"das heilige buch selbst lesen"

Der Gründer der Free-Software-Foundation Richard Stallman im Gespräch; Niels Boeing, Hamburg, August 1999

km 21.0 Sie haben 1985 die Free Software Foundation (www.gnu.org) gegründet, die sich für „Freie Software“ stark macht. Welche Idee steckt dahinter?

RICHARD STALLMAN Freie Software bedeutet, dass die Nutzer gewisse Spielräume haben: Sie dürfen die Software, die sie sich beschafft haben, analysieren, verändern, an ihre Bedürfnisse anpassen und weitergeben. Und sie dürfen ihre Verbesserungen veröffentlichen.

km 21.0 Was bei der Software der heute marktbestimmenden Firmen wie Microsoft alles nicht möglich ist.

STALLMAN Als wir damals das Ziel ausgaben, ein vollkommen freies Betriebssystem zu entwickeln, sagten alle: „Das schafft ihr nie, das ist zu schwer. Eine nette Idee, sicher, aber eben doch ein Luftschloss.“ Nun, wir haben es geschafft – inzwischen gibt es sogar freie Betriebssysteme wie Gnu/Linux.

km 21.0 Das macht dem Microsoft-Betriebssystem Windows Konkurrenz und hat im vergangenen Jahr den Begriff Open-source-Software sehr populär gemacht.

STALLMAN Wer von Open-source-Software anstatt Freier Software spricht, lässt die entscheidenden ethischen Fragen außen vor. Die Open-source-Verfechter betonen immer nur die praktischen Vorteile, die frei zugängliche Software bietet. Für sie ist es aber nur eine reine Marketing-Strategie, als ob es um nichts anderes gehe. Es müsste aber viel mehr über Freiheit geredet werden.

km 21.0 Was meinen Sie mit Freiheit?

STALLMAN Die Frage ist doch, in was für einer Gesellschaft wir leben wollen: in einer Gesellschaft proprietärer Software …

km 21.0 … also patentierter Software, deren Code nicht veröffentlicht wird …

STALLMAN … in der wir von den Software-Eigentümern behindert werden, oder wollen wir in einer Gemeinschaft leben, in der wir uns helfen dürfen? Ich schwöre Ihnen, dass diese soziale Frage der Grund dafür ist, dass es eine Freie-Software-Bewegung überhaupt gibt.

km 21.0 Was für eine Art von Wissen sind Software-Codes Ihrer Meinung nach, wenn sie nicht das geistige Eigentum der Firma sind, die sie entwickelt hat?

STALLMAN Software-Codes sind definitiv Kunst, im Sinne von Kunsthandwerk.

km 21.0 Wenn aber der Einzelne an der Gestaltung von Software teilnehmen will, setzt dieses Kunsthandwerk gut ausgebildete Nutzer voraus.

STALLMAN Nein. Das hängt nur vom Design eines bestimmten Programms ab, das man benutzt. Die freien Betriebssysteme arbeiten heute alle mit grafischen Benutzeroberflächen, die sehr leicht zu bedienen sind. Ich glaube, dass Freie Software für alle Nutzer handhabbar sein sollte, nicht nur für Freaks.

km 21.0 Wird der stärkere Einsatz von Freier Software die Leute automatisch zu mündigen Computer-Nutzern machen?

STALLMAN Ja, aus mehreren Gründen. Sie kennen vielleicht das Konzept der Technik-Priesterschaft, die zwischen dem durchschnittlichen Menschen und der Technik steht. Freie Software beseitigt diese Priester. Sie sagt: Ihr könnt das Heilige Buch – also den Programm-Code – selbst lesen. In der Welt nicht öffentlicher Codes hindern sie einen daran, weil alles geheim ist. Die Kultur der Freien-Software-Gemeinde besteht darin, dass wir die Menschen zum Lernen ermutigen. Freie Software ist damit ein Teil des menschlichen Allgemeinwissens.

km 21.0 Einige Experten machen den zeitlich extrem straffen Entwicklungsprozess bei nicht öffentlicher Software für das Jahr-2000-Problem mitverantwortlich. Wäre das mit Freier Software anders gelaufen?

STALLMAN Das Problem ist nicht, wie die Software von Microsoft und Co entwickelt wird, sondern dass sie so ist, wie sie ist: Die Nutzer haben nicht den Code, also können sie auch keine Probleme wie Y2K lösen. Schon triviale Änderungen sind in derartigen Programmen mit enormen Schwierigkeiten verbunden.

km 21.0 Welche Hindernisse gibt es noch auf dem Erfolgsweg von Freier Software?

STALLMAN Die Patente auf Software, wie sie in den USA möglich sind, sind das Haupthindernis. Derzeit werden solche Patente leider auch für Europa diskutiert. Zusätzlich zur Frage der nicht öffentlichen Programm-Codes gibt es das Problem der geheim gehaltenen Datenprotokolle und -formate von Microsoft.

km 21.0 Also der Regeln, wie Daten beschaffen sein müssen, um von der Software verarbeitet werden zu können.

STALLMAN Hier müssten die Verbraucher die Offenlegung aller Standards verlangen, damit sie von jeder Software genutzt werden können. Mit ausreichendem politischen Druck ließe sich das auch gesetzlich regeln.

km 21.0 Open-source-Programmierer arbeiten unentgeltlich – was treibt sie an?

STALLMAN Sie sollten nicht glauben, es gebe nur das Motiv „politischer Idealismus“. Ein Grund ist ganz einfach Spaß, Programmieren macht enorm Spaß, wenn man es kann. Und wenn Sie ein gutes Programm geschrieben haben, das von 50 000 Menschen benutzt wird, können Sie auch stolz darauf sein. Andere wollen einfach nur ihre eigenen Software-Probleme lösen, für die es noch keine freien Programme gibt. Es ist übrigens nicht ungewöhnlich, dass die Entwicklung Freier Software Teil eines regulären Programmierer-Jobs ist, das heißt einige Leute werden neuerdings sogar dafür bezahlt.

km 21.0 Mitte der 70er Jahre hatte der junge Programmierer Bill Gates – heute Chef von Microsoft – in einem offenen Brief an die Programmierer-Szene beklagt, dass er für die Entwicklung von Software kein Geld bekommen könne.

STALLMAN
Ich habe nicht gesagt, Programmierer sollten kein Geld bekommen. Es ist völlig in Ordnung, wenn sie bezahlt werden. Ich lehne nur Gates’ Vorstellung ab, die Bezahlung von Programmierern sei so etwas wie ein soziales Anliegen. Das einzige soziale Anliegen, um das es hier gehen kann, ist die Freiheit der Menschen. Leute wie Gates denken doch so: Wenn du mich nicht finanziell zufrieden stellst, bekommst du gar keine Software – von mir nicht, aber auch von sonst niemandem. Wir in der Freien-Software-Bewegung haben bewiesen, dass das falsch ist. Die Software-Entwicklung lässt sich auf viele Arten organisieren: auf Regierungsebene, individuell, mit Hilfe von Kooperativen/Genossenschaften und manchmal auch über den Markt. Deshalb sollten wir uns nicht einschüchtern lassen, es gebe keine Alternative zur Dominanz des privaten Marktes.

Der Programmierer RICHARD STALLMAN (46) war langjähriger Mitarbeiter am Artificial Intelligence Lab des Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston. 1984 startete das Gnu-Projekt zur Entwicklung eines kostenlosen, frei zugänglichen Betriebssystems auf Unix-Standard, aus dem das populäre Linux hervorgegeangen ist


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