effizienten CD-Promotion-Kanal, über den sich weniger bekannte Musikstile, Bands und Labels mit orientierungslosen Musikhörern, die seit Jahren keine CDs mehr gekauft haben, zusammen bringen lassen – ein Potential, das die großen Plattenfirmen seit Jahren ignoriert haben.

"Wenn das Internet schließlich zum Vertriebskanal wird, dann per Subskription und nicht über einzelne Downloads", sagt Frank Goldberg, Geschäftsführer von Dock11, dem Portal für Independent-Labels. Das heißt, man zahlt vielleicht 20 Mark im Monat an einen Musikprovider und kann sich dann soviel MP3s runterladen, wie man will. Möglich, dass Napster.com, das bislang keinen Business-Plan vorgelegt hat, nach einer Einigung mit der RIAA der erste derartige Musikprovider wird. "Ab 2004 wird Subskription das Online-Musikbusiness dominieren", stimmt Malcolm Maclachlan, Medienanalyst des Marktforschungsunternehmen IDC, zu. Für die Hörer könnten goldene Zeiten anbrechen: "Am Ende gibt es mehr Musik für mehr Menschen zu billigeren Preisen – das ist gut für das Musikbusiness", ist sich Alan McGee, Entdecker der Rockstars Oasis, sicher.

Die Revolution in der Musikbranche ist in vollem Gange und das Napster-Programm ihr digitales Pendant zum Kommunistischen Manifest, quasi ein "User aller Netze, vereinigt euch". Da sollte sich Filmindustrie schon einmal warm anziehen. Sie wird als nächstes dran sein. Zwar sind die Datenmengen digitalisierter Kinofilme noch zu groß, die Internetzugänge zu langsam. Doch ein "Film-Napster" mit kopierten DVDs könnte schon in zwei, drei Jahren zum "Bürgerkrieg von Hollywood" führen.

Eine leicht veränderte Version des Textes erschien in der „Woche“ vom ?



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