schrottreife stabilität
Robert von Heusinger, Frankfurt, und Petra Pinzler, Brüssel, Juli 2004

Der Stabilitätspakt in EUROland ist tot: In Brüssel leugnet inoffiziell niemand mehr, dass seine rigiden Vorgaben zur Führung der Staatshaushalte das europäische Wirtschaftswachstum massiv behindert. Die Lösung? Eine neue und gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik für die EU.

Die Richter haben geurteilt, die Juristen gedeutelt und die Ökonomen debattiert. Doch ausgerechnet ein Politiker sagt an dem Tag, an dem der Europäische Gerichtshof sein Urteil zum Stabilitätspakt verkündet, den entscheidenden Satz: "Wenn ich Präsident werde, dann werde ich den Stabilitätspakt durch Maßnahmen für mehr Wachstum ergänzen." Knapp und klar formulierte José Manuel Barroso, der künftige Chef der EU-Kommission, am 13. Juli, was er vom Regelwerk der Europäischen Währungsunion tatsächlich hält: Dieser Pakt hat seine Zukunft schon hinter sich – Gerichtsurteil hin oder her.

Der Portugiese Barroso sprach am vergangenen Dienstag aus, was immer mehr Ökonomen denken: Schon in den ersten Jahren Eurolands hat der Stabilitätspakt seine Schwächen offenbart. Er ist schlecht formuliert, mehrdeutig und teilweise realitätsfremd. So zielt denn der Streit um die Paragrafen des Vertragswerks an den wahren Problemen der Euro-Zone vorbei. Längst knirscht die ganze Konstruktion der Wirtschafts- und Währungsunion: Weder arbeiten die Finanzminister zusammen noch die nationalen Regierungen mit der EU-Kommission in Brüssel. Auch der Dialog der Euro-Finanzpolitiker mit der Europäischen Zentralbank (EZB) findet de facto nicht statt.

Für Europas Bürger hat das Versagen von Europas Institutionen ganz konkrete Folgen: Keine Wirtschaftsregion der industrialisierten Welt wächst langsamer als Euroland, nirgendwo entstehen weniger neue Jobs.

Arbeitslosigkeit als Folge der Währungsunion? Zumindest wächst von Monat zu Monat die Zahl der Kritiker, die der falsch konstruierten Währungsunion wenigstens eine Mitschuld an der permanenten Wachstumsschwäche Europas geben. Erst am vergangenen Freitag schlugen die Euroland-Volkswirte der Deutschen Bank Alarm: Ohne eine bessere Kooperation von Geld- und Fiskalpolitik, so die Studie, drohe der wirtschaftlichen Erholung erneut der Garaus.

"Da muss sich etwas ändern", heißt es inzwischen selbst in der Brüsseler EU-Kommission, in manchem nationalen Finanzministerium oder auf dem ein oder anderen Flur der EZB. Deshalb setzen jetzt so unterschiedliche Beteiligte wie der französische Finanzminister Nikolas Sarkozy, der spanische EU-Kommissar Joaquín Almunia oder die österreichische EZB-Direktorin Gertrude Tumpel-Gugerell auf ein Mittel, das unter orthodoxen deutschen Volkswirten als Teufelszeug gilt: auf wirtschaftspolitische Koordination.

Nikolas Sarkozy ist als Populist bekannt. Als solcher geht er nun besonders weit und fordert gleich eine europäische Wirtschaftsregierung. Andere hoffen auf einen Brüsseler Superkommissar für Wirtschaft oder einen "Mr Euro", als Chef der Euro-Gruppe und Ansprechpartner der EZB. Alle aber wollen die Wirtschafts- und Währungspolitik besser verzahnen. Und der Stabilitätspakt? Eigentlich war genau dieses Regelwerk einst als Koordinierungsinstrument der Fiskalpolitik beworben worden. Zumindest EU-Kommission und EZB verkündeten das gern. In Wirklichkeit aber habe der Stabilitätspakt "mit finanzpolitischer Strategie nichts zu tun", kritisiert der Bonner Ökonom Jürgen von Hagen. So lebe die Europäische Währungsunion heute zwar mit einer einheitlichen Geldpolitik für den gesamten Wirtschaftsraum, leide aber zugleich unter zwölf nationalen Wirtschafts- und Fiskalpolitiken. "Und niemand fragt, was unsere Finanzpolitik für uns alle zusammen bedeutet", moniert von Hagen.

