der gedankenrebell
Rüdiger Braun, Hamburg, März 2004

Indem Einstein als Genie verehrt wird, macht man ihn unschädlich. Denn er verkörpert eine Tugend, die heute ebensowenig angesagt ist wie zu seinen Lebzeiten: selber denken und etablierte Autoritäten nicht anerkennen.

Er gilt bis heute als die Verkörperung des Genies, eine Ikone des Intellekts, als der erste Popstar der Wissenschaften: Albert Einstein, dessen Porträt mit ausgestreckter Zunge, tiefgefurchten Lachfalten und zerzaustem weißen Haar zu den bekanntesten Fotos überhaupt zählt und den Zeitschriften wie Time und Spiegel beim Wechsel ins neue Jahrtausend zum Mann des 20. Jahrhunderts kürten.

Einstein war nicht nur ein inspirierter, zielstrebiger Wissenschaftler, der der Welt unter anderem die Relativitätstheorie bescherte und das Tor zur Quantenphysik aufstieß, er glänzte gelegentlich auch als Geiger und engagierte sich für Liberalität, soziale Gerechtigkeit und Pazifismus. Er war ein begehrter Redner und beliebter Interviewpartner, der zu vielem einen ebenso hintergründigen wie humorvollen Spruch parat hatte. Eine Kostprobe: „Zwei Dinge sind unendlich: das Universum und die menschliche Dummheit. Aber beim Universum bin ich mir nicht so sicher.“

Einstein gab der kühlen, meist schwer verständlichen Wissenschaft ein menschliches, vertrauenswürdiges Gesicht, auch wenn selbst Fachleute sich schwer taten, seine Theorien nachvollziehen. Augenzwinkernd sagte Charlie Chaplin einmal zu ihm: „ Mich lieben alle Leute, weil sie alles verstehen, was ich sage, und Sie lieben alle Leute, weil sie nichts von dem verstehen, was Sie sagen.“ Dennoch wirkten Einsteins Ideen und seine Persönlichkeit weit über die Wissenschaft hinaus. Sie beeinflussten die Kunst, von der Malerei über den Film und das Theater bis hin zur Lyrik. Sogar eine Oper wurde ihm gewidmet: „Einstein on the Beach“ von Philip Glass und Robert Wilson.

Was am meisten beeindruckt: Durch bloßes Nachdenken und elegante Mathematik hatte er herausgefunden, dass Zeit, Raum und Materie nicht die festgefügten, unveränderlichen Gesetzmäßigkeiten sind, als die wir diese mit unserer begrenzten Wahrnehmungsfähigkeit erleben. Er hatte gezeigt, dass unser Universum anders ist als wir es kennen. Auf die Frage eines Journalisten, was denn das Besondere an seinen Theorien sei, antwortete Einstein: „Früher hat man geglaubt, wenn alle Dinge aus der Welt verschwinden, so bleiben noch Raum und Zeit übrig; nach der Relativitätstheorie verschwinden aber Zeit und Raum mit den Dingen.“

Mit einem internationalen Einstein-Jahr wird 2005 ein besonderer Geniestreich der Wissenschaften gefeiert: 1905 veröffentlichte der 26-jährige Einstein, der damals als „Technischer Experte 3. Klasse“ am Patentamt in Bern arbeitete, gleich vier grundlegende Arbeiten, die die Physik nachhaltig veränderten – es ging als „Einsteins Wunderjahr“ in die Geschichte ein. Die Texte beschäftigten sich mit so unterschiedlichen Themen wie der Lichtquantenhypothese, dem Aufbau von Atomen, der Elektrodynamik bewegter Körper und der so genannten Brownschen Molekularbewegung. Die erste Veröffentlichung brachte Einstein 1921 den Nobelpreis für Physik ein. Mit der zweiten wurde er 1906 an der Universität Zürich promoviert. Die dritte ist die Grundlage für die „Spezielle Relativitätstheorie“, mit der die Vorstellungen von Raum und Zeit revolutioniert wurden. Und die vierte Arbeit ist einer der meistzitiertesten Wissenschaftstexte. Vor allem eine Frage steht bei den Feierlichkeiten im Vordergrund: Was hat dieses Wunder an Kreativität möglich gemacht und diesen Mann befähigt, die Vorstellungen seiner Zeit derart radikal zu sprengen?

