sesam öffne dich Niels
Boeing, Berlin, 1994
Auf
der Suche nach einem Notausgang aus dem 20. Jh. - Gedanken zu
einem neuen ökonomischen Paradigma
Nach
der Oktoberrevolution 1917 bestimmten zwei konkurrierende,
einander ausschließende Paradigmata das wirtschaftliche
Denken: der (mehr oder weniger freie) Markt und der
zentralistische Plan. Beide gehen von einem völlig
einseitigen, unzureichenden Menschenbild aus. Während das
Planparadigma zumindest im direkten Wettbewerb und Vergleich mit
dem Marktparadigma schlecht abschnitt und durch seinen K.O. als
unbrauchbar ausschied, ist eine Begründung, warum das
Marktparadigma unbrauchbar ist, nicht sofort bei der Hand.
Eine
wachsende Anzahl von Menschen teilt mittlerweile die Überzeugung,
daß Probleme vorliegen, die nicht als Versagen der
aktuellen Politik, sondern als grundlegende Fehler im System -
also Anomalien im Kuhnschen Sinne - zu bewerten sind. Hier aber
fangen alle Schwierigkeiten an: Es gibt genug intelligente Leute
und professionelle Neoklassiker, die das Vorhandensein von
Anomalien bestreiten, als da wären:
1.
Die Unfähigkeit, den Zustand der Umwelt und die natürlichen
Ressourcen in die wirtschaftliche Theorie, etwa bei der
Preisbildung, einzubeziehen.
2. Systemimmanente
Umweltzerstörung als Konsequenz des marktwirtschaftlichen
Wachstumsbegriffs.
3. Hochgradige
Verteilungsungerechtigkeit sowohl innerhalb der
Volkswirtschaften als auch im Weltwirtschaftssystem.
4. Bevölkerungsanstieg
aufgrund des Teufelskreises aus Teilmodernisierung der
Dritte-Welt-Ökonomien und fehlender Sozialversorgung.
Vielmehr sollen dies
Probleme sein, die die vollständige Anwendung des Paradigmas
,etwa die Verwirklichung eines wirklich freien Weltmarktes, lösen
könnte, was empirisch nicht widerlegt werden kann. Das
Besondere scheint mir hierbei eine Argumentation mit
pseudo-objektiven Gesetzen über das Wesen von Individuen und
Gesellschaften zu sein, was durch den Hang zur
"Verwissenschaftlichung" im Sinne der von den
Naturwissenschaften gesetzten Maßstäbe zu erklären
ist. Die Vertreter des Plan-Paradigmas argumentierten übrigens
ebenso aus einem vorgestellten, "wissenschaftlich"
begründeten Idealzustand heraus.
Sehen
wir einmal von realen Machtinteressen der Marktvertreter ab,
gegen die man nicht argumentieren kann. Wie ist der theoretischen
Borniertheit beizukommen, die die Notwendigkeit eines neuen
Paradigmas nicht anerkennt? Welche Umrisse müßte das
neue Paradigma haben, welche Elemente in einer Argumentation
wären besonders wichtig?
Umrisse
des neuen Paradigmas
Drei
grundsätzliche Dinge seien zunächst betont.
Erstens
muß das normative Element in den Vordergrund gestellt
werden: wir sind es, die Ziele formulieren und Randbedingungen -
in Form von einzuhaltenden Werten etwa - vorgeben. Das Problem
sollte nicht als Selbstorganisation eines komplexen Systems
aufgrund wissenschaftlich gefundener und beeinflußbarer
Gesetze betrachtet werden, sondern zuerst als eine Frage der
Politik und der Möglichkeiten eines Bewußtseinswandels.
Wenn dieser nicht stattfindet und in Aktion mündet, wird der
Kapitalismus die Anomalien auf seine Weise aus der Welt schaffen,
und es bedarf keiner großen Phantasie, sich die
Konsequenzen vorzustellen. Es ist leider nicht so, daß die
Errichtung eines neuen Wirtschaftssystems ohne Alternative ist.
