langfristig sind wir alle tot
Robert von Heusinger, Frankfurt, November 2002

Der Börsenkrach entlarvt die Parole von der Überlegenheit der Aktie - wenn man sie nur lang genug halte, schlage sie jede Anlageform. Jetzt zeigt sich: Selbst 40 Jahre reichen nicht

Aktien steigen immer, zumindest auf lange Sicht. Das hört sich in diesen Tagen an wie blanker Hohn, stimmt aber. Beweise? Allein in den vergangenen zehn Jahren hat sich der Dax verdoppelt; der Dow Jones, der älteste Aktienindex der Welt, notiert heute fast 3000-mal höher als bei seiner erstmaligen Berechnung im Jahr 1896. Und selbst das Sorgenkind, der japanische Nikkei, bringt es im Vergleich zu Oktober 1972 noch auf ein Kursplus von 100 Prozent.

Allerdings kann man mit Statistiken bekanntlich alles beweisen. Wer im März 2000 Geld in den Dax steckte, muss heute fast 70 Prozent Kursverlust verkraften. Wer 1989 in den Nikkei investierte, besitzt nur noch ein Fünftel der damaligen Summe, vom Wertverlust durch Inflation ganz zu schweigen. Und wer den Nikkei vor 20 Jahren kaufte, hat nichts verloren, aber auch nichts gewonnen. Rendite: null Komma null.

Nun mag man einwenden, diese Zeiträume seien noch zu kurz, auf wirklich lange Sicht schneide am Ende doch die Aktie am besten ab. Doch die einschlägigen Vergleiche, mit denen die Überlegenheit der Aktie bewiesen werden soll, sind perfide: Heute gibt es im Dow Jones nur noch ein Unternehmen, General Electric, das bereits vor 106 Jahren zu den damals größten Firmen Amerikas zählte, die den Index bildeten. Die anderen sind Pleite gegangen, wurden aufgekauft oder sind einfach zu unbedeutend geworden, als dass sie noch die erste Aktiengarde bildeten. Hat je jemand berechnet, wie der Renditevergleich ausgegangen wäre, hätte man noch die zwölf Dow-Gründungsmitglieder im Depot? Vielleicht. Nur hat das nie jemanden interessiert. Schon gar nicht die Apologeten der Aktie: die Banken und Fondsgesellschaften. Sie haben es mit ihrem Trommelfeuer der Renditevergleiche geschafft, die Deutschen mitzureißen.

12,9 Millionen Aktionäre und Fondsbesitzer zählte das Deutsche Aktieninstitut Ende 2001 - eine Verdopplung binnen vier Jahren. Und, noch schlimmer, die Marketingexperten haben es geschafft, dass die Deutschen ihre gesetzliche Rentenversicherung verfluchten.

Die Verheißung zweistelliger Aktienrenditen, wie sie am Ende der neunziger Jahre gang und gäbe war, hat "den kritischen Keil zwischen die Altersgruppen getrieben, die Solidarität der Jungen mit den Alten geschwächt". So formulierte es der heutige Bundesbankvorstand Hans-Helmut Kotz auf dem Höhepunkt der Hausse, im Frühjahr 2000. Die Jungen, Dynamischen und Erfolgreichen sahen sich im Alter auf der Verliererstraße. Jeden Monat bis zu 20 Prozent ihres Einkommens in die Rentenversicherung einzahlen, in der Gewissheit damit nicht annähernd eine zweistellige Rendite erzielen zu können und später auf Hunderttausende Euro verzichten zu müssen.

Doch selbst jetzt, im Aktien-Crash, scheint der Glaube an die Unschlagbarkeit der privaten Altersvorsorge mit Aktien noch ungebrochen. Noch. Aber es gibt Hoffnung, dass bald wieder Vernunft einkehrt. Und das nicht nur, weil immer mehr der einst Jungen und Erfolgreichen inzwischen zu dynamischen Arbeitslosen geworden sind, die in einem privaten Vorsorgesystem gar nichts mehr hätten, was sie einzahlen könnten, von den Traumrenditen ganz zu schweigen.

