kapitalismus-analyse 1.1
Stand: April 2002. Erarbeitet von: Moritz Avenarius (mo), Niels Boeing (nbo), Carolin Gerbaulet (Carolin), Robert von Heusinger (heu), Ulrike Heike Müller (ulm), Hans-Jörg Naumer (hjö), Uwe Richter (uwe), Harald Simons (ha), Knut Stahrenberg (sta), Justin Stauber (jus). Zusammengeschrieben von Niels Boeing, April 2002

Rekapitulation des ersten Treffens
Profitmaximierung und Geldvermehrung
Analyse der Globalisierung
Annäherung, kulturell, ökonomisch, militärisch,
politisch, Fazit
Probleme und Strategien
Anhang: "Zeitskalen-Ansatz" und "Spielfiguren in der Globalisierung"

1 Rekapitulation des ersten Treffens

Konstituenten des Kapitalismus
Geld (beinhaltet notwendigerweise Zins und Zukunftsvertrauen), Markt, Privateigentum (NICHT: Besitz), institutionelle Ordnung (z.B. Staat).
Akkumulation ist nur eine Folge der sich daraus ergebenden Dynamik.
Wettbewerb ist Eigenschaft des Marktes, die durch das Zusammenspiel der Konstituenten behindert oder unterlaufen wird.
Der Markt ist zunächst selbstorganisiert (historisch: z.B. an Kreuzungen von Fernstraßen), später organisiert, indem gewisse Regeln kodifiziert werden.
Der Markt kennt andere ökonomische Ziele als Profitmaximierung, der Kapitalismus dagegen nur dieses (jus).

Fehlfunktionen des Kapitalismus
Wichtige Unterscheidung:
- Marktversagen (im Sinne der Marktlogik) = "keine effiziente Nutzung ökonomischer Ressourcen"
- "Unerwünschte Marktergebnisse" gemessen an äußeren Zielen. Beispiel: Der Arbeitsmarkt ist vollkommen effizient und setzt alle in Arbeit, aber der Mehrwert, den einige erwirtschaften, sichert nicht einmal ihr Existenzminimum (McJobs). Hier hat der Markt im ökonomischen Sinne nicht versagt, die Situation kann aber trotzdem nicht hingenommen werden (ha).
Die Ergebnisse des ersten Treffens verteilen sich dann wie folgt:

Marktversagen Unerwünschte Ergebnisse
- Ausschaltung des Wettbewerbs durch Monopolbildung
- Blindheit gegenüber externen Kosten
- Vorfinanzierung von Ausbildung (durch Studienkredite) funktioniert nicht immer. In den USA wurde dies durch Bürgschaften für Studienkredite gelöst
- Überkapazitäten beim Aufbau von Infrastrukturen, z.B. 3 UMTS-Netze statt einem
- Wettbewerb am Arbeitsmarkt garantiert kein Existenzminimum
- unzumutbare Verschärfung von Verteilungskämpfen in den Bereichen Rente, Arbeit, Gesundheit sowie zwischen Nord und Süd im globalen Maßstab. Diese Formulierung haben wir gewählt, weil Verteilungskämpfe an sich in allen Epochen und Systemen auftraten

"Ideales" Mindset und kulturelle Voraussetzungen Kapitalismus
a) Individuum:
- Verständnis für Eigentum
- Offenheit und Bewusstsein für die Zukunft
- hohe Selbstwertschätzung, Einstehen für individuelle Ziele, Selbsterantwortung, Bereitschaft zur Freiheit
Begleitend: Arbeitsethos
b) Unternehmen
"Unternehmen brauchen kein Mindset, die stehen im Schuldendruck" (heu).

Welche Rolle spielt das Spannungsfeld aus gegenwartsbezogenem Konsum und zukunftsbezogenem Sparen/Investieren?
Aus Hedonismus und Protestantismus?
Y = C + I bedeutet: Bruttosozialprodukt = Konsum + Investition(/Sparen)
Konsumbeschränkung kann kurzfristig wachstumshemmend wirken (ha).

Ex negativo: Gibt es inkompatible Eigenschaften?
Bescheidenheit (sta), Genügsamkeit. Das frisst das Wachstum an.

