innenansichten des
kapitalismus aus "39,90",
Frederic Beigbeder, Paris, 2000
1
Alles ist vorläufig:
die Liebe, die Kunst, der Planet Erde, Sie, ich. Der Tod ist so
unabwendbar, dass er jeden überrascht. Dieser Tag könnte
der letzte sein, wer weiß. Man denkt, man hat Zeit. Dann
ist es auf einmal aus und man geht unter, Ende der Regelzeit. Der
Tod ist der einzige Termin, der nicht in Ihrem Organizer steht.
Alles ist käuflich:
die Liebe, die Kunst, der Planet Erde, Sie, ich. Ich schreibe
dieses Buch, um gefeuert zu werden. Wenn ich selbst gehe, gibt es
kein Geld. Ich muss den Ast absägen, auf dem* mein Komfort
sitzt. Meine Freiheit heißt Arbeitslosenversicherung. Ich
werde lieber von einer Firma entlassen als vom Leben. DENN ICH
HABE ANGST. Um mich herum sterben die Kollegen wie die Fliegen:
Herzschlag im Schwimmbad, Myokardinfarkt als Legende für
eine Überdosis Kokain, Absturz mit dem Privatiet,
Karambolage mit dem Kabriolett. Heute Nacht bin ich im Traum
ertrunken. Ich sah, wie ich sank und Mantarochen streichelte, die
Lunge voll Wasser. Aus weiter Ferne rief eine hübsche Dame
vom Strand nach mir. Ich konnte nicht antworten, weil ich
Salzwasser im Mund hatte. Ich ging unter, rief aber nicht um
Hilfe. Und allen, die im Meer schwammen, ging es genauso. Sie
sanken, ohne um Hilfe zu rufen. Ich glaube, es ist Zeit zu gehen,
ich kann mich nicht mehr treiben lassen.
Alles ist vorläufig,
alles ist käuflich. Der Mensch ist eine Ware wie alle
anderen, er hat ein Verfallsdatum. Deshalb bin ich ent schlossen,
mit 33 abzutreten. Offenbar das ideale Alter für ein
Wiederauferstehuniz.
...
4
Grob gesagt bestand
ihr Vorhaben darin, die Wälder zu vernichten und durch Autos
zu ersetzen. Das war kein bewusster, durchdachter Plan, viel
schlimmer: Sie hatten keine Ahnung, wohin, aber sie gingen
pfeifend ihres Wegs - nach ihnen die Sintflut (vielmehr der saure
Regen). Zum ersten Mal in der Geschichte des Planeten Erde hatten
die Menschen aller Länder dasselbe Ziel: genug Geld zu
verdienen, um wie die Werbung zu werden. Alles andere war
sekundär, sie würden ja nicht mehr da sein, wenn es
darum ginge, die Konsequenzen zu tragen.
Eine kleine
Klarstellung: Ich werde hier keine Selbstkritik üben und
keine öffentliche Psychoanalyse betreiben. Ich schreibe eine
Beichte, abgelegt von einem Kind dieses Jahrtausends. Und wenn
ich den Begriff «Beichte» verwende, dann im
katholischen Sinne des Wortes. Bevor ich mich aus dem Staub
mache, will ich meine Seele retten. Denn es wird Freude im Himmel
sein über einen Sünder, der Buße tut, vor
neunundneunzig Gerechten, die der Buße nicht bedürfen
(Lukas 14.15). Der Einzige, mit dem ich noch einen unbefristeten
Vertrag abschließe, ist Gott.
Es soll nicht in
Vergessenheit geraten, dass ich versucht habe, Widerstand zu
leisten, selbst wenn ich wusste, dass schon die Teilnahme an
ihren Besprechungen Kollaboration war. Setz dich in diesen
morbiden klimatisierten Marmorsälen an ihren Tisch, und du
wirkst an der allgemeinen Enthirnung mit. Ihr Kriegsvokabular
verrät sie: Sie reden von Target, Strategie, Zielkorridor.
