journale zu servern
Niels Boeing, Hamburg, Februar 2004

Während die Musikindustrie die Copyright-Schotten runter lässt und die EU sich anschickt, Software patentieren zu lassen, passiert in der Wissenschaftspublizistik etwas Unerhörtes: Die Open-Access-Bewegung schickt sich an, die Früchte wissenschaftlicher Erkenntnis wieder für die Allgemeinheit zurückzuerobern. Damit wird sie neben der Free-Software/Open-Source-Bewegung zur zweiten treibenden Kraft für einen Cyberspace, dessen Inhalt allen Köpfen zugänglich ist.
Von der Wissenschaft zur Erkenntnisindustrie
Die einäugigen Peers
Science or Pulp Fiction?
Ein Feyerabend'scher Coup

„Das Internet verändert alles.“ Wie oft haben wir diesen Satz in den Neunzigern gehört. Heute erntet ein müdes Lächeln, wer noch allen Ernstes den Begriff der „Informationsrevolution“ in den Mund nimmt. Bis auf die durch das massenhafte Runterladen gebeutelte Musikindustrie scheint alles erstaunlich vertraut geblieben. Die Ruhe täuscht. Nahezu unter Ausschluss der Öffentlichkeit findet eine Umwälzung von enormer Tragweite statt: Die „Open-Access“-Bewegung, die erst durch das Internet möglich wurde, ist im Begriff, das über 300 Jahre alte System der wissenschaftlichen Journale zu ändern – und damit auch die neuzeitliche westliche Wissenschaft selbst.

Von der Wissenschaft zur Erkenntnisindustrie

Als die Royal Society of London 1665 mit den „Philosophical Transactions“ eines der ersten Wissenschaftsjournal überhaupt herausbrachte, war die Erkenntnis dessen, was die Welt im Innersten zusammenhält, das Unterfangen eines überschaubaren, aber wachsenden Zirkels europäischer Gelehrter. Über ihre Theorien tauschten sie sich in Briefen oder höchstpersönlich aus. Die ersten Ausgaben der Philosophical Transactions glichen noch mehr dem Mitteilungsblatt einer kleinen Szene. Seit jenen Tagen hat sich der Forschungsbetrieb zu einer regelrechten Erkenntnisindustrie ausgewachsen. Ihr Output wird in kostenpflichtigen Publikationen akribisch dokumentiert: Rund 24.000 Journale haben im vergangenen Jahr 2,5 Millionen Artikel veröffentlicht, und jeden Monat kommen weitere für neue Unterdisziplinen hinzu.

Längst geht es weniger um Wissen „l’art pour l’art“ als um Grundlagen für potenzielle Innovationen und Produkte. Entsprechend industriell sind auch die Preise, die die Verlage von den Forschern verlangen, um die Geistesfrüchte ihrer Kollegen studieren zu können. Der Bezug des „British Journal of Cancer“ etwa kostet knapp 2000 Euro im Jahr. Schließlich, so rechtfertigen sich die Verlage, müssen die wissenschaftlichen Aufsätze von Redakteuren sorgfältig bearbeitet, an Experten verschickt und von diesen geprüft werden. Die Auflagen sind im Vergleich zu allgemeinen Medien gering, die Produktion mit Grafiken und Fotos aufwändig. Das altehrwürdige System kostet Geld – immer mehr Geld: Die Subskriptionspreise etwa in Großbritannien sind in den Neunzigern jährlich im Schnitt um elf Prozent gestiegen, wie eine Untersuchung des Wellcome Trusts zeigt.

Dass angesichts solcher Preise nur wenige Universitäten außerhalb der industrialisierten Welt daran teilhaben können, verwundert nicht. Doch längst knicken auch Hochschulen in reichen Ländern unter der Last der Subskription ein. „Wir müssen laufend wichtige Titel abbestellen“, klagt eine Mitarbeiterin der Universitätsbibliothek an der TU Berlin. Im Journalständer der Physikbibliothek der TU verlieren sich nur noch wenige Titel. Kein Vergleich zu der Zeit, als ich dort für meine Diplomarbeit Literatur wälzte.

Die einäugigen Peers

Zwar ist der Ausstoß dieses gewaltigen, dem Fortschritt gewidmeten Publikationssystems beeindruckend. Doch die Nebenwirkungen sind auch nicht zu verachten.
In einer Kultur, der Zählen und Messen über alles geht, sind die Anzahl der Veröffentlichungen pro Jahr und das Zitiertwerden mindestens so wichtig für die Karriere wie deren Inhalt. Die berüchtigte Maxime „Publish or perish“ – publiziere oder gehe unter – treibt dabei mitunter bizarre Blüten. Wo früher ein Artikel genügt hätte, zerlegt man ihn schon mal in zwei, drei Teile. Im ersten präsentiert man die Grundlagen, angereichert um eine eigene Einschätzung, und verweist auf die Ergebnisse „in einem demnächst erscheinenden Paper“. Wer Eindruck machen will, schafft es mit diesen und anderen Tricks auf 80 Artikel in zwei Jahren.

