jeder ist ein unternehmer

Die Philosophie der Internet-Generation - ein Manifest von Roger Strathausen
(auf meinem Schreibtisch gelandet im Juni 2000, nbo)

Es gibt eine Neue Philosophie in Deutschland – die Philosophie des Internets. Das Internet prägt das Denken unserer Generation. Es ist dezentral, chaotisch und von keiner Stelle im System beherrschbar. Es gehört allen und keinem. Jeder kann teilnehmen, dabei ist, wer mitmacht. Was zählt, sind Wissen und Produktivität. Das Internet macht Wissen frei verfügbar, es ermöglicht jedem die Akkumulation von intellektuellem Kapital und stellt die virtuellen Räume der Produktion. Das Internet macht jeden zum Unternehmer.

Joseph Beuys ist der Vater der Internet-Generation. Von ihm stammt der Spruch, dass jeder Mensch ein Künstler sei. Wir nehmen Beuys beim Wort und machen unsere eigene Kunst: die Revolution der Wirtschaft, die Schaffung der New Economy. Unsere Kunstwerke hängen nicht an den Wänden, sie stehen nicht in Museen und finden nicht auf Bühnen statt. Unsere Kunstwerke sind die Geschäfte des Alltags. Die Vereinigung von Kunst und Leben geschieht im Individuum. Das Ganze ist weder das Wahre noch das Falsche. Das Ganze ist immer nur das Eigene.

Wir privatisieren das Marxsche Diktum vom Primat der Praxis, wir wenden es vom Sozialen ins Individuelle. Wir sind freie Produzenten unserer selbst. Nicht die Veränderung der Gesellschaft als Ganzes ist unser Ziel, sondern die Veränderung unserer eigenen unmittelbaren Umgebung, das Nutzen der eigenen Möglichkeiten, die aktive Gestaltung des eigenen Lebens. Wir blicken nach vorne, nicht zurück. Wir kritisieren nicht das Bestehende, wir schaffen Neues. Wir sind positiv, nicht negativ. Wir beenden die jahrhundertalte Vorherrschaft des negativen Denkens in Deutschland, das sich von Kant über Hegel und Schopenhauer bis zu Adorno und der Kritischen Theorie zieht. Wir stehen in der Tradition Nietzsches, wir fühlen den Rausch der Romantiker und die Goethesche Lust am Schaffen. Wir spüren in uns den Geist der neuen Zeit.

Das Problem der Moderne ist überholt. Die Differenzierung sozialer Wertsphären und der Verlust einer umfassenden Moral spielen nur dann eine Rolle, wenn das Ganze im Blick ist und nicht das jeweils Eigene. Anders gesagt: Das Problem der Moderne ist ein philosophisches Problem, aber die Neue Philosophie ist im modernen Sinne keine Philosophie mehr. Sie ist Leben, authentisches Tun, aber sie nicht notwendig reflexiv, sie existiert nicht als Ganzes.

Es geht nicht um „den Menschen„, es geht nicht um „die Gesellschaft„ oder um andere Abstrakta der Philosophiegeschichte. Die Frage ist nicht: Was ist Wahrheit? Oder: Was ist Gerechtigkeit? Die Frage ist: Bist Du ehrlich? Und verhältst Du Dich richtig? Es geht um die einzelne, es geht um uns, um Dich und mich. Und es geht darum, dass jede Person an ihrem Handeln erkannt wird, an dem was sie tut und wie sie sich verhält. Es gibt kein richtiges und kein falsches Bewusstsein, es spielt keine Rolle, woher Du kommst und was Du denkst, es ist egal, ob Du Mann oder Frau bist, schwarz oder weiß, reich oder arm. Für uns zählt der Weg, den ein Mensch zurücklegt, nicht der Ort, von dem aus sie startet.

Wir vereinigen Authentizität und Sachlichkeit zu praktischer Professionalität. In der New Economy ist der Beruf zur Berufung geworden. Die Trennung von Arbeit und Freizeit ist überwunden, beides ist in Projekten organisiert. Projekte sind wie Menschen: individuell verschieden, zeitlich begrenzt und zielorientiert. Projektarbeit ist Teamarbeit, der einzelne ist nur im Team erfolgreich. Erfolg macht Spaß, ohne Spaß gibt es keinen Erfolg.