Sie erobern und besetzen den Markt. Sie fürchten fel .
ndliche Übernahmen und die Kannzbalisierung. Ich habe
gehört, dass sie bei Mars (dem Schokoriegelfabrikanten mit
dem Namen des Kriegsgotts) das Jahr in zwölf vierwöchige
Perioden einteilen; sie sagen nicht erster April, sondern P4 Si!
Das sind die Soldaten, die den Dritten Weltkrieg führen.
Gestatten Sie mir, daran zu erinnern, dass die Werbung als
Technik der zerebralen Vergiftung zwar schon 1899 von dem
Amerikaner Albert Davis Lasker erfunden wurde, aber erst in den
3oer Jahren des 2o. Jahrhunderts ihren höchsten Wirkungsgrad
erreichte, als sie von einem gewissen Joseph Goebbels, der das
deutsche Volk überzeugen wollte, alle Juden zu vernichten,
zur Vollendung geführt wurde. Goebbels war ein großer
Texter: «DEUTSCHLAND ÜBER ALLES», «EIN
VOLK, EIN REICH, EIN FÜHRER», «ARBEIT MACHT
FREI» ... Denken Sie immer daran: Mit Werbung spielt man
nicht.
Es besteht kein
allzu großer Unterschied zwischen konsumieten und
liquidieren.
Eine Weile lang
dachte ich, ich könnte das Sandkorn im Getriebe sein. Der
Rebell im noch fruchtbaren Schoß der Bestie; ein
erstklassiger Soldat in der Infanterie des Global Marketplace.
Ich sagte: «Man kann kein Flugzeug entführen, ohne
einzusteigen, man muss die Dinge von innen verändern, wie
Gramsci sagte.» (Gramsci macht mehr her als Trotzki,
predigt aber denselben Entrismus. Ich hätte genauso gut Tony
Blair zitieren können oder Daniel Cohn-Bendit.) Das half
mir, die Dreckarbeit zu erledigen. Die 68er haben mit der
Revolution angefangen und sind dann in die Werbung gegangen - ich
wollte es umgekehrt machen. Ich sah mich als eine Art liberalen
Che Guevara, einen Revoluzzer in Gucci. Ha, ich war Subcomandante
Gucche! Viva el Gucche! Exzellente Marke. Ausgezeichneter
Erinnerungswert. Aber zwei Probleme auf der Perzeptionsebene:
1) Hört sich an
wie «Duce».
2) Der größte
Revolutionär des 2o. Jahrhunderts ist nicht Che Guevara,
sondern Michail Gorbatschow.
Wenn ich abends nach
Hause kam, in mein riesiges Appartement, konnte ich manchmal
nicht einschlafen, weil ich an die Obdachlosen denken musste. In
Wahrheit hielt das Kokain mich wach. Der metallische Geschmack
stieg mir die Kehle hoch. Ich masturbierte am Waschbecken und
schluckte eine Stilnox. Ich wachte um die Mittagszeit auf. Ich
hatte keine Frau mehr.
Im Prinzip, glaube
ich, wollte ich in meiner Umgebung Gutes tun. Das ging aus zwei
Gründen nicht: weil ich daran gehindert wurde und weil ich
aufgegeben habe. Es sind immer die Menschen mit den besten
Absichten, aus denen am Ende Monster werden. Heute weiß
ich, dass nichts sich ändern wird, ausgeschlossen, es ist zu
spät. Gegen einen allgegenwärtigen, virtuellen und
unverletzbaren Gegner kann man nicht kämpfen. Im Gegensatz
zu Pierre de Coubertin meine ich, dass das Entscheidende heute
die Nichtteilnahme ist. Am besten wäre es, einfach zu
verschwinden wie Gauguin, Rimbaud oder Castaneda. Auf eine
einsame Insel, mit Angelica, die Öl auf die Brüste von
jullana träufelt, die an deinem Schwengel pumpt. Marihuana
im Garten zu pflanzen und darauf zu hoffen, dass man stirbt,
bevor die Welt untergeht. Die Marken haben den World War 111
gegen die Menschen gewonnen. Das Besondere am Dritten Weltkrieg
ist, dass ihn alle Länder gleichzeitig verloren haben. Ich
hätte da einen Scoop für Sie: David kann Gohath nicht
schlagen. Ich war naiv. Und die Einfalt ist eineTugend, die in
dieser Zunft nicht gebraucht wird. Ich habe mich ziemlich übers
Ohr hauen lassen. Das ist übrigens das Einzige, was ich mit
Ihnen gemeinsam habe.
