die wahre rentenlüge
Robert von Heusinger & Wolfgang Uchatius, Frankfurt/Hamburg, August 2005

Die Demografie verlangt's: Politiker fordern eine private Pflichtrente. Doch die Ärmeren haben schon heute zu wenig Geld zum Sparen

Deutschland geht schweren Zeiten entgegen, und schuld sind: die sorglosen Deutschen. Wenn die Verbraucher nicht bald mehr Geld beiseite legten, drohe ihnen Altersarmut, mahnen Rentenexperten. Finanzminister Hans Eichel fordert deshalb die Einführung einer privaten Pflichtrente. Denn die Bundesbürger sparen zu wenig.

Deutschland geht schweren Zeiten entgegen, und schuld sind: die geizigen Deutschen. Wenn die Verbraucher nicht bald mehr Geld ausgäben, werde auch künftig die Wirtschaft nicht wachsen, mahnen Konjunkturexperten. Finanzminister Hans Eichel fordert deshalb, die Bundesbürger sollten öfter einkaufen gehen. Sie sparen zu viel.

Ja, was denn nun?

Kaum eine ökonomische Frage ist so verwirrend wie die nach dem rechten Maß beim Geldausgeben. Die einen Ökonomen geißeln das Angstsparen, die anderen loben die Altersvorsorge. Die einen predigen fröhlichen Konsum, die anderen rufen dazu auf, den Gürtel enger zu schnallen. Da können selbst Bundesminister mitunter die Orientierung verlieren.

Dabei ist auf den ersten Blick alles ganz einfach. Denn da tut sich eine riesige Rentenlücke auf. Vergangene Woche avancierte in zahlreichen Tageszeitungen dieselbe Nachricht zur Topmeldung, in Berlin löste sie eine hitzige Diskussion über eine private Pflichtrente aus: Rund 60 Prozent der Deutschen kümmerten sich zu wenig um ihr finanzielles Auskommen im Alter. Wenn sie nicht deutlich mehr Geld beiseite legten, würden sie ihren Lebensstandard nicht halten können. Das jedenfalls behauptet das Deutsche Institut für Altersvorsorge (DIA). In dessen Auftrag hat der Mannheimer Ökonom Axel Börsch-Supan das von den Bundesbürgern angehäufte Vermögen und ihre langfristigen Sparpläne untersucht. Ergebnis: Es reicht nicht. Zwar hätten die Deutschen registriert, dass die gesetzliche Rente sinken und die Lebenserwartung steigen werde, das Ausmaß werde jedoch dramatisch unterschätzt, so das DIA. Offenbar sparen die Deutschen tatsächlich zu wenig.

Bei genauerem Hinsehen allerdings ergibt sich ein anderes Bild. Wer die 68 Seiten der DIA-Studie liest, macht eine überraschende Entdeckung: Die Immobilien sind nicht berücksichtigt – obwohl gut jeder zweite deutsche Haushalt Wohneigentum besitzt und dessen Wert nicht weniger als 75 Prozent zum Vermögen der Bundesbürger beiträgt. Laut Bundesbank verzeichnet der durchschnittliche Haushalt mittlerweile einen Besitz von rund 185000 Euro – vor 15 Jahren waren es inflationsbereinigt noch 20 Prozent weniger.

Bezieht man die Eigenheime mit ein, schließt sich die von Börsch-Supan beklagte Rentenlücke doppelt und dreifach. Die These, die Deutschen in ihrer Gesamtheit müssten mehr Geld auf die hohe Kante legen, ist dann nicht mehr zu halten. Allerdings ist dies kaum im Sinne des DIA, das von der Deutschen Bank und der Zürich Gruppe finanziert wird. Wichtigster Geldgeber von Börsch-Supans Mannheimer Forschungsinstitut ist die Versicherungswirtschaft – lauter Unternehmen also, die mit den Ersparnissen der Bundesbürger ihr Geld verdienen.