Für Jürgen Renn vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin ist Albert Einstein „der richtige Mann, zur richtigen Zeit, am richtigen Ort“. Die Zeit sei damals reif gewesen für einen grundlegenden Wandel im wissenschaftlichen Denken. „Einstein konnte diese reifen Früchte ernten, weil er ein Querdenker war, weil er einfach anders gedacht hat und einen besseren Überblick über das Wissen seiner Zeit hatte als viele seiner Kollegen“, ist Renn überzeugt. Er habe nicht nur über exzellente physikalische Kenntnisse verfügt, sondern kannte sich auch gut in der Chemie und im Ingenieurwesen aus. Zudem sei er philosophisch überaus belesen gewesen. Kant und Spinoza waren seine Favoriten. „Er war im besten Sinn interdisziplinär“, sagt Renn, „und hatte eine große Gabe, Dinge miteinander zu verknüpfen.“

Sein großes Allgemeinwissen hatte Einstein vor allem einem glücklichen Umstand zu verdanken: Wie in vielen wohlhabenden jüdischen Familien – Einsteins Vater war Teilhaber einer kleinen Elektrotechnikfirma – gab es auch in seinem Elternhaus den Brauch, einmal pro Woche einen armen Schüler oder Studenten zum Essen einzuladen. Ein Medizinstudent namens Max Talmud wurde so zu einem gerngesehenen, regelmäßigen Gast bei Einsteins in München. Als er seine Besuche 1889 begann, war er 21 Jahre alt. „Für den elf Jahre jüngeren Albert“, schreibt Einstein-Biograph Albrecht Fölsing, „scheint er so etwas wie einen Ersatzvater in geistiger Hinsicht dargestellt zu haben.“ Talmud brachte dem „Albertle“ viele populärwissenschaftliche Bücher mit, aber in den folgenden Jahren vermehrt auch Anspruchsvolleres wie Werke von Immanuel Kant, Charles Darwin oder Alexander von Humboldt und er erweckte mit einem „Lehrbuch der ebenen Geometrie“ Alberts Liebe zur Mathematik. Dieser verschlang das gehaltvolle geistige Futter, erinnerte sich Talmud, „in atemberaubendem Tempo“.

Es ist deshalb überraschend, dass Einstein Schulprobleme hatte. Nicht weil ihm Begabung fehlte oder weil er faul war, sondern in erster Linie, weil ihn der militärische Drill und der Dogmatismus anödeten, die damals im Schulbetrieb weit verbreitet waren. Im Rückblick auf seine Münchener Schulzeit erinnerte er sich: „Die Lehrer in der Elementarschule kamen mir wie Feldwebel vor und die Lehrer am Gymnasium wie Leutnants.“ Immer wieder geriet er mit Lehrern am Münchener Luitpold-Gymnasium aneinander. Manche empfanden ihn als „besserwisserisch“, „arrogant“ oder „aufsässig“. Einer seiner Klassenlehrer mutmaßte sogar: „es werde nie in seinem Leben etwas Rechtes aus ihm werden“. Seine sechs Jahre an diesem „autoritär geführten Gymnasium“ machten Einstein bewusst, „wie sehr die Erziehung zu freiem Handeln und Selbstverantwortlichkeit jener Erziehung überlegen ist, die sich auf Drill, äußere Autorität und Ehrgeiz stützt“. Und in einem Brief aus seiner Jugendzeit ist zu lesen: „Autoritätsdusel ist der größte Feind der Wahrheit.“

Einstein hatte genügend Selbstbewusstsein und Liberalitätssinn aus seinem Elternhaus mitbekommen, um sich nicht von der Autoritätshörigkeit einschüchtern zu lassen, die den schulischen und akademischen Betrieb damals prägte – eine Eigenschaft, die ihm sicherlich half, das naturwissenschaftliche Weltbild seiner Zeit in Frage zu stellen. Kein Professorenname war ihm zu groß, um nicht dessen Theorien kritisch zu hinterfragen.