Warum?
Kleiner Exkurs in die Geldtheorie von Heinsohn und Steiger durch heu und nbo. Kurz gesagt: Wachstum = Realzins. Um den zu erzielen, darf der Konsum nicht abreißen.
ha ist nicht überzeugt.

Gibt es eine Wachstumsgrenze?
Zwang zum Wachstum doppelt:
1. immanenter Zwang durch Druck der Schuldenpyramide (s.o.) als Minimalrate
2. darüberliegende nötige Wachstumsrate wird bedingt durch Bevölkerungswachstum und sich drehende Alterspyramide

Hilft Produktivitätswachstum dem Wachstum immer auf die Füße?
Oder gibt es Rezessionen trotz Produktivitätswachstum?
Konsens: Nachfrage unabdingbar. Frei nach Keynes: "Baut Pyramiden" (Arbeitsprogramme finanziert über Steuererhöhungen).

Konsumverweigerung im großen Maßstab ist im Kapitalismus inakzeptabel, da systembedrohend (nbo).
Grenze der Produktivitätssteigerung durch technische Limits oder Ressourcenbeschränkung.


2 Profitmaximierung und Geldvermehrung

Woher kommt Profitmaximierung?
Durch Zinsdruck = Kapitalkosten = Rückzahlung der Vorfinanzierung (nbo). Profitmaximierung ist abgeleitet von der Nutzenmaximierung der Individuen: Diese haben ihre persönliche Nutzenmaximierung an Unternehmen delegiert (ha).
Dritter Ansatz: Risikominderung - da ich nicht weiß, wie lange ich mit meinen Ressourcen bis zur nächsten Wertschöpfung durchhalte, hole ich aus der gegenwärtigen lieber das Maximum raus.
Synthese: Nutzenmaximierung und Ressourcenbeschränkung = Maximierungsbestreben.

Wie wird Kapital vermehrt?
Große Diskussion um den Unterschied zwischen dem Horten und dem Sparen von 100 Mark:

Sparen: Zentralbank <=> 100-Mark-Besitzer <=> Geschäftsbank
Horten: Zentralbank <=> 100-Mark-Besitzer

Der Sparer ermöglicht der Geschäftsbank, die 100 Mark weiter zu verleihen, also die umlaufende Geldmenge zu erhöhen, um weiteren Konsum/Produktion zu finanzieren (nbo).
Nein, das stimmt nicht (ha). Denn die Geldschöpfung ist begrenzt durch Gegenwert der Güter = Realer Geldwert. Übersteigt der nominale Geldwert den Realen, herrscht Inflation.
Beides lässt sich über die „Cambridge-Identität“ verbinden.

Die Cambridge-Identität besagt:
Geldbestand x Umlaufgeschwindigkeit = Bruttosozialprodukt x Preisniveau
Bezogen auf das Rätsel Sparen vs. Horten heißt das, dass der Sparer mit der Einlage der 100 Mark bei der Geschäftbank die Umlaufgeschwindigkeit erhöht und damit entweder BSP oder Preisniveau.

Kapitalvermehrung durch Aktienbewertung?
Nur auf dem Papier
a) Verkaufen höherbewerteter Aktien macht diesen Effekt über die Asset Price Inflation zunichte
b) Halten höherbewerteter Aktien kann zwar Sicherheit für neue Kredite sein. Aber kaum eine Bank wird sich darauf einlassen. Deshalb ist diese Auswirkung eher unerheblich (Anmerkung nbo: Trotzdem müsste man mal checken, ob in der New Economy Blütezeit z.B. in Kalifornien auf dieser Grundlage Kredite in irgendeiner Form gewährt wurden, und wenn nur über Mietsteigerungen für Leute mit hochbewerteten Aktien).


