wirtschaft ist keine
sozialmechanik

Niels Boeing, Hamburg, Dezember 2001

Mit ihrer Bewunderung für die rationale Strenge der Physik sind die Ökonomen im 19. Jahrhundert bei ihrer Theoriebildung auf die schiefe Bahn geraten. Diese Fehlentwicklung verhindere bis heute ein echtes wissenschaftliches Verständnis des Wirtschaftens, bemängelt der Ökonom und Historiker Philip Mirowski

Kann man den Volkszorn in einer Zahl ausdrücken? Man kann. 2,39 etwa. Bei einem solchen Benzinpreis wäre Aufruhr im Lande garantiert. Früher war es der Getreidepreis, der mitunter zum Politikum wurde und die Massen auf die Barrikaden trieb - wie im Vorfeld der Französischen Revolution. Damals, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, begannen einige Philosophen, das Auf und Ab der Märkte und Preise systematischer unter die Lupe zu nehmen. Im Gegensatz zu den Physikern, die mit der Himmelsmechanik schon den Lauf der Gestirne exakt berechnen konnten, hatten diese jedoch einen chaotischen, unberechenbaren Warenkosmos vor sich liegen. Eine Zumutung: "Ohne Berechnung würde die Ökonomie immer eine unbestimmte Wissenschaft bleiben, überall verwirrt von Irrtum und Vorurteil", insistierte Antoine de Mirabeau, der zur Schule der französischen Physiokraten zählte.

Was lag näher, als sich von der Leitwissenschaft der Neuzeit inspirieren zu lassen, die mit eleganten mathematischen Werkzeugen die Wirklichkeit offenbar so leicht in den Griff bekam? Dank Newtons Mechanik und Keplers Gesetzen der Planetenbewegung erschien die Welt nun als gigantische Maschine, deren Geschehen sich nicht länger dem Zugriff des menschlichen Verstandes entzog, sondern im Prinzip bis ins letzte Detail berechenbar war. Mit der richtigen Formel würde "nichts für den Verstand ungewiss sein, die Zukunft ebenso wie die Vergangenheit läge vor seinen Augen", schwärmte der französische Mathematiker Pierre-Simon Laplace – ein Denkmodell, das weit ins 20. Jahrhundert hinein wirkte.

Das Energie-Konzept als große Inspiration

Besonders angetan hatte es den politischen Ökonomen, wie die Forscher der Wirtschaft genannt wurden, das Konzept der Energie. Wenn dieses geheimnisvolle Etwas hinter der Bewegung von Körpern steckte, gab es womöglich eine Entsprechung in der Sphäre der wirtschaftlichen Güter. Denn diese wurden ja auf dem Markt permanent getauscht, waren gewissermassen in Bewegung. Das Pendant machten sie im "Wert" aus. Der steckte in Gütern und Rohstoffen, motivierte zum Handel und ging dabei doch nicht verloren – ganz so wie die Energie in einem physikalischen System erhalten blieb. Diese Vorstellung entwickelte vor allem der Schotte Adam Smith in seinem epochalen Werk "Der Wohlstand der Nationen" von 1776 weiter. Er und die klassischen Ökonomen "reduzierten wirtschaftlichen Wert auf eine Substanz, die in der Bewegung erhalten blieb und erhoben so Moralphilosophie und politische Ökonomie in den Rang einer Naturwissenschaft", urteilt der amerikanische Wissenschaftshistoriker und Ökonom Philip Mirowski in seinem Buch "More Heat than Light".

Die Physik marschierte derweil mit Siebenmeilenstiefeln weiter. Die sich rasant entwickelnde Optik, die neue Lehre von Elektrizität und Magnetismus und die Verfeinerung der Theoretischen Mechanik lie§en die bisherige Vorstellung von Energie als Substanz immer fraglicher erscheinen. Der Durchbruch gelang dann zwischen 1861 und 1864: Der Engländer James Clark Maxwell vereinheitlichte Optik und Elektromagnetismus in seinen berühmten Gleichungen und etablierte dabei eine neue, völlig unsinnliche Vorstellung von Energie: die eines mathematischen Feldes im Raum. Hier wird jedem Punkt im Raum eine gedachte Energie zugeschrieben, die erst wirksam wird, wenn ein Körper dorthin bewegt wird. Damit hatte die Physik eine neue Stufe der theoretischen Eleganz erreicht.