In dem uralten Konflikt zwischen den Idealen der Freiheit und der Gleichheit wählen wir die Freiheit. Wir nehmen Ungleichheit in Kauf, wenn sie der Preis der Freiheit ist. Toleranz und Menschlichkeit entstehen nicht durch Gleichmacherei. Für uns zeigt sich menschliche Reife in der Fähigkeit, zu differenzieren und in allem das Besondere und Einmalige zu sehen. Nur das Einmalige kann gleichwertig sein; was nur gleich ist, hat keinen Wert. Einmaligkeit aber braucht Freiheit, um zu wachsen. Individuelle Freiheit ist das höchste Gut, für sie lohnt es sich zu kämpfen.

Leben und leben lassen – das ist der Leitspruch der Internet-Generation. Wer den abstrakten Anspruch auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Moral aufgibt und stattdessen selber ehrlich und aufrichtig ist; wer aufhört, an anderen herumzunörgeln und es stattdessen selber besser machen will; wer darauf verzichtet, recht zu haben und stattdessen versucht, selbstgesetzte Ziele zu erreichen: der lebt und freut sich am Leben anderer. Kritik und Negativität wurzeln in Neid und persönlicher Unzufriedenheit. Wer sich mag, mag auch andere, wer sich gut findet, findet auch andere gut, und wer sich selbst seine Schwächen verzeiht, verzeiht auch anderen ihre Schwächen.

Toleranz und Offenheit sind zentrale Merkmale der Internet-Generation. Für uns ist Liberalität keine Frage von Politik oder Moral, sondern eine konkrete Art zu leben. Wir achten die anderen nicht trotz, sondern wegen ihrer Andersartigkeit. Wir haben Respekt vor individuellen Entscheidungen, wir fördern und fordern Differenz. Ideologie und Dogmatismus lehnen wir ab. Wer sich und seinem Lebensgefühl Ausdruck verleiht, wer kreativ ist und die Dinge um sich herum verändert, den erkennen wir an.

Normativer Bezugspunkt der Internet-Generation ist die persönliche Wirklichkeit. Nicht „die„ Wirklichkeit, sondern die jeweils eigene Wirklichkeit, die von jeder einzelnen geschaffene Welt. Wir leben alle in verschiedenen Welten. Wer verzweifelt ist, lebt in einer verzweifelten Welt, wer glücklich ist, lebt in einer glücklichen Welt. Es macht keinen Sinn, nach Objektivität und Wahrheit zu fragen. Philosophische Probleme dieser Art sind irrelevant. Traditionelle Philosophie ist irrelevant.

Moral ist für uns nichts abstrakt-theoretisches, sondern Teil eines gelebten Leben, Ausdruck einer Persönlichkeit. Es gibt keine Moral jenseits der Person. Was richtig oder falsch ist, muss jede einzelne für sich selbst entscheiden. Es ist anmaßend, die TV-Show „Big Brother„ als „menschenverachtend„ zu bezeichnen und ein Verbot zu fordern, obwohl sich alle Show-Teilnehmer freiwillig gemeldet haben und auch keiner der Fernsehzuschauer gezwungen wird, sich die Sendung anzusehen. Dieser Anmaßung liegt ein einfacher Syllogismus zugrunde:
(a) Alle sollen so sein wie ich.
(b) Ich würde nie an einer solchen Show teilnehmen.
(c) Ergo soll auch keine andere an dieser Show teilnehmen.

Intellektuelle Anmaßung hat Tradition in Deutschland. Die Studentenbewegung, die Frankfurter Schule, die Sozial-Bewegten, die Gerechtigkeits-Forderer und Menschenrechts-Verkünder – sie alle haben sich angemaßt, für andere zu sprechen. Die Internet-Generation braucht keine Fürsprecher. Bei uns spricht jeder für sich. Und wer schweigen will, darf schweigen – wir schicken keine in Therapie, weil sie anders ist.

Wir fordern auf zur Kritik. Kritisiert zu werden ist uns wichtiger als selber zu kritisieren. Von der Kritik anderer können wir lernen, von unserer Kritik lernen allenfalls die anderen. Es ist irrelevant, ob die Kritiker es besser machen als wir - es geht nur darum, dass wir selbst es besser machen. Dazu brauchen wir nicht auf andere zu blicken, nur auf uns selbst.

Wir glauben an uns, wir trauen uns zu träumen. Ob der Traum Wirklichkeit wird oder nicht, ist irrelevant, solange wir an seiner Verwirklichung arbeiten. Wichtig ist das subjektive Moment der Geschichte, nicht das objektive. Für uns ist die Gegenwart bedeutender als Vergangenheit und Zukunft. Der Moment gehört dem einzelnen, Widersprüche lösen sich auf im performativen Akt. Leben ist Performance.