3 Analyse der Globalisierung

3.0 Annäherung

Zwei Ansätze,
um den Globalisierungsprozess zu systemetasieren (nbo):
- „Zeitskalen-Ansatz“ (siehe Anhang 1)
- "Spielfiguren" der Globalisierung und ihre möglichen Züge (siehe Anhang 2)

These und Antithese
Gut an der Globalisierung ist das Aufbrechen geschlossener/ vermachteter/ kartellisierter Märkte mit positiven Preiseffekten für die Konsumenten (ha).
Die Globalisierung lässt die Einkommensschere weiter auseinanderklaffen (ulm).
Das würde erklären, dass die Globalisierunsdebatte Ende der 90er so an Schärfe gewonnen hat.
Nein: Ökonomisch ist die Welt nicht so anders als vor 30 Jahren - was transportierbar war, wurde schon damals um den Globus transportiert (ha). Neu ist: Organisationskonzepte werden in andere Kulturen transportiert (ha). Das funktioniert aber nicht immer, wie Walmarts Misserfolg in Deutschland zeigt.

Weiterer Faktor ist psychologisch:
Die Angst der Globalisierung resultiert aus den Drohungen der Unternehmen, sich der Anpassung nicht zu verweigern.
„Dieselben Schönwetterpolitiker und Entertainer der Management-Philosophie, die hinsichtlich der Globalisierung in einer Rhetorik des Optimismus und der Chancen schwelgen, strafen sich mit unbewußter Ehrlichkeit selber Lügen, wenn sie die anzustrebende Verwirklichung dieser ‘Chancen’ in Begriffen eines Weltkriegs darstellen und damit statt eines zukunftsfreudigen Optimismus das gesellschaftliche Angstpotential wecken“ (Robert Kurz in "Marx lesen im 21. Jahrhundert", Eichborn 2000, S. 320).

Welche Märkte haben sich in den 90ern globalisiert?
Finanzmärkte. Mit Abstrichen: Telekommunikation/IT, Energie.

Frankel-These:
1914 war die Welt bereits erheblich globalisiert und erreichte diesen Zustand erst wieder 1970.
Unsere Skepsis: kulturelle Dimension fehlt; Globalisierung spielte sich vor allem innerhalb der Kolonialreiche ab (mehrere "parallele Halb-Globalisierungen", nbo)

Deshalb ist eine Analyse der Globalisierung unter 4 Aspekten nötig: kulturell, ökonomisch, militärisch, politisch.

3.1 Kulturell

- Zunahme der Kommunikationsgeschwindigkeit. Gleichzeitigkeit und Nähe von Bildern und Informationen (mo).
- Wertewandel in lokalen Kulturen: Verlust des Alten, Nivellierung, Amerikanisierung vs. Aufbau von Neuem, transversale neue Kulturen wie Jugendsubkulturen und Generationenkonflikte (nbo).
Werteauseinandersetzung führt zu neuer Vielfalt (mo).
Widerspruch: Welchen Einfluss hat die "G1" USA wirklich? Gibt es auch kulturelle Adaptionen anderer Kulturen in den USA? (ulm, heu)
Es gibt einen "Nettoverlust an Vielfalt" (sta).

Dazu muss eine Frage beantwortet werden:
Wie wird eine Kultur verbreitet, auf welchen Kanälen?
Wird die US-Kultur mit Kapital in andere Kulturen hineingedrückt?
Beispiel Cola: Unterschied zwischen Cola-Import in Limo-freie Märkte oder solche mit einheimischen Limos wie Peru (Inca Kola)? Ja (nbo). Nein (ulm).

Gibt es ein wirklich inakzeptables Beispiel für einen Kulturimport?
Die Entlohnung nach Leistung statt nach Alter (heu). Die vom IWF erzwungene Öffnung des Banken-"Sektors" in Äthiopien (ulm).

Analyse solcher Beispiele aus der Mikroebene der Globalisierung führen nicht weiter (heu).
Frage muss lauten: Haben die Konsumenten/Produzenten die Wahlfreiheit, sich gegen das Neue entscheiden zu können?

Wegweisend hier Lists Ansatz der Schutzzölle für junge Industrien aus dem 19. Jahrhundert (heu). Allerdings müsste man "Verfallsdaten" für einen solchen Vektorschutz einführen.
Die Alternative des Friss oder Stirb, wie sie Voraussetzung für eine WTO-Beitritt (z.B. China) oder einen EU-Beitritt ist (z.B. Polen) ist zu hart.
Damit Überleitung zu:

3.2 Ökonomisch

Globalisierung stellt sich dar als Auseinandersetzung alternativer lokaler Wirtschaftsstrukturen mit der Einführung des Kapitalismus. Dabei gibt es zwei Szenarien:
1 Kapitalismus in den Metropolen, Alternativen in Nischen.
2 Kapitalismus bis ins letzte Dorf.