Inzwischen ist auch die letzte Bastion der Aktienwerber gefallen. Mit Fondssparplänen, so versprachen die Anlagegesellschaften, könne man gar nicht schief liegen. Denn dabei zahlt man jeden Monat die gleiche Summe ein, ganz gleich ob sich die Börse im Höhenrausch befindet oder auf Tauchstation. So erwirbt man bei tiefen Kursen viele Anteile und bei hohen Kursen wenige. Klassisches antizyklisches Verhalten. Doch jetzt hat die Interessenvertretung der Fondsgesellschaften, der Bundesverband der Investmentgesellschaften (BVI), errechnet: Selbst die Fondssparpläne haben zu viel versprochen. Wer in den vergangenen zehn Jahren jeden Monat 100 Euro in deutsche Aktienfonds investierte, hätte das Geld gleich in den Sparstrumpf stecken können. Das klügste Produkt der Aktienanlage, der Fondssparplan, ist desavouiert. Wer Monat für Monat mit 100 Euro ein Stückchen Dax kaufte, hatte Ende September die traurige Summe von 10 736,50 Euro in der Hand, eingezahlt aber hat man über die Jahre 12 000 Euro. Und das, obwohl sich der Dax in den zehn Jahren immerhin noch verdoppelt hat.

Da wird es wenig helfen, 10 Jahre als die kurze Frist zu deklarieren und auf Sparpläne zu verweisen, die 35 Jahre gelaufen sind. Denn hier beträgt die Rendite nur knapp über fünf Prozent. Ein kümmerliches Ergebnis für all jene, die an zweistellige Zuwächse geglaubt haben. Willkommen in der Realität.

Es ist richtig, dass der BVI in die Offensive geht und die Schmach thematisiert. Nur mit der ungeschminkten Wahrheit lernt das Volk der Neuaktionäre, was Langfristigkeit wirklich bedeutet: In the long run, we are all dead, meinte schon der britische Ökonom John Maynard Keynes, langfristig sind wir alle tot.

Keynes zielte während der großen Weltwirtschaftskrise in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zwar nicht auf die Marketingmaschinen der Fondsindustrie, er hatte die Anhänger unregulierter Märkte im Sinn. Ihnen hielt er vor, dass es Unternehmen und Arbeitslosen nichts bringt, wenn sie warten, bis die unsichtbare Hand des Marktes irgendwann Angebot und Nachfrage ins Gleichgewicht schaukelt. Weder Unternehmen noch Arbeitnehmer hätten die Zeit, auf den erhofften Idealzustand der Wirtschaft zu warten. Wie lange können Menschen hungern? Einen Monat, vielleicht. Und wenn sie bis dahin keinen neuen Job gefunden haben? Analog stellt sich die Frage: Was bringt es dem Anleger, dass Aktien langfristig immer die beste Geldanlage sind? Er braucht sein Geld in 20 oder 30 Jahren, aber die Statistik versteht unter langfristig vielleicht 40 oder gar 70 Jahre.

Ein Arbeitsleben ist zu kurz

Wie lange ist langfristig? Verlässliche Daten über die Entwicklung von Aktienkursen gibt es seit knapp 150 Jahren. Das ist zu kurz, um eine ehrliche Antwort auf die Frage zu finden, ab wann Aktien immer besser als alle anderen Anlagekategorien sind. Nur eines steht fest: 40 Jahre sind nicht lange genug. Viel länger arbeitet aber kaum ein Mensch in den westlichen Industrieländern.

Einer, der es genau wissen wollte, ist der amerikanische Wirtschaftsforscher Gary Burtless. Er glaubte nicht an die pannensichere Gewinnmaschine Aktienmarkt. Burtless hat für 90 Zeiträume nachgerechnet, welche Rente ein US-Bürger im Ruhestand bezogen hätte, wenn dieser 40 Jahre lang jeweils sechs Prozent seines Einkommens Monat für Monat in amerikanische Standardaktien investiert hätte. Im ersten Zeitraum hätte dieser Sparer 1871 zu arbeiten begonnen und wäre 1911 in Rente gegangen. Die am Aktienmarkt angesparte Summe hätte er beim Eintritt in den Ruhestand verrentet, also in Anleihen umgeschichtet, und dann als monatliche Summe bis zum 80. Lebensjahr aufgebraucht.

