68er 2.0 beta?
Niels Boeing, Oktober 1999, aktualisiert Januar 2001

km 21.0 wurde auch unter dem Eindruck des konservativen Backlashs unter Kohl gegründet. Ich meine: Die großen Fragen der 68er sind auch 2001 aktuell - so sehr die Opposition in diesen Tagen versucht, diese Epoche deutscher Geschichte angesichts Fischers "Fehltritten" zu diskreditieren. Höchste Zeit für ein Projekt 68er 2.0 beta.

1990: Wir waren aufgebrochen, als wir noch keine Gewichte an den Füßen hatten. Ein neues Jahrzehnt hatte begonnen, der Kommunismus war untergegangen, und die Zukunft unmittelbar vor der Tür, ungewiß, aufregend, definitiv gefährlich und unübersichtlich, überschattet von der lauernden globalen Umweltkatastrophe, die uns ein prickelndes Schaudern gab und moralische Kraft. Wir formulierten die 98er - doch eigentlich fabulierten wir nur.

98 ist vorbei und die Neunziger auch. Der Schatten der Umweltkatastrophe wird längst von der Verheißung überstrahlt, den 7. Kontinent zu besiedeln, das neue Land der unbegrenzten Möglichkeiten - den „Cyberspace". Die Kapitalisten haben zum ersten Mal die Revolution ausgerufen und treiben sie Tag für Tag voran. Denn längst sind sie es, die den 7. Kontinent erobern wollen. 

Neoliberale, Technofreaks und selbst einige 68er erklären „68er 1.0" für gescheitert und alle weiteren Versuche eines Updates für aussichtslos. Kommt, geht auf den großen Cybertrek des 21. Jahrhunderts, laßt das 20. Jahrhundert mit all seinen Exzessen Vergangenheit sein. Macht Euch nicht lächerlich, rufen sie, wir müssen es schließlich wissen. 

Und wir, mit unseren Gewichten an den Füßen, fangen an zu glauben, daß man in dieser realen Welt tatsächlich nur eine Chance hat, etwas zu tun: nämlich mitzuspielen. Geht dieses Spiel nicht kinderleicht von der Hand, wenn sich die Konten allmählich prall füllen? Lassen diese uns nicht die einbetonierten Füße vergessen?

Sehen wir noch einmal genau hin: Ist der Sprung in die Elite der Macher und Meinungsbildner nicht eher ein Sprung auf den Rand des Kraters? Sicher ist dort oben - aber was ist, wenn der Vulkan doch noch in die Luft fliegt?

Ach was, er ist erloschen, sagen die Realisten. Klar: Wenn in Osttimor, im Kosovo, in Angola und an einigen anderen Orten der Welt Menschen abgeschlachtet werden, sind das Nachbeben der Modernisierung. Ganz unvermeidlich. Aber sonst brodelt da nichts. Überhaupt nichts. Die Geschichte ist ja vorbei. Mit der Globalisierung, den ihr zugrunde liegenden Machtstrukturen, einer Verelendung ganzer Regionen hat das nichts zu tun. Wer in die post-industrielle Wissensgesellschaft will, muß schnell noch durchs militärisch-industrielle Fegefeuer.

Aber was ist überhaupt die Wissensgesellschaft? Gehört sie zu einer Vision? Oh ja, und es sind diesmal nicht die Linken, die diese Vision haben, es sind die Kapitalisten. Wie? Ach ja, die Ewiggestrigen und die Modernisierer muß es heißen (dieses K-Wort ist wirklich gräßlich). 

Also, die Modernisierer haben einen Traum: Daß sie problemloser und schneller als je zuvor Geld machen können, um damit noch problemloser und schneller Geld machen zu können, damit sie noch problemloser und schneller... Um mehr geht es nicht. Von geradezu buddhistischer Schlichtheit. Whow!

Und die anderen, als was auch immer die sich bezeichnen? Die haben einen Traum und ein Alptraum: den Traum, daß sie am Ende auch noch zu Geld und Ansehen kommen, sich gewissermaßen noch als letzte durch die sich schließenden Türen des Zuges quetschen - der Rest soll halt auf den nächsten Zug warten; und den Alptraum, zu diesem Rest gehören zu müssen. Leider vergessen sie, daß sie nie und nimmer nicht zu denen gehören werden, die bestimmen, wie lang der Zug ist und wohin er fährt.

Ich behaupte, daß wir uns auch alle längst an Bord wähnen. Uns an der Bordbar vergnügen wollen. Politik? Wie langweilig STOPP

Auch wenn ich 1968 erst 1 Jahr alt war, möchte ich doch gerne versuchen kurz zu rekapitulieren, worum es meines Erachtens ging - bei „68er 1.0":

  • Aufarbeitung von Drittem Reich und Faschismus - heute feilscht die deutsche Industrie mit Hilfe eines SPD-Kanzlers um die Höhe von Entschädigungszahlungen an die letzten noch lebenden Zwangsarbeiter des Dritten Reiches
  • Antimilitarismus - heute blüht der Waffenhandel wie eh und je, und eine rotgrüne Bundesregierung schickt sich an, Panzer an die Türkei zu verkaufen
  • Internationale Friedenspolitik - heute kapituliert ein grüner Außenminister vor den Sachzwängen der westlichen Bündnisdiplomatie, nachdem er ganz am Anfang einmal seinen Kopf vorgestreckt hatte und die Nato zur Aufgabe der nuklearen Erstschlagsoption aufgefordert hatte, um dafür ordentlich eins über die Rübe zu bekommen
  • Bildung, um alle zu mündigen Demokraten zu machen - heute geht es um die Ausbildung zu funktionierenden Elementen im liberalisierten, internationalen Räderwerk, um die Ökonomisierung der Universitäten, in der die Studenten zahlende Kunden werden
  • Entwicklung der Dritten Welt - heute kommt der IWF und sagt: „friß oder stirb", wenn Währungen abgewertet werden und Volkswirtschaften innerhalb von Wochen in Rezessionen stürzen, während die korrupten, vom Westen ausgehaltenen Eliten noch schnell ihre Schäfchen ins Trockene bringen können
  • Analyse ökonomischer und politischer Strukturen, die die Umsetzung dieser Ziele behindern - heute ist klar, daß es gerade der Kapitalismus ist, der diese Ziele erreichen könnte, wenn er nur nicht immer von Kritikern und Verweigerern dabei behindert würde

Langweilig? Langweilig ist vor allen Dingen das 68er-Bashing. Um es klar zu stellen: Wir brauchen kein zweites 68! Aber wenn der Slogan „68er 2.0 beta" geeignet ist, Unruhe in diesem politisch apathischen Land zu schaffen - liebend gerne! Flexibilität und lebenslanges Lernen können sich wohl kaum darin erschöpfen, den Schranzen der globalen Business-Elite nachzueifern, weil die mit Liebesentzug drohen.

Denken wir selbst! Wieder und wieder! Selbst! Das ist die erste und wichtigste Message von km 21.0.

Ach ja: Wer will, kann von mir ein Karl-Marx-T-Shirt bekommen. In rosa. Text: „Heute ist nicht alle Tage, ich komm wieder, keine Frage." Zum Provozieren an der Bordbar.


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