die verdatung des menschen
David Hiltermann, Berlin, Dezember 2000

Datenschutz und kommerzieller Erfolg im Internet schließen sich aus. Wer das Gegenteil behauptet, hat nicht verstanden, was Ecommerce von der realen Wirtschaftssphäre unterscheidet

Das postindustrielle Mantra kann inzwischen fast jeder herunterbeten: Die Informationsgesellschaft wird uns anhaltendes Wachstum, Arbeitsplätze satt, eine nicht gekannte Effizienz und ungeheuren Wohlstand bringen. Die USA singen es seit Mitte der neunziger Jahre, offensichtlich mit Erfolg. Da erscheinen die teilweise dramatischen Kursverluste der Technologieaktien in den letzten Monaten nur als schmerzliche Korrektur des Fortschritts. Der aber hat einen Haken, der sich langsam als Missklang dem emsigen Gesumme beimischt: Es ist der Verlust des Privaten, es ist die Verdatung des Menschen. Ohne sie wird das Cyber-Wirtschaftswunder keinen Bestand haben.

Mit Orwellschen Schreckensszenarien hat dies zunächst nichts zu tun Daten sind schlicht der Rohstoff, aus dem die schicke neue Informationsgesellschaft errichtet werden muss. Ihre Grundlage ist eine Welt, in der Waren, Produzenten und Konsumenten nur noch als Zahlenkolonnen existieren, als Strichcode auf der Verpackung oder als Kundenprofil, das mittels Online-Registrierung oder Rabattkarte erstellt wird.

Das ist ungemein praktisch: Solche Datengebilde haben keine Ansprüche, streiken nicht, können in Sekundenschnelle rund um den Globus transportiert werden und nehmen ñ von ein paar Datenspeichern abgesehen ñ in unserer Umwelt keinen Platz weg. Ihre Bearbeitung bringt zahlreiche neue Berufe und Dienstleistungen hervor. Welch eine Rettung für die reifen, stagnierenden Industriegesellschaften des Westens, scheint es. Also, her mit den Daten!

Die gibt es inzwischen so reichlich, dass einem das Gerangel um die Volkszählung 1987 wie aus einem anderen Jahrhundert vorkommt. Wo der Staat noch Tausende ehrenamtliche Dateneinsammler durch die Wohnviertel der Republik schicken musste, genügen heute ein Server und das Versprechen eines läppischen Rabatts auf den nächsten Harry-Potter-Band, um braven Bürgern ehemals intime Details zu entlocken.

Doch die Verdatung steht erst am Anfang. Denn die bisher erhobenen Bytemassen reichen bislang nicht, um die Abermilliarden Dollars, die in den neunziger Jahren in die beginnende Digitalisierung von Wirtschaft und Verwaltung investiert wurden und der US-Wirtschaft zu jährlichen Wachstumsraten von bis zu 6 Prozent verhalfen, zu erwirtschaften. Soll die Informationsgesellschaft ein Selbstläufer werden, muss in den kommenden Jahren in der vernetzten Ökonomie konsumiert und gehandelt werden, was das Zeug hält.

Genau daran hapert es bislang. Während Millionen Kunden genüsslich in den Innenstädten flanieren und shoppen, brechen allein US-User im Netz 80 Prozent aller Online-Kaufvorgänge ab, wie kürzlich eine Studie des Marktforschungsunternehmens Datamonitor ermittelte. Ganz zu schweigen von denen, die noch überhaupt nicht vernetzt sind. Was fehlt, ist der digitale Kaufrausch.

Nur Daten führen zum Konsumrausch

Der aber wird nur eintreten, wenn in der Cyberwirtschaft Konsumenten und Produkte aufeinander fliegen. Das Zauberwort hierfür heißt Personalisierung: Du bekommst übers Netz einen Wagen angeboten, der ausschließlich nach deinen Bedürfnissen zugeschnitten ist. Eine Musikauswahl auf CD gebrannt, die sonst keiner hören will und daher nicht im Laden steht. »Ein Wahnsinns-Flugpreis-Discount in die Karibik extra an deinem Geburtstag« - solche digital maßgeschneiderten Produkt sind nur möglich, wenn die Datensätze der Verbraucher ein lückenloses Abbild all ihrer Vorlieben und Gewohnheiten sind, wenn sie total verdatet sind.