Wir können durchaus nach dem Marktparadigma weiterverfahren,
mit der Inkaufnahme einer globalen ökologischen Katastrophe
und des Elends von Milliarden. Denn wenn wir argumentieren, das
sei immer so gewesen, Elend lasse sich nicht vollständig
beseitigen, der Umweltschutz unterliege nun einmal Sachzwängen,
im übrigen sei in der Geschichte das vorherrschende Prinzip
immer das Recht des Stärkeren gewesen - dann muß uns
die Suche nach einem neuen Paradigma wohl als philanthropische,
ja weinerliche Idiotie vorkommen. Wenn nicht, dann sind uns die
Ziele klar vorgegeben, d.h. wir müssen sie nicht erfinden,
sondern wirklich "nur" formulieren.
Zweitens
wird man nach 50 Jahren Konsumfreiheit im Westen um
Einschränkungen und Restriktionen nicht herumkommen, wenn
man das Wirtschaftssystem ernsthaft reformieren will. Die
Philosophie muß in diesem Zusammenhang in einer
"Endlichkeitstheorie" die unauflösliche Kopplung
von materiellen und ideellen Freheiten darlegen. Der Begriff der
Freiheit muß sozusagen aus dem metaphysischen Himmel auf
die Erde zurückgeholt werden. Freiheit mit 5 Milliarden zu
teilen ist nicht dasselbe wie mit 500 Millionen.
Drittens
muß klar gemacht werden, daß die genannten Probleme
keine technischen oder technologischen sind. Der Schlüssel
des Problems liegt nicht bei den Naturwissenschaften. Sie sind
für die Misere auch nicht verantwortlich, wenngleich ihrer
Denkweise dieselben mechanistischen Muster zugrunde liegen wie
dem Marktparadigma (und auch dem Planparadigma). Ich möchte
damit betonen, daß die Paradigmasuche keine Frage des
wissenschaftlich-technologischen Fortschritts ist. Wir brauchen
keine neuen Computergenerationen, neue Werkstoffe und neue
Methoden der Energieerzeugung zur Überwindung des
Markt-Paradigmas. In dieser Hinsicht haben wir bereits einen
unglaublichen Pool an Mitteln, um Ideen, die von normativen
Unternehmen wie etwa der Ökonomie (aber im Verbund mit allen
anderen Disziplinen) formuliert werden müssen, umzusetzen.
Es geht um die Formulierung neuer Ziele und neuer
Organisationsformen der Ökonomie.
Das
Konzept des Feedback-Raums
Das
wichtigste Ziel, das das neue Paradigma vorgeben muß, ist
Stabilität in Form einer weitgehenden Kongruenz zwischen
wirtschaftlichen und ökologischen Strukturen als Antithese
zu fortgesetztem materiellem Wachstum. Dies impliziert für
mich:
1.) im
globalen Maßstab die Absage an irgendeine Form eines freien
Weltmarktes. Analog zur Existenz größerer, relativ
selbständiger Ökosysteme (Kontinente und Subkontinente)
und vieler geographischer Subsysteme müßte das neue
Paradigma die Bildung von dezentralen, lokalen Feedbacksystemen
auf verschiedenen Ebenen (geographisch und technologisch)
entwerfen.
2.)
auf der Ebene eines solchen Feedback-Raumes die Konstruktion von
Mechanismen, die neben dem bisherigen Konsumentenfeedback in Form
von Nachfrage ein Feedback hinsichtlich der externen Kosten, des
Rohstoffverbrauchs, der Umweltbelastungen und des
Arbeitsplatzangebots wahrnehmen können. Davon abhängig
müssen regulative Maßnahmen definiert werden, die
nicht beliebig sein können. Es können also nicht
irgendwelche Gegenmaßnahmen vorgeschlagen werden, deren
jede theoretisch per Abstimmung angenommen werden könnte.