Wie etwa der Physiker Jan Hendrik Schön, der im September 2002 von den Bell Labs gefeuert wurde, weil er Messdaten gefälscht oder gar erfunden hatte.
Bei einem derart hohen Ausstoß ist die Scientific Community schon mal überfordert. Den Gutachtern fielen die gefälschten Messkurven ebenso wenig auf wie den Lesern – wenn es denn welche gab. Zwar gehört das Zitieren der Arbeit von Kollegen zum Einmaleins der Wissenschaft. Aber, wie eine statistische Untersuchung vom Dezember 2002 zeigte, wird gerne zitiert, ohne die entsprechende Publikation wirklich studiert zu haben. Die beiden Autoren der University of California Los Angeles schätzen, dass nicht einmal ein Viertel der zitierten Quellen gelesen wird.

Andererseits bietet das System der Gutachter – die so genannte Peer Review – auch in seiner heutigen Professionalität keine Gewähr, dass bahnbrechende Neuigkeiten erkannt und veröffentlicht werden. Ein Artikel der IBM-Forscher Gerd Binnig und Heinrich Rohrer über ihr gerade erfundenes Rastertunnelmikroskop wurde 1981 mit der Begründung zurückgewiesen: „In dieser Arbeit fehlt im Grunde jegliche konzeptionelle Diskussion, ganz zu schweigen von einer konzeptionellen Neuigkeit.“ Durch Vorträge konnten sie dann die ersten Fachkollegen für ihr Gerät interessieren, und schon 1986 bekamen sie dafür den Physik-Nobelpreis – denn das Rastertunnelmikroskop war das erste Werkzeug der damals noch jungen Nanotechnik.

Dass ihr Artikel zunächst durchfiel, liegt auch daran, dass sich in den überschaubaren Unterdisziplinen mit ihren je eigenen Journalen schnell Gruppen und Fraktionen bilden, die bestimmte Forschungsansätze vertreten und anderen skeptisch gegenüberstehen. „Das Peer-Review-System ist relativ schwerfällig, Neues zu erkennen“, sagt Urs Schoepflin vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin.

Science or Pulp Fiction?

Die saftigen Preise und die bizarren Nebenwirkungen hätte die Scientific Community wohl zähneknirschend hinnehmen müssen – wäre da nicht plötzlich das Internet gewesen.
Bereits 1991 hatte Paul Ginsparg am Los Alamos National Laboratory einen „eprint Server“ eingerichtet, auf dem Physiker ihre Arbeiten der Community vorab als Dateien zur Verfügung stellen konnten. Das „ArXive“ (
www.arxive.org) war geboren und damit die Idee eines weltweiten offenen Zugangs („open access“) für jeden Interessierten mit Internetverbindung. Während sich die neue Publikationsplattform bei Physikern, Mathematikern und Informatikern, die das Netz schon früh nutzten, bald großer Beliebtheit erfreute, blieben andere Wissenschaftszweige zunächst skeptisch. Gerade in den Humanwissenschaften argwöhnte man, dass ein Open-Access-Modell „Junk Science“, wissenschaftlichem Schrott, Tür und Tor öffne. In der Medizin könne es fatale Folgen haben, wenn fachlich ungeprüfte Theorien in die Praxis einsickern würden, lautete das Standardargument.

Die Explosion der Subskriptionspreise brachte schliesslich auch in den Human-, Geistes- und Sozialwissenschaften das Fass zum Überlaufen. Warum sollten sich Verlage eine goldene Nase an den Erkenntnissen anderer verdienen? „In der Gutenberg-Ära waren Subskriptionen der einzige Weg, die Kosten einer Papier-Publikation wieder hereinzuholen“, sagt Stevan Harnad von der Universität Southampton, der 1999 die Openarchives-Initiative (www.openarchives.org) startete. „ In der Nach-Gutenberg-, der Online-Ära, gilt das nicht mehr.“ Der Betrieb des Arxive-Servers etwa kostet jährlich 300.000 Dollar und wird von mehreren US-Institutionen finanziert. Längst wird auch das Recht der Verlage, der Wissenschaft ihre eigenen Werke zurückzuverkaufen, grundsätzlich in Frage gestellt: „Freier Zugang ist ein öffentliches Gut – ein Großteil der Forschung wird schließlich öffentlich finanziert“, formulieren Pritpal Tamber, Fiona Godlee und Peter Newmark von BioMedCentral (www.biomedcentral.com) die Stimmung.