In ihrer einfachsten Form sieht Personalisierung so aus, dass beispielsweise Werbebanner von Netz-Dienstleistern wie Doubleclick passend zum Suchbegriffen eingeblendet werden: Wer bei Yahoo »Anemone« eintippt, bekommt ein Fleurop-Banner verpasst. Den ersehnten Klick- und Kaufreiz löst das so gut wie nie aus.

Den sollen neue datenintensive Konzepte wie Customer Relationship Management (CRM), die elektronische Kundenpflege, oder Permission Based Marketing hervorbringen. Bei CRM wird jeder Klick eines Surfers in einem Online-Shop akribisch analysiert und zu regelrechten individuellen Kaufszenarien weitergesponnen, beim Permission Based Marketing geben User detailliert ihre Interessen an; die dazu passenden Produktinformationen landen fortan in ihrer Mailbox und lösen hoffentlich den überfälligen Kaufreflex aus. Mehr noch: Die hierbei gesammelten Kundendaten sind selbst wieder bares Geld wert.

Äußerst erfolgreich ist dabei das elektronische Rabatt-System Payback, das die Grenzen zwischen Online- und Offline-Shopping überschreitet. Über drei Millionen Mitglieder verbuchen in Deutschland bereits beim Kauf in den Shops der Partner-Unternehmen Punkte auf einer Smart Card. Zusammen mit ihren Nutzerdaten erhält das Payback-Bündnis detaillierte Kaufprofile, die Datenschützern Kopfschmerzen bereiten.

Auch wenn Geheimdienste E-Mails abfangen und lauschen wie nie zuvor - man denke an das jüngst enthüllte FBI-System Carnivore: Die treibende Kraft in der allgemeinen Datensammelwut ist nicht mehr der ewig beargwöhnte Staat. Es ist die neue Ökonomie, die viel über ihre Subjekte in Erfahrung bringen will und muss, soll das angekündigte Wirtschaftswunder eintreten.

Ahnungslosigkeit verhindert Widerstand

Skepsis, gar Protest regt sich bislang kaum. Zu sehr scheint das Datenschutzproblem an altmodischen Vorstellungen von schnüffelnden Schlapphüten und »großen Brüdern« vergangener Jahrzehnte orientiert. Im Jahr 2000 geht das alles leise und unbemerkt. Halten viele Bürger die stattfindende Verdatung nur für eine besonders gelungene Schnäppchenjagd, findet gar ein Wertewandel statt?

In den USA, die auf dem Weg in die Informationsgesellschaft am weitesten fortgeschritten und wo Eingriffe in die Privatsphäre traditionell verpönt sind, regt sich inzwischen Unmut. Bei einer Umfrage der New York Times nannte eine überwältigende Mehrheit der Befragten Ende 1999 »Privacy« als das Problem Nr. 1 der nächsten Jahre. Laut einer Gallup-Umfrage, die vor zwei Wochen veröffentlicht wurde, sind fast zwei Drittel der US-Bürger besorgt über große Online-Datenbanken, 40 Prozent empfinden Daten sammelnde Unternehmens-Websites als bedenklich.

Dieses Unbehagen ist allerdings noch zu diffus. Was fehlt, ist die einschneidende Erkenntnis: Ohne Verdatung wird es die Informationsgesellschaft mit ihren erhofften Segnungen nicht geben. Andersherum: Wer Privatheit aus guten Gründen aufrechterhalten will, muss sich also endlich nach neuen Gesellschaftsentwürfen umsehen. Um solch subversiven Geistesblitzen vorzubeugen, wird bereits jetzt verstärkt die Auffassung lanciert, der Schutz der Privatsphäre sei ohnehin nur im Interesse von Menschen, die etwas zu verbergen haben. Scott McNealy, Chef des Computerkonzerns Sun Microsystems, formulierte dies in einem Spiegel-Interview einmal so: "Wenn ich ein paar Golfschuhe kaufe oder in einem Restaurant esse, und jemand veröffentlicht das im Internet? Das ist mir egal. Mir persönlich ist es sogar egal, ob die Akten meines Arztes im Internet stehen. Ich bin nicht Bill Clinton, ich habe nichts zu verbergen."

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