Tatsächlich haben die Schöpfer des Paktes zu kurz gedacht: Ganz von selbst, so ihre Hoffnung, würde Europas Wirtschaft in einer Währungsunion genesen. Eine einfache Regel, in europäisches Recht gegossen, sollte die Regierungen – vor allem die abschätzig "Club Med" genannten Länder Italien, Portugal und Spanien – am Schuldenmachen hindern. Die Kommission in Brüssel wiederum sollte die neue Sparsamkeit überwachen und der EZB den nötigen Spielraum für niedrige Zinsen verschaffen. Auf dass Euroland wachse und gedeihe.

Doch als Eurolands Wirtschaft einbrach, immer mehr Regierungen mit den Kürzungen ihrer Sozialhaushalte nicht hinterherkamen und folglich die Budgetdefizite wucherten, verstießen gleich mehrere Länder gegen die Buchstaben des Paktes: erst Portugal, dann Deutschland, Frankreich, Italien und die Niederlande. Die EU-Kommission verschickte blaue Briefe, murrte, mahnte, bis man sich schließlich in einen absurden Kleinkrieg darüber verwickelt hatte, wie denn nun die Regel des Paktes auszulegen sei, wonach ein Budgetdefizit nicht größer sein dürfe als drei Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts.

"Ohne den Pakt wären die Defizite viel höher", heißt es in der EU-Kommission zwar heute noch. Aber so vehement wie früher verteidigt auch Brüssel die Buchstaben des Regelwerkes nicht mehr. "Unsere Politik muss vorausschauender werden", meint der neue Wirtschafts- und Währungskommissar Joaquín Almunia selbstkritisch. Im Klartext heißt das: Immer nur mahnen und strafen reicht nicht. Denn bis heute entscheidet trotz aller Brüsseler Briefe jeder nationale Finanzminister allein, wie er seinen Haushalt steuert – mal sparsam, mal ausgabenfreudiger, insgesamt jedoch mit bitteren Folgen für alle.

Auch die Notenbanker müssen umdenken. Als Hüterin der Preisstabilität kann sich die EZB zwar gegen spendable Finanzminister wehren: mit hohen Zinsen. Dass sie so aber die sparsamen Regierungen straft und der lahmenden Wirtschaft die Genesung erschwert, galt bisher als Kollateralschaden. Der erste EZB-Präsident Wim Duisenberg schob den schwarzen Peter grundsätzlich den nationalen Finanzministern zu. Wenn die nur genug sparten…

Jean-Claude Trichet, der jetzige Chef der Notenbank, gibt sich da kooperationswilliger. Doch der Franzose ist nur einer unter vielen. Als Trichet Anfang April die Zinsen senken wollte und es im EZB-Rat zum Schwur kam, wurde er von seinen Kollegen zurückgepfiffen, allen voran vom deutschen Chefvolkswirt der EZB, Otmar Issing. Mit einer Zinssenkung hätte die Notenbank den nationalen Regierungen etwas Luft für die schmerzhaften Strukturreformen verschafft. Doch die Hardliner um Issing fürchten: Mehr Kooperation bedeutet weniger Unabhängigkeit für die Notenbank. In dieser Anschauung sorgt nicht Kooperation für Wachstum, sondern allein Preisstabilität.

Diese Haltung findet immer weniger Anhänger, selbst in Deutschland. Einer der Abtrünnigen ist Thomas Mayer, Chefvolkswirt der Deutschen Bank für Euroland. Mayer spricht das K-Wort offen aus. Die EZB müsse über ihren Schatten springen und "staatsbürgerliche Verantwortung übernehmen", sagt der Ökonom. In England etwa treffen sich Finanzminister und Notenbankpräsident jede Woche und diskutieren die großen Wirtschaftsfragen, loten Spielräume aus – zum Wohl der Konjunktur. In Amerika ist das nicht anders. Nur in Euroland haben sich die deutschen Traditionalisten bislang durchgesetzt. Doch hat das Modell Deutschland nicht auch in anderen Bereichen ausgedient?

"Wer von Koordination nichts wissen will, sagt damit, dass das einzige gemeinsame Ziel der Wirtschaftspolitik in Euroland Preisstabilität sein soll", kritisiert der Bonner Ökonom Jürgen von Hagen. Andere Makrogrößen wie Vollbeschäftigung, Wirtschaftswachstum, stabile Wechselkurse und Außenhandelsgleichgewicht würden damit automatisch klein geschrieben.