Dies wiederum macht die Verpflichtung aller Institutionen
innerhalb der betroffenen Ebene auf gewisse Grundprinzipien und
wesentliche Ziele notwendig. Es ist klar, daß dies wegen
der kulturellen Unterschiede nur regionalistisch umsetzbar ist.
Für die westlichen Industrie-gesellschaften würde dies
allerdings einschneidende Veränderungen im politischen
Gefüge bedeuten. Spätestens hier wird natürlich
die Komplexität der Aufgabe schmerzhaft deutlich. Vor allen
Dingen kann es sich bei unserem zu konstruierenden Feedback nicht
um ein kausales wie in der Natur handeln, sondern um ein
institutionelles. Das Ganze ist eben in erster Linie kein Problem
von zu entdeckenden Kausalprinzipien, die dann nur richtig
angewandt werden müßten.
Konsequenzen
einer regionalisierten Weltwirtschaft
Aus
diesem regionalistischen Ansatz ergeben sich zwei Konsequenzen:
1.)
Die Notwendigkeit einer Bildung von größeren
Wirtschaftsblöcken als Gegenthese zu einem freien Weltmarkt.
Die
jüngsten Standort-Diskussionen legen offen, daß auf
Weltmarktebene weder ein ökologisches noch ein soziales
Bewußtsein existiert. Der Weltmarkt als Institution (etwa
in Form des IWF) zeigt keine Ansätze einer von allen
Beteiligten getragenen sozialen oder ökologischen Regelung.
Umweltschutz ist eine Ware, die wie jede andere der Logik des
Marktes unterliegt, aber kein Ordnungsprinzip. Ich sehe in der
Bildung von größeren Wirtschaftsblöcken, die eine
größtmögliche Autarkie anstreben, auch die
einzige Chance, eine eigenständige, selbstentworfene
Entwicklung der "3. Welt" ohne die Sachzwänge des
Weltmarktes und ohne neokolonialistische Strukturen zu
verwirklichen. Auf diese Weise könnte die dualistische
Wirtschaftsstruktur der 3. Welt-Staaten überwunden und ein
verstärkter Handel dieser Staaten untereinander, innerhalb
eines Blockes erreicht werden. Gegenwärtig ist dieser
Süd-Süd-Handel klein im Vergleich zum Nord-Süd-Handel,
der nur die Abhängigkeit des Südens vom Norden
zementiert. Die Idee der Blockbildung soll nicht bedeuten, daß
sich der Norden aus der Verantwortung stiehlt (im Sinne des
differentialistischen Neo-Rassismus) und sagt:"Nun macht mal
schön..." Für einen Übergangszeitraum von
vielleicht dreißig Jahren müßte ein konkreter
Unterstützungsplan (durchaus als Abtragung der
"50-Billionen-Dollar-Schuld") aufgestellt werden mit
der klaren Zielvorgabe, daß danach alle Blöcke die
Verantwortung für sich selbst übernehmen müssen.
2.)
Die Untauglichkeit von Nationalstaaten bei der Umsetzung des
Paradigmas,
- da
es keine ethnisch homogenen Gesellschaften gibt und irgendwelche
Minderheiten in den diversen Nationalstaaten immer benachteiligt
sein werden;
- da
viele Nationalstaaten einerseits zu groß, zu bürokratisch
und zu unüberschaubar sind, um z.B. Probleme wie
Arbeitslosigkeit wirklich zu lösen, andererseits im
ökologisch-geographischen Rahmen wiederum zu klein, da die
ökologischen Probleme nicht an irgendwelchen Grenzen
haltmachen (die Grenzen der Nationalstaaten sind mit denen der
potentiellen geographischen "Feedback-Räume" nicht
identisch);
- da
die nationale Idee eine Abwertung anderer Kulturen und den Hang
zu Isolationismus und Nabelschau beinhaltet.