Das in London ansässige BioMedCentral arbeitet seit 2000 als Open-Access-Verlag für humanwissenschaftliche Forschungsarbeiten. In den USA haben die National Institutes of Health mit PubMedCentral ein Repositorium nach dem Vorbild des Arxive-Servers ein. Der vorläufige Höhepunkt war schließlich der medienwirksam inszenierte Start des offenen Journals „PLoS Biology“ (www.plosbiology.com) der amerikanischen Public Library of Science im Oktober 2003. Inzwischen publizieren etwa 1000 Journale mit offenem Zugang.

Stevan Harnad geht davon aus, dass in einigen Jahren die Barrieren ganz gefallen sein werden. Zwar würden nicht alle Journale auf Open Access umsteigen, aber die ihnen veröffentlichten Artikel würden von den Autoren parallel in Online-Archiven angeboten. Entscheidend ist nun, dass alle Institutionen, die Forschungsgelder bewilligen, die Publikation in offenen Journalen akzeptieren und deren Betreibern dieselben „Druckkostenzuschüsse“ gewährten. Beides akzeptiert die Deutsche Forschungsgemeinschaft inzwischen in ihrem „Publikationsbeihilfe“ genannten Förderinstrument, denn: „Man kann den Wissenschaftskulturen nicht von außen vorschreiben, wie sie publizieren sollen“, begründet Reinhard Rutz von der DFG den Sinneswandel.

Ein Feyerabend'scher Coup

Die Wissenschaft kann von der neuen Bewegung nur profitieren. Weil die offenen Journale sich ihr Geld nun von den Autoren holen, wird „strategischen“ Vielschreibern automatisch ein Riegel vorgeschoben. Zwischen einigen hundert und 1500 Dollar kostet die Prüfung und Aufbereitung ihres Papers – aber nur wenn es zur Veröffentlichung kommt.

Dass offenes Publizieren schlechtere Qualität bedeutet,
lässt sich auch widerlegen. „Unsere Qualität wird inzwischen höher als die von anderen Journalen eingestuft“, sagt Günter Mey von der TU Berlin, einer der Gründer des „Forum Qualitative Sozialwissenschaft“ (FQS, www.qualitative-research.net/fqs/fqs.htm). Die Vorbehalte sind aber noch nicht restlos verschwunden. „Junge Wissenschaftler publizieren bei uns zwar schon unbefangen, aber viele lassen die Artikel noch aus den Bewerbungsunterlagen heraus.“ Die Unterstützung des offenen Zugangs durch die DFG dürfte das aber bald ändern.

Die Möglichkeit, in den Foren der Online-Journale auch über Forschungsarbeiten zu diskutieren, ist vielen Forschern ebenfalls noch nicht ganz geheuer. „Viele trauen sich nicht, weil ein Gutachter oder ein Konkurrent unter den anderen Nutzern sein könnte“, berichtet FQS-Gründerin Katja Mruck von der FU Berlin von ihren Erfahrungen als Online-Moderatorin im Forum.

Viel dramatischer ist aber der Wandel des wissenschaftlichen Arbeitens selbst, der damit angestoßen wird: Zum ersten Mal gibt es eine Chance, die Zersplitterung der Wissenschaft in zahlreiche Disziplinen und ihre starre Kanonisierung zu überwinden. Letztere hat Paul Feyerabend (en.wikipedia.org/wiki/Paul_Feyerabend), der große erkenntnistheoretische Anarchist, in seinem kontroversen Buch „Wider den Methodenzwang“ gegeißelt: „Man kann also eine Tradition schaffen, die durch strenge Regeln zusammengehalten wird“, schrieb er 1974. „Ist es aber wünschenswert, eine solche Tradition zu unterstützen und alles andere auszuschließen? ...meine Antwort ist ein festes und vernehmbares NEIN.“

Das Modell der offenen Journale könnte eine nachhaltige Querbefruchtung zwischen Disziplinen – unter dem Stichwort „Interdisziplinarität“ seit Jahren fester Bestandteil aller bildungspolitischen Sonntagsreden – einleiten. Ein Beispiel ist das Archimedes-Projekt, in dem Informatiker, Physiker und Altphilologen zusammenarbeiten: Es bietet in einem frei zugänglichen Online-Archiv historische Originaltexte zur Mechanik, die mit elektronischen Übersetzungswörterbüchern verbunden sind. „So können zum Beispiel Physiker auch altsprachliche Texte eher verstehen“, sagt Urs Schoepflin. „Dadurch können die traditionellen Disziplingrenzen aufgebrochen werden“.

Paul Feyerabend hätte an der Entwicklung seine Freude gehabt. 1974 forderte er: „Für eine objektive Erkenntnis brauchen wir viele Ideen. Und eine Methode, die die Vielfalt fördert, ist auch als einzige mit einer humanistischen Auffassung vereinbar.“

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