das kollektive reformtabu
Hans Thie, Berlin, Mai 2003

Deutschland im Mai: Das Volk kapituliert vor den Kassandrarufen der Vorstandsetagen, Parteivorstände und Chefkommentatoren. Die vernebeln erfolgreich, was wirklich faul ist im rheinischen Kapitalismus.

Warum eigentlich sind die Volkswirtschaften in Dänemark, Frankreich und Belgien noch nicht zusammengebrochen? "Leistungsträger" zahlen in diesen Ländern einen Spitzensteuersatz von rund 60 Prozent und hätten doch längst ihre Heimat verlassen müssen. Dass Spanien noch nicht in Chaos und Anarchie versunken ist, gleicht ebenfalls einem Wunder. Dort gibt es ein besonders grausames Folterinstrument für breite Schultern: eine progressiv ansteigende Vermögensteuer, die bei 0,2 Prozent beginnt und aus Vermögen oberhalb von 10,5 Millionen Euro jährlich 2,5 Prozent herauspresst. Was für ein Verstoß gegen die Menschenrechte: Wer eine Milliarde Euro besitzt, muss - wenn er sich an die Gesetze hält - jedes Jahr 25 Millionen Euro abführen. Selbst in den Vereinigten Staaten wird das Kapital geknechtet. Von den Gewinnen der Aktiengesellschaften gehen knapp 40 Prozent an den Staat, und Steuern aus Unternehmertätigkeit und Vermögen tragen weit mehr als in Europa zum gesamten Aufkommen bei.

Wenn man die hierzulande gängigen Argumente in leichter Verwandlung auf andere Länder überträgt, zeigt sich die ganze Absurdität des deutschen Steuertheaters. Fast alles, was zum Thema Steuern zu hören und zu lesen ist, fügt sich zu einem grandiosen Akt kollektiver Verblendung. Initiiert von breit angelegten Kampagnen der Unternehmerverbände, übersetzt von angestellten Fernsehmoderatoren, die den Selbstständigen die Gestaltungsspielräume zur Steuersenkung neiden und unwidersprochen von fast allen politischen Parteien klagen mittlerweile selbst diejenigen, die keine Steuern zahlen, über die unerträgliche Steuerlast. Die Werbung war teuer, blieb jahrelang ohne erkennbare Wirkung, aber letztlich ist die Botschaft doch angekommen: die Bundesrepublik verlangt zuviel Geld von ihren Bürgern und schröpft über alle Maßen Entscheidungsträger und Investoren, die - wir sehen es jetzt alle ein - die Lust am Standort Deutschland verlieren müssen.

Im Taumel der Entrüstung hat sich das Volk, einst denkend und dichtend, von der Vernunft verabschiedet und einer Propaganda hingegeben, die allen Tatsachen widerspricht. Warum wagt niemand, das auszusprechen, was alle Statistiken belegen? Im internationalen Vergleich ist die Bundesrepublik ein Niedrigsteuerland. Die Steuerquote, also der Anteil der Steuern am Bruttoinlandsprodukt, liegt seit 30 Jahren ziemlich konstant bei etwa 22 bis 24 Prozent und ist in 2001 auf einen historischen Tiefstand von 21,7 Prozent gesunken. Andere große Industrieländer in Europa, wie Frankreich, Italien und Großbritannien haben sehr viel höhere Quoten. Selbst wenn man die Sozialabgaben einbezieht, landet Deutschland nur auf einem mittleren Platz, weit unterhalb der skandinavischen Länder. Von den größeren Nationen liegen nur die Vereinigten Staaten und Japan mit ihren nicht unmittelbar vergleichbaren, stärker privat organisierten Sicherungssystemen unter dem deutschen Niveau.
Schaut man sich genauer an, welche Gruppe in Deutschland in welcher Weise belastet wird, erweist sich die "unerträgliche Steuerlast" von Selbstständigen und Kapitalgesellschaften ebenfalls als pure Dichtung. Während der Anteil der Lohn- und Verbrauchssteuern am gesamten Aufkommen seit den siebziger Jahren ständig gestiegen ist, hat sich der entsprechende Anteil von Gewinnen und Vermögen im gleichen Zeitraum halbiert. Diesen Trend haben SPD und Grüne mit ihren "großen Steuerreformen" noch weiter beschleunigt und Zustände geschaffen, die in keinem Steuerparadies zu finden sind. Kapitalgesellschaften haben im Jahre 2001 per saldo keinen Cent Körperschaftsteuer gezahlt, sondern 426 Millionen vom Staat zurück erhalten. Mittlerweile sind auch die Gewerbesteuern, die den Kommunen zufließen, eingebrochen.