Walras, Jevons und die neue Ökonomen-Avantgarde

Diese blieb einigen jüngeren Ökonomen nicht verborgen. Schon 1862 hatte der Franzose Leon Walras in einem Brief "eine Wissenschaft der ökonomischen Kräfte analog der Wissenschaft der astronomischen Kräfte" gefordert. Zeitgleich mit dem Engländer William Stanley Jevons und dem österreicher Carl Menger entwickelte er ab 1870 eine neue Wirtschaftslehre, die sich eng an die neue Physik anlehnte: die so genannte Neoklassik, die in ihren diversen Ausprägungen bis heute Grundlage der Wissenschaft vom Wirtschaften ist.

Zwei Annahmen waren für Neoklassik essenziell: - Der Konsument ist mit einer so genannten Nutzenfunktion vollständig beschrieben; psychologische Phänomene oder gar soziale Kontexte spielen keine Rolle. In den Worten von Jevons: "Der Ökonomie Psychologie aufzuzwingen erscheint mir ungeeignet und vom Übel." - Nutzen lässt sich in Analogie zur Energie in der Physik als Feld beschreiben. In ihrer Begeisterung übertrugen die Neoklassiker den mathematischen Formalismus der Mechanik eins zu eins auf die Wirtschaft. Man ersetzte Energie durch Nutzen, Kraft durch Grenznutzen und kinetische Energie durch Ausgaben. "Die Theorie der Ökonomie bekommt so die Strenge der rationalen Mechanik", begeisterte sich der Neoklassiker Vilfredo Pareto.

"Indem sie das damalige Energiekonzept übernahmen, schlugen sie eine Forschungsrichtung ein, die sie kaum verstanden, und die bis heute Schwierigkeiten macht", urteilt dagegen Philip Mirowski über den Schritt von der Klassik zur Neoklassik. Denn die "sozialmechanischen" Gleichungen hatten aufgrund ihrer Form zwei Konsequenzen, die keinen Sinn ergeben: Zum einen muss die Summe aus Nutzen und Ausgaben in einer Wirtschaft immer konstant bleiben – analog zur Energieerhaltung in der Physik. Zum anderen spielt die reale Zeit keine Rolle. Welchen Nutzen ein Mensch auch in einem Computer, einem Apfel oder irgendeinem anderen Gut sehen mag, er ist völlig unabhängig von seinen Erlebnissen und von seinem Lebensumfeld.

Doch die Neoklassiker gingen noch weiter: Sie übertrugen das Konzept auch auf die Produktion und landeten bei einer Art "Technologie-Feld". Das implizierte, dass jeder Produktionsprozess ohne Zeitverzug stattfinde und vollständig umkehrbar sei. "Handtaschen könnten aus Schweineohren gemacht werden, und wenn wir Lust auf Schweinfleisch haben, würden wir die Handtaschen aus dem Schrank holen und siehe da: gäbe es wieder Schweinekoteletts!" spottet Mirowski über die absurden Konsequenzen einer Theorie, die sich um die Wirklichkeit nicht kümmert. "Der formalen Exaktheit korrepondiert empirische Beliebigkeit", ätzt Karl-Heinz Brodbeck, Ökonom und ehemaliger "Wirtschaftsweiser".

Im 19. Jahrhundert stehengeblieben

Die radikalen Veränderungen der Physik im 20. Jahrhundert schlugen sich in der Neoklassik nicht nieder. Dabei haben gerade Relativitätstheorie und Quantenmechanik die alte Vorstellung von Energie über den Haufen geworfen. Paul Samuelson, Autor des Standardlehrbuches zur Volkswirtschaftslehre und Nobelpreisträger, verfasste zwar Aufsätze wie "Die Quantentheorie der Ökonomie". Nur hatte "die mit Quantenmechanik überhaupt nichts zu tun", bemängelt Mirowski.

Die undurchdachte Aneignung ihrer Theorien ist auch wiederholt von Physikern kritisiert worden. Erst in den letzten 20 Jahren haben die Ökonomen begonnen, sich in der neuEsten Physik umzutun. Die war nämlich in der Chaostheorie – einer populistischen Umschreibung neuer Erkenntnisse in der Thermodynamik – bei dem gelandet, womit sich Ökonomen schon immer hätten beschäftigen sollen: der Unbestimmtheit komplexer Systeme – wozu Wirtschaft unzweifelhaft gehört. Hier ist der "Laplace’sche Traum" schon lange ausgeträumt. Mirowskis Urteil: "In einem solchen kulturellen Klima muss die neoklassische Wirtschaftslehre atavistisch, ja sogar irrelevant erscheinen."

Mehr dazu in: Philip Mirowski, "More Heat than Light", Cambridge University Press 1989

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