Für
eine europäische Wirtschaftspolitik
Das
"Feedback-Paradigma" beinhaltet keine Abschaffung des
Marktes, sondern eine Organisationsform, die den Markt auf eine
neue Stufe transformiert, indem ihm eine Art "ökologisch-soziale
Vernunft" implantiert wird, die die bisherige Angebots- und
Nachfrage-Vernunft in ihrer Ausschließlichkeit ablöst.
Dies bedarf einer interdisziplinären Forschung, die die
Kriterien dieser "neuen Vernunft" entwickelt, sowie
regionaler Institutionen, die ihre Umsetzung kontrollieren, und
die in den demokratischen Staatsaufbau eingegliedert sind. Auf
den europäischen Wirtschaftsraum bezogen, sieht das so aus:
·
die europäische Integration bis zum regionalistischen,
ökologischen Bundesstaat vorantreiben
·
Leistungsbilanzüberschüsse durch verstärkten
Export nicht mehr als primäres Ziel einer Wirtschaft,
losgelöst vom Zusammenhang mit anderen Wirtschaftsräumen,
zu betrachten, sondern Wachstum durch Differenzierung nach innen
zu erreichen.
· die
Versorgung mit Grundgütern in möglichst kleinen
Gebieten anstreben (also keine Milch aus Süddeutschland
nach Berlin). Je nach Komplexität und/oder Seltenheit des
Produkts eine Steigerung des Vertriebsradius. Dies macht es
nötig, die Kapitalfreiheit neu zu überdenken und
möglicherweise verschiedene Kapitalklassen hinsichtlich der
Beweglichkeit einzuführen.
·
Vollbeschäftigung (als Konsequenz aus einem Recht auf
Arbeit) als ausdrückliches Ziel jeder Wirtschaftspolitik
anerkennen.
· die
Einführung einer Energiesteuer, um sowohl maschinelle
Rationalisierung als auch weite Transportwege unrentabel zu
machen.
· Müllbelastung
und Rohstoffverschwendung durch konsequente Umstellung auf
Pfandsysteme, durch Weiterentwicklung von Recycling-Verfahren
minimieren, vielleicht auch durch Ausgabe von Zertifikaten, die
den Verbrauch einer bestimmten Menge eines (neuen oder
recycelten) Rohstoffes erlauben.
· die
Produktion an die Ressourcen und die Arbeitsmarktlage anpassen.
Die Umsetzung dieser
Punkte, die mittlerweile zum Standard aller progressiven Umwelt-
und Wirtschafts-Forschungsgruppen gehören, wird im Rahmen
eines freien Weltmarktes mit Sicherheit nicht möglich sein.
Deshalb muß die erste Veränderung in der
internationalen Politik ansetzen. Womit wir wieder bei den realen
Machtinteressen und -verhältnissen wären und der
offensichtlichen Unmöglichkeit, sie aufzubrechen.
Fazit
Also,
wozu dann dieser Sermon? Um zu zeigen, daß ein neues,
nicht-mechanistisches ökonomisches Paradigma, das auch die
globalen Entwicklungen nicht außen vor läßt,
möglich ist und vor allen Dingen über den Horizont
bisheriger Wirtschaftspolitik hinausgehen muß. Die Suche
danach kann keine Angelegenheit der Wirtschaftswissenschaften
allein sein. Dazu müssen nicht nur bei den Neoklassikern,
sondern auch bei der Linken (so es sie noch gibt) heilige Kühe
geschlachtet werden. Ansonsten versumpfen wir weiterhin im
Pragmatismus der Utopiefeindlichkeit vor lauter Angst, wir
könnten falsche Entscheidungen treffen. Wenn wir pragmatisch
bleiben, haben wir die schlechteste Entscheidung getroffen.
Allen
Skeptikern sei zuletzt die Lektüre von E. F. Schumachers
"Small is Beautiful" (Rowohlt 1977), eines Klassikers
der alternativen Wirtschaftsliteratur, als intellektuelle
Reibungsfläche empfohlen.
Erschienen
in der Zeitschrift Hermenauten 3, Juni 1994
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