Die Wirtschaft Eurolands hätte sich zuletzt besser geschlagen, wenn die Verantwortlichen ihr Vorgehen von vornherein abgestimmt hätten, glaubt Jean Pisani-Ferry, Professor an der Pariser Universität Dauphine und einer der makroökonomischen Vordenker Eurolands. Im Abschwung "war die Finanzpolitik etwas zu restriktiv", sagt Pisani-Ferry. Und im Wirtschaftsaufschwung der ersten Euro-Jahre hätten die Finanzminister prozyklisch agiert und Konjunkturtrends verstärkt, anstatt sie zu glätten. Unter Makroökonomen gilt dieses Urteil als vernichtend.

Der Vorschlag des Franzosen: Alle Beteiligten – Minister, Banker und Kommissare – sollten sich auf folgende Regeln einigen: Kommt es in der Wirtschaft zu einem "Schock" (so nennen Volkswirte ein Ereignis, das die Marktwirtschaft in Ungleichgewicht bringt) und betrifft dieser Schock ganz Euroland, ist die Notenbank gefordert. Sie muss nach dem Platzen einer Spekulationsblase am Aktienmarkt oder in einem globalen Konjunkturabschwung die Zinsen senken. Kommt es zu nationalen Schocks, müssen die jeweiligen Finanzminister ran. Überhitzt sich der Immobilienmarkt, wie derzeit in Spanien, soll Finanzminister Pedro Solbes mehr sparen. Steigen die Realzinsen unerwartet stark, wie etwa in Deutschland, soll Hans Eichel mehr Geld ausgeben. "Dafür", so Pisani-Ferry, "braucht man keine starren Regeln, sondern menschliches Urteilsvermögen."

Gründe für mehr wirtschaftspolitische Koordinierung innerhalb Eurolands gibt es genug. Zum Beispiel die aktuellen Reformen am Arbeitsmarkt in Deutschland. Obwohl HartzIV langfristig gut für die Ökonomie sein soll, drückt die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe kurzfristig das Wirtschaftswachstum. Ein Problem, das so ähnlich alle Reformländer haben. Könnten die Finanzminister nun aber die Notenbanker frühzeitig vom Ernst ihrer Reformpolitik überzeugen, könnten diese – in der Welt der Kooperation – eine lockerere Geldpolitik betreiben, als unter normalen Umständen angemessen wäre, und mit niedrigen Zinsen die Wachstumsdelle ausgleichen.

Noch ist das Zukunftsmusik. In der Gegenwart aber denken die Finanzminister bereits darüber nach, wie sie den vertraulichen Dialog untereinander und mit der Zentralbank organisieren könnten. Sie setzen auf Mr Euro, den künftigen Chef der Euro-Gruppe. Dessen Amt wollen sie im Herbst schaffen, und einen heimlichen Kandidaten gibt es schon: Jean-Claude Juncker, Luxemburgs Ministerpräsidenten.

Auch Währungskommissar Almunia wird über den Sommer an Vorschlägen für eine bessere Koordinierung arbeiten. Die "Koordinierung der Kalender" wolle man vorantreiben, heißt es in Brüssel. Das beweist allerdings auch, auf welch niedrigem Niveau Europa zusammengebastelt werden muss. Bisher stellt jedes Land seinen Haushaltsplan national auf – ohne Rücksicht auf die Nachbarn oder auf Brüsseler Ideen.

Almunia weiß, dass er das nicht gleich morgen wird ändern können. Doch wie den meisten anderen Freunden des K-Wortes ist auch dem Spanier klar: Es muss sein – früher oder später. Denn bis heute hat keine Währungsunion überlebt, wenn sie nicht gleichzeitig durch eine politische Union ergänzt wurde. Immer scheiterte man an Egoismen der Finanzminister, die zulasten der anderen Staaten Wachstumsvorteile für ihr Land erzielen wollten – in der nordischen Münzunion (1872) genauso wie in der lateinischen (1860 bis 1914).

Vier der zwölf Euro-Länder waren übrigens schon bei der lateinischen Münzunion mit von der Partie: Frankreich, Italien, Belgien und Griechenland. Ihre Politiker sollten einmal die heimischen Wirtschaftshistoriker kontaktieren.

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