Konsens: Szenario 2 tritt ein.
Das Problem daran ist, dass in dem Moment, in dem sich ein Dorf entscheidet, irgendein kapitalistisches Produkt zu konsumieren, es auch an Geld kommen muss - also etwas aus dem Dorf heraus verkaufen.

Wie tief dringt der Kapitalismus ins Dorf ein? Gibt es dort Eigentum? Oder lebt das Dorf hinter einer Pufferzone?

Die Endstufe des Kapitalismus ist die Umwandlung aller persönlichen sozialen Beziehungen in Dienstleistungen auf Geldbasis (heu). Eigene häusliche Tätigkeite werden outgesourcet und dabei professionalisiert (ha).
Diese Kapitalisierung des Sozialen wird fast überall als Verlust empfunden, aber ebenso fast überall praktiziert. Vermutung: Bedürfnisse und Träume, die Jahrhunderte als uerfüllbar galten, sind heute erfüllbar, aber nur mit hohem Zeiteinsatz, um das dafür nötige Geld zu beschaffen (nbo). "Kapitalismus verheißt die Verwirklichung des Ego-Trips" (sta).

3.3 Militärisch

G1: Das Vorhandensein eines einzigen dominanten Militärblocks heizt die Globalisierunsdebatte mit an (ha). 90er waren geprägt von "Polizeieinsätzen" der G1, die voher wegen der Sowjet-Gegenmacht nicht möglich waren.

3.4 Politisch

Die westliche parlamentarische Demokratie ist zur einzigen legitimen Staatsform erklärt worden.

Die entscheidenden Institutionen sind: WTO, IWF und Weltbank.

3.5 Fazit

Die entscheidenden Voraussetzungen der Globalisierung waren: der Wegfall der Mauer und der Zusammenbruch des Ostblocks, die technische Entwicklung, vor allem das Internet und die Deregulierung der Finanzmärkte (ulm, heu).

Es ist die Addition der US-Führung in allen 4 Aspekten, die die Opposition gegen die Globalisierung erzeugt. "Wären die Amerikaner die Brasilianer des Fußballs, wäre die Debatte noch hitziger" (ha).
Parallele zur Antike: USA=Rom, Europa=Griechenland?

4 Probleme und Strategien

Nachholende Entwicklung und Schuldenkrise
Ist eine umfassend aufholende Entwicklung der Staaten des Südens in der Dynamik des kapitalistischen Weltsystems möglich? Was könnte verhindern, dass am Tag X nach Erlassung sämtlicher Schulden nicht wieder dieselbe Verschuldungsspirale in Gang kommt?
Die 3-Welt-Staaten müssten mindestens durch einen Leistungsbilanzüberschuss (mehr Export als Import) in eine Netto-Gläubiger-Position kommen. Das geht eigentlich nur, wenn der Westen seine Märkte öffnet. Stattdessen subventioniert dieser die Exporte seiner Firmen ggf. sogar mittels Bürgschaften (wie die Hermes-Bürgschaften der Bundesregierung z.B. für Siemens-Kraftwerke in Asien). D.h. ein Mercedes in Uganda wird entweder mittels Auslandsverschuldung finanziert oder über eine Exportbürgschaft. Ergebnis ist in beiden Fällen, dass eine eigene Autoproduktion in Uganda nicht stattfindet.

Das verhindert zusätzlich eine aus sich selbst kommende Modernisierung (nbo; wenn mal man davon absieht, ob Modernisierung überhaupt die einzige Option sein soll, um die es gehen kann).
Gedankenexperiment: Was wäre, wenn man z.B. um das Subsahara-Afrika einen „Zaun“ zieht, den keine Waren, sondern nur Ideen und Knowhow (natürlich ohne Patentschutz) passieren dürfen? Ließe sich damit eine eigenständige diversifizierte Wirtschaft errichten?