Die Folgen waren absehbar. Statt, wie von Schröder und Eichel erhofft, kräftig zu investieren und für Beschäftigung zu sorgen, konzentrieren sich die Unternehmen auf weitere Rationalisierungen. Nicht mehr Arbeitsplätze, sondern verringerte Einnahmen des Staates sind das sichtbare Resultat der Steuersenkungen für Großunternehmen und Vermögensstarke. Im Tagesrhythmus erleben wir, wie Theater, Museen, Sozialstationen und Schwimmbäder geschlossen und Projekte freier Träger ersatzlos gestrichen werden. Die öffentlichen Investitionen, ehemals die Stärke des Modells Deutschland, sind, gemessen an der wirtschaftlichen Gesamtleistung, nur noch halb so hoch wie in den USA, wo staatliche Wirtschaftsaktivitäten traditionell keine große Rolle spielen.

Dass Lobbyisten Tatsachen verdrehen und im Interesse ihrer Klientel unsinnige Vorschläge mit lächerlichen Begründungen propagieren, kann man verstehen und wäre in einer Gesellschaft, in der es noch checks and balances gibt, nicht weiter schlimm. Wenn aber nahezu sämtliche Medien und fast die gesamte etablierte Politik die Wirklichkeit auf den Kopf stellen oder sich zumindest nicht mehr trauern, dem Irrsinn zu widersprechen, gibt es niemanden mehr, der das von allen beschworene Gemeinwohl vertritt und für eine vernünftige Ausstattung öffentlicher Kassen sorgt.

Nicht zu Unrecht gilt nun Hans Eichel als der Trottel der Nation, weil seine Kalkulationen nicht aufgegangen sind. Ihn nur deshalb zu kritisieren, weil ungeplante Mindereinnahmen auftreten und weil das Ziel eines ausgeglichenen Haushalts bis 2006 nicht zu erreichen ist, führt allerdings am eigentlichen Problem vorbei. Nicht eine an sich richtige Politik ist aufgrund falscher Erwartungen gescheitert. Die rot-grüne Steuer- und Finanzpolitik ist insgesamt auf dem falschen Kurs. Sozialdemokraten und Grüne, die in den Kommunen Verantwortung tragen, wissen das. Wenn sie tatsächlich ihren Bürgern verpflichtet wären, hätten sie längst ihre Parteiführungen zum Teufel gejagt.

Was ist zu tun in einer verfahrenen Situation? Vielleicht etwas Besinnung auf den Wert öffentlicher Güter und Dienstleistungen? Vielleicht etwas Aufklärung statt Verblendung? Nein, dem Irrsinn folgt der Wahnsinn. Die aktuelle Standardformel volkswirtschaftlicher Weisheit lautet: Ohne tiefgreifende Reformen gibt es keine Hoffnung auf einen konjunkturellen Aufschwung. Man könnte auch Sportlern eine Kreuzbandoperation unmittelbar vor dem Wettkampf empfehlen. Dass "spürbare Schnitte ins soziale Netz" mit einer Belebung der Konjunktur nichts zu tun haben, sondern allenfalls die Stagnation in eine Rezession verwandeln, entzieht sich offenbar einer Gedankenwelt, in der Sabine Christiansen zu einer volkswirtschaftlichen Autorität geworden ist. Und so marschiert er weiter, der Sachzwang, der keine Gnade, nur noch Gas und Bremse kennt, nur noch die Alternative, entweder mit einem Abbau des Sozialstaats das Wirtschaftswachstum zu beschleunigen oder mit Besitzstandswahrung die Kräfte der Wirtschaft zu lähmen.

Eine Logik, die sich auf die Vokabeln "Beschleunigen" und "Bremsen" beschränkt, bewirkt nicht nur kurzfristig das Gegenteil dessen, was sie angeblich will. Fatal ist vor allem, dass sie die langfristigen Herausforderungen verdeckt, die zu lösen, und die Richtungsentscheidungen vernebelt, die zu treffen sind, wenn die Gesellschaft, in der wir leben, eine Zukunft haben soll: Abschied von der Hoffnung auf die Zauberkraft eines ungebändigten Wachstums, Abschied von der Illusion grenzenloser Verfügbarkeit der Natur und Abschied von der Spaltung der Arbeitswelt in Überbeschäftigte und Arbeitslose, in Hochverdiener und Dienstboten. Positiv formuliert: Eine Gesellschaft, die Freiheit und Gleichheit versöhnt, die auf intelligente Weise Erwerbsarbeit und Eigenarbeit kombiniert und in der die Bürger nicht an ihrer Verwertbarkeit gemessen werden.