...
9
Zu jener Zeit
bepflasterte man Wände, Haltestellen, Häuser, Straßen,
Taxis, Lastwagen, Gebäudefassaden während der
Renovierung, bewegliche Gegenstände, Aufzüge und
Fahrkartenautomaten mit gigantischen Fotos von Produkten,
überall, sogar auf dem Land. Das Leben war überwuchert
von Büstenhaltern, Tiefkühlkost, Antischuppenshampoos
und Nassrasierern mit Dreifachklinge. Noch nie in seiner
Geschichte war das menschliche Auge so gefordert: Man hatte
errechnet, dass jeder Mensch bis zum 18. Lebensjahr
durchschnittlich 350 000mal der Werbung ausgesetzt war. Sogar an
den Säumen der Wälder, an den Rändern kleiner
Dörfer, in den Sohlen einsamer Täler und auf den
Gipfeln verschneiter Berge, wo die Logos von den Kabinen der
Seilbahn lachten: «Castorama», «Bricodecor»,
«Champion Midas». Keine Pause für den Blick des
Homo consumans.
Auch die Stille
begann zu schwinden. Da war kein Entkommen zwischen Radios,
flimmernden Fernsehschirmen und schrillen Clips, die bald bis in
die Privatgespräche vordringen sollten. Das war das neue
Pauschalangebot von Bouygues Telecom: Gratis telefonieren gegen
Werbeeinschaltungen im iooSekunden-Takt. Stellen Sie sich vor:
Das Telefon klingelt, ein Polizist teilt Ihnen mit, dass Ihr Kind
bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist, Sie brechen in
Tränen aus, und am anderen Ende der Leitung singt eine
fröhliche Stimme: "Mit Carrefour fahr ich gut.»
Fahrstuhlmusik überall, nicht nur in Aufzügen.
Handy-Gedudel in den Zügen, in den Restaurants, in den
Kirchen, sogar die Benediktinerklöster waren gegen die
Kakophonie der Umwelt nicht gefeit. (Ich weiß das: habs
überprüft.) Nach der oben erwähnten Studie war der
durchschnittliche Westeuropäer 4000 Werbebotschaften pro Tag
unterworfe n.
Die Menschen saßen
in Platos Höhle. Im Gleichnis des griechischen Philosophen
waren die Menschen in einer Höhle angeschmiedet und sahen an
der Wand ihres Gefängnisses die Schatten der Wirklichkeit
vorüberziehen. Nun gab es die platonische Höhle,
Fernsehen genannt, wirklich. Auf unserem Kathodenschirm konnten
wir eine «Canada Dry»-Realität bewundern: Das
sah aus wie die Wirklichkeit, hatte die Farben der Wirklichkeit,
aber es war nicht die Wirklichkeit. Man hatte den Logos durch
Logos ersetzt, die an die feuchten Wände unserer Grotte
projiziert wurden.
Zweitausend Jahre
hat es gedauert, bis es so weit war.
Bemerkung: Kann sein,
dass Rowohlt selbst das auszugsweise Online-Stellen dieser
Passagen gar nicht mag. Aber ich habe Frederic Beigbeder nur beim
Wort genommen. Als ich ihn bei seiner Lesung in Hamburg fragte,
ob er etwas dagegen habe, wenn ich seinen Text für lau ins
Netz stelle - schließlich sei das die konsequenteste
Verweigerung der Kommerzialisierung -, meinte er nur lächelnd:
"Do it. Fuck the publishers".
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