Wie hat China den Boom seiner Sonderwirtschaftszonen in Gang gesetzt? Durch Schaffung von Eigentum, Steuerfreiheit. Direktinvestitionen waren zweitrangig (ha). Aber wo kam das Knowhow her (nbo)?

Eindringen des Kapitalismus in die Bürgergesellschaft
Einige von uns teilen ein diffuses Unbehagen, dass vormals marktfreie Lebensbereiche „kolonisiert“ werden. Lassen sich Beispiele finden? Versuch:
„warenvermittelte Freizeitgestaltung“ (Playstation, TV in Kinderzimmern). Tatsächlich messbare Folge: Die körperliche Leistungsfähigkeit von Kindern nimmt ab, Fettleibigkeit nimmt zu.
Vermarktung des öffentlichen Raums: Trimm-Dich-Pfad vs. Fitness-Center; Flanieren am Wochenende vs. von Event-Agenturen vermitteltes „Single-Dating“; Spazieren im Wald vs. Erlebnisparks; Austausch mit Familie und Freunden vs. Lebensberatung durch „Life Coaches“; Nachbarschaftsfest vs. Catering-Service oder Event-Dienstleister als Party-Veranstalter (auch bei traditionellen Dorffesten, Beispiel Weinfeste am Rhein). Woher kommt das? Perfektionismus. Glaube an eigene Nicht-Professionalität (nbo). Faulheit (Carolin).

Entsteht dadurch ein Verlust?
Ja, denn die geldunabhängige Wahlfreiheit nimmt ab (jus, nbo).
Nein, die geldunabhängige Wahlfreiheit bleibt gleich (ha, mo).


5 Anhang

5.1 Zeitskalen-Ansatz (nbo)

In der Physik werden thermodynamische Systeme häufig auf charakteristische Prozesse hin untersucht, die parallel in ihnen ablaufen. In Sternatmosphären gibt es z.B. 3 nennenswerte Prozesse: a) die Absorption und Wiederabstrahlung von Energie durch Moleküle und Atome, b) die mechanische Stöße dieser Atome und Moleküle miteinander sowie c) chemische Reaktionen, durch die sich neue Moleküle bilden. Jeder dieser drei Prozesse hat eine typische Zeitskala, in der er sich ereignet. Die Chemie läuft am langsamsten ab. Unter bestimmten Umständen nehmen a) Absorptions- und b) Stoßprozesse so zu, dass c) die Chemie einfach einfriert, etwa wenn Schockwellen durch die Sternatmosphäre laufen. Es finden dann keine chemischen Reaktionen mehr statt.

Dieser Ansatz geht mir seit längerem als Inspiration für die Betrachtung des Weltwirtschaftssystems durch den Kopf. Denn dort gibt es einige charakteristische Prozesse, die mit recht unterschiedlicher Geschwindigkeit ablaufen:

Prozesse:

1 Globale Finanzmarkt-Operationen (Kursentwicklung)
Zeitskala: Minuten - Stunden

2 Abwertung einer Währung durch Kapitalabfluss
mit nachfolgendem Kaufkraftverlust für Konsumenten
Zeitskala: Tage

3 Einbruch eines Wirtschaftszweiges durch abwertungs-
bedingte Rezession (z.B. Mexiko 1994)
Zeitskala: 3 - 6 Monate

4 Weiterbildung/Umschulung eines Arbeitnehmers
Zeitskala: 1/2 - 1 Jahr

5 Verdrängung eines Wirtschaftszweiges durch
neuen ausländischen Konkurrenten
Zeitskala: wenige Jahre

6 Aufbau eines neuen Wirtschaftssektors in einem Land
Zeitskala: 10+ Jahre

7 Wertewandel in einer Gesellschaft mit Auswirkungen
auf Demographie und Bildungsstruktur
Zeitskala: 15 - 30 Jahre

(Diese Liste ist provisorisch und bedarf weiterer Verfeinerung)

