ein afrikanischer zeit-begriff
Aus dem Buch "Afrikanisches Fieber" von Riszard Kapuszczinski, S.19-21

Riszard Kapuszczinski war in den 50ern der erste Afrika-Korrespondent der polnischen Nachrichtenagentur PAP. Seine Notizen aus über 40 Jahren, erschienen in dem Buch "Afrikanisches Fieber", sind gleichermaßen geprägt von kritischer Distanz und tiefer Bewunderung für die Menschen des gebeutelten Kontinents. In einer Passage gibt er einen interessanten Hinweis, warum vielen Teilen der Dritten Welt der Kapitalismus zutiefst fremd ist: Denn nur mit einem Zeit-Begriff, für den die Zukunft und das Tempo der Zeit zentral sind, ergeben Investitionen einen Sinn. Wir zitieren hier die nachdenkenswerte Passage.

Europäer und Afrikaner haben völlig unterschiedliche Zeitbegriffe, sie nehmen die Zeit anders wahr, haben eine andere Einstellung ihr gegenüber. In der überzeugung des Europäers existiert die Zeit außerhalb des Menschen, objektiv, gleichsam außerhalb unserer selbst, und besitzt eine meßbare, lineare Qualität. Nach Newton ist die Zeit absolut: "Die absolute, wirkliche und mathematische Zeit fließt in sich und in ihrer Natur gleichförmig, ohne Beziehung zu irgend etwas außerhalb ihrer Liegenden..."

Der Europäer sieht sich als Diener der Zeit, er ist von ihr abhängig, ihr untertan. Um existieren und funktionieren zu können, muß er ihre ehernen, unverrückbaren Gesetze, ihre starren Prinzipien und Regeln achten. Er muß Termine einhalten, Daten, Tage und Stunden. Er bewegt sich innerhalb des Getriebes der Zeit, kann außerhalb dieses Getriebes nicht existieren. Dieses Getriebe drückt ihm seine Zwänge, Anforderungen und Normen auf Zwischen dem Menschen und der Zeit besteht ein unlösbarer Konflikt, der immer mit der Niederlage des Menschen endet - die Zeit zerstört ihn.

Ganz anders sehen die Eingeborenen, die Afrikaner die Zeit. Für sie ist die Zeit eine ziemlich lockere, elastische, subjektive Kategorie. Der Mensch hat Einfluß auf die Gestaltung der Zeit. auf ihren Ablauf und Rhythmus (natürlich nur der Mensch, der im Einvernehmen mit den Vorfahren und Göttern handelt). Die Zeit ist sogar etwas, was der Mensch selbst schaffen kann, weil die Existenz der Zeit zum Beispiel in Ereignissen zum Ausdruck kommt, ob es aber zu diesem Ereignis kommt oder nicht, hängt schließlich vom Menschen ab. Wenn zwei Armeen auf eine Schlacht verzichten, dann hat diese Schlacht nicht stattgefunden (das heißt, die Zeit hat ihre Existenz nicht unter Beweis gestellt, existierte nicht).

Die Zeit macht sich als Folge unseres Handelns bemerkbar. und sie verschwindet, wenn wir etwas unterlassen oder überhaupt nichts tun. Sie ist eine Materie, die unter unserem Einfluß immer zum Leben erweckt werden kann, jedoch in einen Zustand des Tiefschlafs oder sogar der Nicht-Existenz versinkt, wenn wir ihr unsere Energie versagen. Die Zeit ist eine passive Kategorie und vor allem vom Menschen abhängig.
Eine völlige Umkehrung des europäischen Denkens.

In Umsetzung auf praktische Situationen bedeutet das: Wenn wir in ein Dorf kommen, wo am Nachmittag eine Versammlung stattfinden soll, aber am Versammlungsort niemanden antreffen, ist es sinnlos zu fragen: "Wann wird die Versammlung stattfinden?" Die Antwort ist nämlich von vornherein bekannt: "Wenn sich die Menschen versammelt haben."

Daher wird auch ein Afrikaner, der in einen Autobus steigt, niemals fragen, wann dieser abfährt, sondern wird einsteigen, sich auf einen freien Platz setzen und sofort in jenen Zustand versinken, in dem er einen großen Teil seines Lebens zubringt - in den Zustand reglosen Wartens. "Diese Menschen besitzen eine phantastische Fähigkeit zu warten!" sagte mir ein Engländer, der seit Jahren hier lebt, "Eine Fähigkeit, eine Ausdauer, irgendwie einen ganz anderen Sinn!"


Irgendwo in der Welt kreist und fließt eine geheimnisvolle Energie, die uns, wenn sie näher kommt und uns erfüllt, nötige Kraft verleiht, um die Zeit in Bewegung zu setzen - etwas nimmt seinen Anfang. Solange aber das nicht der Fall ist, sind wir gezwungen zu warten - jedes andere Verhalten wäre müßig und eine Donquichotterie. Worin besteht dieses reglose Warten? Die Menschen verfallen in diesen Zustand im Wissen, was dann erfolgen Sie richten sich so bequem wie möglich ein, an einem möglichst angenehmen Platz. Manchmal legen sie sich hin, oder sie hocken sich einfach auf die Erde, auf einen Stein oder auf die Fersen. Sie hören auf zu sprechen. Eine Menge reglos Wartender ist stumm. Sie gibt keinen Laut von sich, schweigt. Die Muskeln entspannen sich. Der Körper schlaff, rutscht tiefer, neigt sich nach vorn. Der Hals steif, der Kopf bewegt sich nicht mehr. Der Mensch schaut sich nicht um, er sieht nichts, ist nicht neugierig. Manchmal hält er die Augen geschlossen, aber nicht immer. Meist sind die Augen offen, doch der Blick ist abwesend, ohne einen Funken Lebens. Ich habe stundenlang Ansammlungen Menschen in diesem Zustand reglosen Wartens beobachtet und kann daher sagen, daß sie dabei in einen tiefen physio logischen Schlaf verfallen: Sie essen nicht, trinken nicht, schlagen kein Wasser ab. Sie reagieren nicht auf die erbarmungslos niederbrennende Sonne, auf die lästigen, gefräßigen Fliegen, die sich auf die Lider, den Mund setzen.

Was geht in dieser Zeit in ihren Köpfen vor sich?
Ich weiß es nicht, ich habe keine Ahnung. Denken vielleicht nach? Träumen sie? Erinnern sie sich? Planen etwas? Meditieren sie? Befinden sie sich in einer anderen Welt? Es ist schwer zu sagen.

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