morgens in junagadh...

Miloš Boniek

Die Motorriksha setzt mich am Fuße der Treppe ab, wo das Pilger-"Business" langsam in Gang kommt. Händler bauen ihre Stände auf, Pilger köcheln am Straßenrand, Sadhus in orange Roben murmeln vor sich hin. Eine reiche Inderin läßt sich auf einer riesigen Waage wiegen, bevor sie sich in die kleine Hängesänfte setzt, die von zwei mageren, zähen Männern aufgenommen wird.

Die ersten Stufen sind flach und harmlos und führen, gesäumt von kleinen Mandapas, durch einen lichten Hain aus niedrigen, trockenen Bäumen. Durch die Baumwipfel sehe ich, wie die Treppe an der Flanke des Berges zu einem schmalen hellgrauen Band schrumpft und über einer Steilwand verschwindet. Noch hält der Berg die Sonne zurück und wirft kühlen Schatten über die Treppe. Ich überhole eine andere Sänfte, deren Träger schon schwitzen, doch nach tausend Stufen stoppt mich zum ersten Mal der Durst. Der Strom der Pilger schwillt allmählich an, die Stufen werden steiler, die Zungen trockener. Der Berg wispert uns jetzt aus jeder Nische geschäftstüchtig entgegen. Sadhus erheben sich von asketischen Nachtlagern auf nacktem Fels.

Ich hole ein paar Träger ein, die Colakästen, Reis- und Mehlsäcke den Berg raufschleppen und vor Stunden aufgebrochen sein müssen. Die Treppe wird zu einer Ameisenstraße, auf der mit unendlicher Geduld Waren auf den Köpfen in die Tempelstadt getragen werden. Schulklassen, Familien jeden Standes mit Kind und Kegel, reiche Inder, arme Inder fügen sich in den Strom, der in heiterer Gelassenheit den Berg raufkriecht. Dreitausend Stufen, viertausend Stufen, da kommt ein junger Sadhu mit enormen Rastalocken, nur im kurzen Lungi, die Treppe heraufgeschossen, drei, vier Stufen nimmt er auf einmal, federnden Ganges, mit einer Leichtigkeit, daß auch die anderen Pilger kopfschüttelnd stehen bleiben und lachen, um sich dann weiter zu quälen wie ich auch. Fünftausend Stufen.

Endlich betrete ich die Tempelstadt, aber der Strom zieht weiter durch die Gassen. "Noch viertausend Stufen bis ganz oben", sagt mir jemand, aber den wirklichen Gipfel kann ich noch nicht erkennen. Halb in Trance setze ich einen Fuß vor den anderen, Stufe um Stufe leert sich mein Kopf. Matt erreiche ich eine zweite, kleinere Tempelstadt, einige Pilger verschwinden in den Tempeln, andere zerstreuen sich in den einfachen Garküchen. Ein Sadhu mit einem gezähmten Affen zieht neugierige Blicke auf sich, als er sich an einem Tisch niederläßt. Ein anderer Sadhu kommt splitternackt und irre lachend auf mich zu, so daß ich erschrocken im Gewühl der Pilger abtauche. Ich folge der Menge, die immer noch in Bewegung ist und sehe die Spitze. Noch einmal tausend Stufen.

Mit butterweichen Knien erreiche ich den letzten Tempel, in dem zwei Sadhus meditieren. Zum ersten Mal nehme ich die Landschaft ringsum wahr, die sich zum Horizont hin zu krümmen scheint, ein gleichmäßiger Flickenteppich aus Feldern, der im Dunst verschwimmt, nur unterbrochen von schmalen Rauchsäulen, die aus Einsiedeleien an den weitläufigen Hängen aufsteigen. Der Weltberg der Jains ist erklommen.

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