Was soll das nun? Da wir nie den Menschen und seinen Anspruch auf ein menschenwürdiges Leben aus dem Auge verlieren dürfen, müssen wir zunächst noch einmal schauen: Wo steht er im Wirtschaftsgeflecht, und welche Chancen hat er? Meine These ist: Die Systematik des Zeitskalen-Ansatzes erlaubt herauszufinden, welche Wirtschaftsprozesse Menschen überfordern. Das ist wichtig, denn diese Überforderung hat Konsequenzen. Die Menschen in krisengeschüttelten Ländern werden die „Relaxationszeit des geschockten Systems“ nicht abwarten (also die Zeit, nach der die Systemprozesse wieder halbwegs im Gleichgewicht ablaufen). Stattdessen werden sie schnelle Lösungen vorziehen: Migration, Wahl populistischer Politiker oder gar Terrorismus.

Meine Frage ist nun: Wie lässt sich dieser Ansatz weiter systematisieren? Lässt er sich sogar formalisieren? Und lassen sich konkrete Handlungsansätze daraus ableiten, die allen ein friedliches und selbstbestimmtes Wirtschaften ermöglichen?

Die Tobin-Steuer passt in dieses Modell gut hinein: Sie verlängert die Zeitskala des Prozesses 1, was einen Schock durch Überhandnehmen dieses Prozesses unwahrscheinlicher machen würde.
Man könnte es auch im Sinne der 68er formulieren: Gibt diese Analyse Hinweise, wo man Sand ins Getriebe schmeißen kann, um das irre Tempo der Weltwirtschaft zu drosseln?

5.2 Spielfiguren in der Globalisierung (nbo)

Hier ist noch ein zweiter provisorischer Gedanke: Gewinnt man Handlungsstrategien, wenn man den Globalisierungsprozess einmal spieltheoretisch unter die Lupe nimmt?
Da ich kein Experte in Spieltheorie bin, hier meine vulgär-spieltheoretische erste Version (über deren Traveller-Zentriertheit die anderen schon gelacht haben)
:

Spieler Mögliche Spielzüge
1 Individuen in den globalen Metropolen
  • Als Tourist in der globalen Provinz Devisen ausgeben
  • Als Tourist in der globalen Provinz Popkultur verbreiten
  • Als Tourist in der globalen Provinz die lokale Bevölkerung ausbeuten (Sex-Tourismus), Gewalt gegen 2 ausüben
  • Papiere an den internationalen Finanzmärkten als Kleinanleger handeln
  • In der globalen Metropole Importwaren konsumieren
2 Individuen in der globalen Provinz
  • Reisenden aus den globalen Metropolen lokale Kultur, Werte, Bilder, Produkte mitgeben
  • Reisende aus den globalen Metropolen abzocken
  • Gewalt gegen 1, 3 oder 7 ausüben
3 Internationale Konzerne
  • Investieren und Produktion eröffnen
  • Produktion abziehen
  • Aktien etc. herausgeben
4 NGOs
  • Kampagnen starten und über Medien Druck auf 3, 5, 6, 7, 8, 9 ausüben
  • gemeinnützige Projekte starten, die der Markt nicht zustande bringen würde
5 G1 = USA
  • Eigene Märkte öffnen oder schließen
  • Subventionen für heimische Produktion
  • Hilfszahlungen an 8 leisten/einstellen
  • Schulden erlassen
  • politische Sanktionen Verhängen
  • militärisch rund um den Globus intervenieren
  • Organisationen unter 9 blockieren
6 restlichen G8-Staaten ohne USA
  • Eigene Märkte öffnen oder schließen
  • Subventionen für heimische Produktion
  • Hilfszahlungen an 8 leisten/einstellen
  • Schulden erlassen
  • politische Sanktionen Verhängen
7 Sonstige Industrie- und Schwellenländer
  • Eigene Märkte öffnen oder schließen
  • Subventionen für heimische Produktion
  • Hilfszahlungen an 8 leisten/einstellen
  • eigene Währung abwerten
  • untereinander Krieg führen
8 "Dritte" und "Vierte" Weltstaaten
  • Eigene Märkte öffnen oder schließen
  • eigene Währung abwerten
  • untereinander Krieg führen
9 Internationale Organisationen: WTO, IWF, Weltbank, mit Einschränkungen UNO
  • Kredite gewähren
  • Sanktionen beschließen

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