Ist es also doch so, wie die Konjunkturexperten seit Jahren argumentieren: Sparen die Deutschen nicht zu wenig, sondern zu viel?

Die wohlhabenden Haushalte legen fast ein Viertel des Einkommens zurück

Tatsächlich legen die deutschen Verbraucher im Schnitt elf Prozent ihres vefügbaren Einkommens auf die hohe Kante, in kaum einem anderen westlichen Industrieland ist die Sparquote so hoch. Während in Amerika oder Großbritannien dank der hohen Konsumnachfrage die Umsätze der Unternehmen in den vergangenen Jahren kräftig wuchsen und Hunderttausende neuer Jobs entstanden, stieg in Deutschland nur eines: die Arbeitslosigkeit. Der private Konsum war so schwach wie seit Jahrzehnten nicht mehr. "Indem die Leute so viel sparen, vernichten sie Arbeitsplätze", sagt Udo Ludwig, Konjunkturforscher vom Institut für Wirtschaftsforschung in Halle. Nach Berechnung des Leipziger Ökonomen Ullrich Heilemann ließe schon eine um einen Prozentpunkt niedrigere Sparquote innerhalb von zwei Jahren rund 200000 zusätzliche Arbeitsplätze entstehen. Die Deutschen insgesamt sparen wirklich zu viel.

Aber nicht jeder Deutsche.

Denn "die Deutschen" gibt es längst nicht mehr. In den vergangenen Jahren ist die Ungleichheit der Einkommen und Vermögen in der Bundesrepublik deutlich gestiegen. Die Folge: Die 4,2 Millionen wohlhabendsten Haushalte verdienen inzwischen so gut, dass sie mit 22,2 Prozent ihres Einkommens nichts anderes anzufangen wissen, als es auf die Seite zu legen – das schwächt die Konjunktur. Die acht Millionen Haushalte am unteren Ende der Wohlstandsskala dagegen verzeichnen so niedrige Einkommen, dass es gerade zum Leben reicht, aber nicht für die Altersvorsorge (siehe Grafik). "Diese Leute würden schon sparen, wenn sie könnten", sagt Michael Heise, Chefvolkswirt der Allianz. Sie können aber nicht, und das bringt die allseits in Aussicht gestellte Rentenzukunft – bestehend aus reduzierter gesetzlicher Rente und vermeintlich höherer privater Vorsorge – in Schwierigkeiten.

So erklärt es sich, dass einerseits laut dem vor wenigen Monaten veröffentlichten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung die Zahl der Millionäre in Deutschland in den vergangenen fünf Jahren von 1,1 auf 1,6 Millionen stieg. Und dass andererseits nach Meinung vieler Fachleute eine lange unbekannte Form der sozialen Notlage auf die Bundesbürger zukommen könnte: Altersarmut.

Bisher müssen nur 1,2 Prozent der 19,5 Millionen Rentner ihre Einkommen durch Geld vom Sozialamt aufstocken, weil sie sonst nicht einmal das Niveau der Sozialhilfe erreichten. Selbst wenn man eine ebenso hohe Zahl von Alten hinzurechnet, die schätzungsweise ihre Ansprüche nicht geltend machen und deshalb in den Armutsstatistiken nicht registriert werden, bleibt es dabei, dass hierzulande deutlich mehr Kinder und Jugendliche in prekären Verhältnissen leben als alte Menschen.

Noch. "Wer in den vergangenen Jahren in Rente gegangen ist, zählt in der Regel zu den reichsten Rentnern, die es je gab und geben wird", sagt Reiner Braun vom Berliner Wirtschaftsforschungsinstitut Empirica. Doch die vergleichsweise gute Versorgung der Alten dürfte sich in den kommenden Jahren verschlechtern. Sie ist einer historischen Ausnahmesituation geschuldet: Die relativ hohen Einkommen der ostdeutschen Rentner sind Abbild der Beschäftigungssituation zu DDR-Zeiten, also einer Zeit fast ohne offiziell registrierte Arbeitslosigkeit und mit extrem hoher Frauenerwerbsquote.