Burtless hat seine Untersuchung so realitätsnah wie möglich angelegt. Er hat Stundenlöhne, Zinssätze von Staatsanleihen, Inflation, Dividenden und Kursschwankungen berücksichtigt. Sein Ergebnis spricht sogar für die Aktienanlage, allerdings nur im Durchschnitt. Mit keiner anderen Anlage wurde über alle Jahrgänge hinweg eine höhere Rente erwirtschaftet. 7 Prozent pro Jahr brachten amerikanische Aktien im vergangenen Jahrhundert, Anleihen dagegen nur 1,6 Prozent. Im Durchschnitt der 90 berechneten Zeiträume konnte man mit 52 Prozent des letzten Lohnes den Ruhestand genießen. Das lässt sich sehen. Am besten hatte es der Jahrgang, der Ende 1999 aus dem Berufsleben ausschied. Diese Aktiensparer hätten 110 Prozent des letzten Gehaltes als monatliche Rente bekommen.

Wer dagegen 1921 das letzte Mal arbeiten gegangen wäre, hätte nur 20 Prozent des letzten Einkommens ausbezahlt bekommen. Ruheständler des Jahres 1969 hätten so viel Rente bezogen, wie sie zuletzt verdienten, sechs Jahrgänge später wäre es weniger als die Hälfte gewesen. Ist es sinnvoll oder gerecht, dass die Altersversorgung derart von den Launen des Aktienmarktes abhängig ist? Und was passiert, wenn Burtless' hypothetische Menschen älter als 80 Jahre werden? Dann haben sie ihr Vermögen aufgebraucht.

Auf all diese Fragen hat die gesetzliche Rente eine einfache Antwort: Die Jungen zahlen für die Alten. Zwar steht auch hier nicht fest, wie viel sie zahlen, und kein Rentner besitzt eine Garantie, dass er das herausbekommt, was er eingezahlt hat. Dafür weiß jeder Sozialversicherte, dass er genug zum Leben haben wird; dass seine Frau und die Kinder unterstützt werden, wenn er noch im Arbeitsleben stirbt; dass er 100 Jahre und älter werden kann und trotzdem noch Rente bezieht. Die Kritiker wenden ein, dass die staatliche Rente spätestens in 25 Jahren, wenn die geburtenstarken Jahrgänge in Pension gehen, nicht mehr finanzierbar ist. Das ist aber noch kein Argument für eine ausschließlich private Vorsorge.

Vernünftiger und realistischer sind Kompromisse: Die Alten müssen länger arbeiten, die Jungen mehr zahlen, und der Staat verschuldet sich für eine gewisse Periode stärker. Das spricht nicht gegen den behutsamen Einstieg in die private Altersversorgung, nicht gegen ein Mischsystem mit einem starken gesetzlichen Anteil und einem kleinen privaten. Immerhin gibt es die berechtigte Vermutung, dass die demografische Schieflage in Deutschland extremer ist als in anderen Industrieländern.

Genauso kann niemand raten, von Aktien ganz die Finger zu lassen. Schon zur Risikostreuung gehören sie in jedes Portfolio. Aktien schützen vor den Folgen einer Hyperinflation, die, rein statistisch betrachtet, eineinhalb Mal in 100 Jahren Sparvermögen wie Festgeld oder Anleihen vernichtet. Und Aktien sind das einzige Vehikel, um an der Gewinnentwicklung einer Volkswirtschaft zu partizipieren. Alles gute Gründe für die schwankungsanfällige und daher risikoreiche Anlageform. Aber kein Freibrief, alles auf diese Anlageform zu setzen - schon gar nicht das Geld, das den Lebensabend absichern soll.

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