Menschen, die über Arbeit und Leben selbst bestimmen, würden sich nicht mehr mit Gelegenheitsjobs, mit erzwungener Teilzeitarbeit unter Verlust sozialer Sicherheiten, mit Arbeitsauflagen als Zutrittsbedingung zu Sozialhilfe, mit Scheinselbstständigkeit, mit Niedriglöhnen oder mit verordneten "Maßnahmen" des Arbeitsamtes zufrieden geben. Statt dessen würden sie souverän, rechtlich und sozial abgesichert, zwischen vielen Varianten des Verlaufs von Erwerbsarbeit und der Kombination mit anderer Tätigkeit wählen und so über ihr eigenes Leben bestimmen.

Angesichts des herrschenden Zynismus, der uns in Gestalt von Vorstandsetagen, Parteivorständen und Chefkommentatoren begegnet, erscheint diese Vision wie eine ferne Utopie. Und doch liegt sie vielleicht viel näher, als wir alle glauben, wenn wir nur die gesellschaftlichen Verhältnisse als so veränderlich betrachten, wie die da oben es schon lange tun. An Technologien mangelt es sicherlich nicht. Sie sind vorhanden oder könnten doch zumindest entwickelt werden. Mit solaren und anderen regenerativen Energien ließen sich fossile und atomare Energieträger vollständig ablösen. Mit Informations- und Kommunikationstechnologien wäre, wenn man denn die geheimen Kammern der Wirtschaft und der Verwaltung öffnen würde, ein Maß an Transparenz und demokratischer Teilhabe möglich, vor dem alle grauen Eminenzen nur zittern können.

Nur was ist mit den sozialen Technologien, mit den gesellschaftlichen Arrangements, die Freiheit, Wohlstand, Solidarität, Nachhaltigkeit und Frieden gleichermaßen gewährleisten müssen? Was soll, im Sinne einer zukunftsfähigen Verfassung der Gesellschaft, der Privatwirtschaft, was dem Staat und was der bunten Vielfalt "Dritter Sektoren" vorbehalten bleiben? So wenig sich bislang wirklich überzeugende Alternativen entfaltet haben, so klar ist doch, was hinsichtlich des Steuer- und Sozialsystems zu tun wäre, damit hierzulande nicht der Kampf um die Existenz, sondern der Kampf um eine lebenswerte Perspektive tobt.

Wir brauchen ein Steuersystem, das für sämtliche Einkommen einen transparenten, progressiven Steuertarif vorsieht, den Dschungel der Ausnahmetatbestände komplett beseitigt und den Unternehmen ihre Gestaltungsfreiheit nimmt. Das Schielen auf den Vorteil des jeweils Anderen hätte damit ein Ende, und die unteren Schichten der Gesellschaft hätten mehr Geld in der Hand. Zusammen mit den Verbrauchssteuern, die konsequent auf Produkte und Energien zu konzentrieren wären, die schädliche Wirkungen haben, sollte sich so ein Aufkommen ergeben, mit dem die öffentliche Daseinsvorsorge zuverlässig garantiert werden kann.

Ebenso ist bei den Sozialsystemen die Richtung, in die Reformen gehen sollten, die diesen Namen verdienen, kein Geheimnis. Auch hier geht es darum, sämtliche Einkommen in die Versicherungspflicht einzubeziehen und auf diese Weise den Sozialstaat nicht allein an den Faktor Arbeit, sondern an die allgemeine Wirtschaftsentwicklung zu koppeln. Ergänzt durch Mechanismen des finanziellen Ausgleichs, wie es sie beispielsweise im Rentensystem der Schweiz längst gibt, würde eine längerfristig belastbare Sozialversicherung entstehen. Jenseits aller Hysterie könnte man dann auch die absehbaren Folgen der demographischen Entwicklung auf solidarische Weise bewältigen.
Hätte die rot-grüne Regierung das intellektuelle Format und den Mut, den interessegeleiteten Kassandrarufen zu widerstehen und ein soziales, demokratisches und ökologisches Umbauprojekt zu präsentieren, könnte sie auf die Agenda des Kanzlers, auf die aktuelle und all die anderen, die noch kommen werden, verzichten. Und das alberne Gebaren der SPD-Linken, die Placebos unters Volk wirft, bliebe uns allen erspart.

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