Unmittelbar nach der Wiedervereinigung hatten die Rentnerhaushalte im Osten deshalb deutlich mehr Geld zu Verfügung als Ruheständler-Paare im Westen, von denen viele mit nur einer Rente auskommen mussten. Das ändert sich nun. In den kommenden Jahren gehen die Verlierer der Einheit in den Ruhestand – die Langzeitarbeitslosen von heute sind die armen Alten von morgen. Schon im vergangenen Jahr, warnt der CDU-Rentenexperte Andreas Storm, sei die Hälfte der Ostdeutschen, die in Rente ging, zuvor arbeitlos gewesen.

Zudem wächst in Ost-, aber auch in Westdeutschland eine neue Gruppe von Erwerbstätigen heran: Niedriglöhner. Nach Berechnung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin leben inzwischen drei Millionen Erwerbstätige unterhalb der Armutsgrenze, oft sind sie Minijobber oder kleine Selbstständige. Sie alle haben zwar eine Beschäftigung, verdienen aber so wenig, dass für die Altersvorsorge kaum Geld bleibt.

Dazu kommt, dass Langzeitarbeitslose unter dem Regime von Hartz IV den Großteil ihrer Ersparnisse aufbrauchen müssen, bevor sie staatliche Hilfe erwarten können. Was sie fürs Alter zurückgelegt haben, kann ihnen schnell verloren gehen. Zwar gibt es Wege, um einen Teil des eigenen Kapitals zu retten, aber es bleibt das Gefühl des existenziell bedrohten Alters – auch bei denen, die gar nicht arbeitslos sind, jedoch Angst davor haben.

Der Großteil der Erbschaften läuft nach dem Muster: Wer hat, bekommt

Den meisten Arbeitslosen und Niedriglöhnern könnte neben dem Lottogewinn höchstens eine Erbschaft zu ausreichenden Rücklagen verhelfen. Doch die haben die wenigsten zu erwarten. Zwar dürften nach Berechnung des Wirtschaftsforschungsinstituts Empirica allein im laufenden Jahrzehnt 15 Millionen Haushalte ein Vermögen von insgesamt rund zwei Billionen Euro erben. Doch die meisten unter ihnen werden diese Finanzspritze nicht wirklich nötig haben. "Der Großteil der Erbschaften verläuft nach dem Muster: Wer hat, dem wird gegeben", sagt der Zürcher Soziologe Marc Szydlik, der sich mit finanziellen Transfers zwischen den Generationen in Deutschland beschäftigt. Akademiker vererben an Akademiker. Immobilienbesitzer an Immobilienbesitzer. Minijobber und kleine Selbstständige gehen in der Regel leer aus.

Auch vom Staat haben sie wenig zu erwarten. Da sie keine Beiträge in die staatliche Rentenkasse zahlen, helfen ihnen auch die Förderinstrumente der öffentlichen Hand nicht weiter. Die von der rot-grünen Regierung durchgesetzte staatlich geförderte Riester-Rente können nur regulär Rentenversicherte sowie deren Angehörige beziehen. Und auch der neue Rentenbonus für Eltern, den die Union in ihrem Wahlprogramm vorschlägt, ist nur für Mitglieder der staatlichen Rentenversicherung gedacht. Das sind aber in der Regel gerade nicht diejenigen, die von Altersarmut am stärksten bedroht sind.

Vielleicht sollten sich Politiker weniger Gedanken darüber machen, ob man die Deutschen zum Sparen verpflichten sollte oder nicht. Denn zu suggerieren, damit könne man jene vor Altersarmut bewahren, die zum Sparen einfach zu wenig Geld haben, ist die wahre Rentenlüge.

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