Darin bestärkt hat ihn auch der rege philosophische und fachliche Diskurs, den er seit seiner Züricher Studienzeit am Eidgenössischen Polytechnikum mit Freunden und seiner späteren Frau Miléva Maric in Diskussionszirkeln und Briefwechseln führte. Mit seinen Freunden hat sich Einstein „völlig frei gefühlt, unabhängig von den etablierten Lehrmeinungen alles in Frage zu stellen“, glaubt der Wissenschaftshistoriker Jürgen Renn: „Das hat ihn sicherlich sowohl emotional als auch intellektuell gestärkt, die Meister seiner Zeit herauszufordern. Das hat viel mit seinem Rebellentum zu tun.“

Einstein war nicht nur als Wissenschaftler, sondern auch als politischer Mensch unbequem. In seiner Zeit als Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik in Berlin, von 1917 bis 1933 engagierte er sich für die soziale Bewegung und war für die Nationalsozialisten eine der am meisten gehassten Persönlichkeiten. Nachdem Hitler am 30. Januar 1933 die Macht ergriffen hatte, entschloss sich Einstein von einer Reise nach Kalifornien nicht mehr nach Deutschland zurückzukehren. Er begründete diesen Entschluss in einer öffentlichen Erklärung: „Solange mir eine Möglichkeit offensteht, werde ich mich nur in einem Lande aufhalten, in dem politische Freiheit, Toleranz und Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz herrschen. ...Diese Bedingungen sind gegenwärtig in Deutschland nicht erfüllt.“ In seinem Exil in den Vereinigten Staaten eckte Einstein dann als Pazifist an. Jahrelang spionierte das FBI hinter ihm her, besonders nachdem er sich von einem anfänglichen Befürworter zu einem vehementen Gegner der Atombombe gewandelt hatte.

Nachdem der Querdenker zum berühmten Professor avanciert war, zuerst in Zürich, dann in Berlin und später in den USA in Princeton, begannen Wissenschaftler sich für das Geheimnis seines außergewöhnlichen Intellekts zu interessieren. Mehrere Psychoanalytiker versuchten Einstein auf ihre Couch zu locken – ohne Erfolg. Das Interesse an Einsteins Fähigkeiten ging sogar soweit, dass sich der im Krankenhaus von Princeton arbeitende Pathologe Thomas Harvey unmittelbar nach Einsteins Tod am 18. April 1955 heimlich vor der Einäscherung dessen Gehirn unter den Nagel riss. Jahrzehntelang schnippelte er daran herum, ohne jedoch besondere Erkenntnisse zu Tage zu fördern. Erst als Kanadische Forscher die konservierte graue Masse vor wenigen Jahren untersuchten, zeigte sich, dass der untere Scheitellappen von Einsteins Gehirn ungewöhnlich groß ist – ein Hirnareal, in dem vor allem räumliche Vorstellungskraft und mathematisches Denken lokalisiert sind.

Einen weitaus besseren Einblick in Einsteins Genialität liefern Interviews, Briefe und Aufsätze in denen er detailliert schildert, wie er denkt. In einem Brief an den Mathematiker Jacques Hadamard bekennt er: „Die Wörter oder die Sprache, wie sie geschrieben oder gesprochen werden, scheinen in meinem Denkapparat keine Rolle zu spielen. Die psychischen Einheiten, die als Elemente beim Denken dienen, sind gewisse Zeichen und mehr oder weniger klare Bilder, die nach Belieben erzeugt und kombiniert werden können.“ Es war, überlegt Gerald Holton, Professor für Geschichte der Naturwissenschaften an der Harvard University, „als habe er beim Denken mit den Teilen eines Puzzles gespielt“. Max Wertheimer, dem Begründer der Gestaltpsychologie, berichtete Einstein: „Ich denke überhaupt selten in Worten. Ich habe es in einer Art Überblick, gewissermaßen visuell.“

Die bildhafte Durchführung von „Gedankenexperimenten“ war dabei eine von Einsteins Spezialitäten: Auf diese Weise sei er beispielsweise eines Tages im Jahr 1907 auf den „glücklichsten Gedanken meines Lebens“ gekommen: „Das Gravitationsfeld hat nur eine relative Existenz. Denn für einen vom Dache eines Hauses frei herabfallenden Beobachter existiert während seines Falles in seiner unmittelbaren Umgebung kein Gravitationsfeld.“ Denken war für Einstein wie ein Spiel, wie Musik. Häufig gab es für ihn dabei kein konkretes Ziel, „sondern nur eine Gelegenheit, um sich der angenehmen Tätigkeit des Denkens hinzugeben.“

[zurück zum Anfang]



© 2005 km 21.0 - diese Seite ist Bestandteil von www.km21.org