Verschwörungstheorien sind Tranquilizer Oliver Fahrni, Hamburg, Februar 2002

Verschwörungen sind eine begrenzte Sache, man kann sie aufdecken, enttarnen oder denunzieren. Die Mechanik des Systems ist aber das eigentliche Problem: die brutale, komplexe Mechanik des Kapitals, das sich nicht nur immer mehr Länder unterwirft, um sie besser auszupressen, sondern zunehmend auch das Leben selbst. Die Abschaffung des autonomen Individuums bei uns im Westen ist der nächste Schritt.

Wer von Euch gegen diesen Irak-Krieg ist und etwas tun will gegen die imperiale Rolle der USA, dem möchte ich entschieden abraten, "Dossiers" wie das im Netz kursierende PDF über den 11. September weiter zu verbreiten. Meine Gründe:

1. (ein formaler Grund)
Es gibt keinen Autor, keine identifizierbare Quelle. Es ist zusammengeschustert aus interessanten, aber inzwischen bekannten Fakten, Ungereimtheiten in der US-Kriegspropaganda (angefangen beim mythologischen 11.9.) und Falschinfos (etwa die Billion Dollar Gewinn aus dem Drogengeschäft, Mann, das ist im besten Fall ein Übersetzungsfehler: das englische billion ist deutsch eine Milliarde und nicht eine Billion!), und wilden Behauptungen, die als Tatsachen dargestellt werden (etwa dass die Urheberschaft des Mossad feststehe, siehe meine inhaltlichen Gründe) und schliesslich eindeutigem Verschwörungsdenken bis hin zu numerolgischem Scheiss (der immer wieder viel Eindruck macht).

Ich würde wetten, dieser Text stammt von der rechtsradikalen Larouche-Sekte, es ist ganz ihre Machart und Tonlage, bis hin zu einem nur notdürftig kaschierten Antisemitismus. Wir sollten aufpassen mit anonymen Texten vom Internet. Das Web macht jede Manipulation möglich und was wir da vorliegen haben, stützt scheinbar eine kritische Haltung, ist aber die perfideste Form von Manipulation: Verwässerung durch Vermengung von Fakten und Verschwörungstheorien. Wir brauchen, wollen wir aufklären, eine klare Ethik der Information. Es gibt genügend zitierbare Köpfe, die sich mit ihrem Namen und offenem Visier hinstellen, um all diese Dinge besser zu analysieren und kritischer, inklusive der sicher unklaren Rolle des israelischen Geheimdienstes. Wir haben nicht zu wenig Information. Wir haben zuviel (kein Zufall, siehe unten) und die Aufgabe eines kritischen Kopfes ist es, die Dinge zu unterscheiden.

2. (inhaltlich)
Ich verwende das Wort "Verschwörungstheorie" nicht im Sinne eines Totschlagargumentes. Niemand, der sich mit der Geschichte von Sicherheitsapparaten beschäftigt, kann bezweifeln, dass es immer wieder Verschwörungen gegeben hat, bis hin zu Attentaten, Flugzeugentführungen, Massenvergiftungen, Massenmord etc. Das scheint naiven Geistern undenkbar, weil Sicherheitsapparate doch eigentlich für die Sicherheit der Bürger sorgen sollten, also so etwas wie den 11.9. schon aus moralischen Gründen gar nicht tun könnten. Das ist zu kurz gedacht. Polizisten, Geheimdienstler etc. funktionieren in einer anderen Logik: Ihr Feind ist immer die Bevölkerung, die sie niederhalten müssen, zuvorderst die eigene. Was im Namen der Staatssicherheit (eigentlich: die Sicherheit der Herrschenden) alles schon verbrochen wurde, ist ein Stück nur teilweise geschriebener Geschichte (Enzensbergers "Politik und Verbrechen", die Pentagon-Papers zum Vietnamkrieg etc.).

Dennoch: Verschwörungstheorien machen uns blind. Denn sie verniedlichen. Verschwörungen sind eine begrenzte Sache, man kann sie aufdecken, enttarnen, denunzieren und am Schluss rettet uns der weisse Ritter Bob Woodward oder ein Turtle-Ninja.

Was die gegenwärtige Lage ausmacht, ist viel schlimmer als eine Verschwörung. Ich stelle Euch demnächst einen Artikel von mir zum Thema ins Netz, wo ich das zu erklären trachte. Weiter unten ein paar Anhaltspunkte.

Verschwörungstheorien sind doppelschneidig. Deshalb werden sie so häufig gerade von den selben Geheimdiensten in Umlauf gebracht. Das sollten wir inzwischen wissen: Im Informationszeitalter ist die beste Methode zur Geheimhaltung nicht die (nie vollkommene) Abschottung, sondern, im Gegenteil, die massenweise Produktion von Daten. Untergrundbewegungen haben das längst erkannt: Sie begleiten Aktionen immer mit einem Haufen Informationsmüll, lassen Komparsen kreuzweise Hunderte von Telefongesprächen führen, die keinen Sinn ergeben, in denen aber die heiklen Stichwörter auftauchen, also eine Auswertung in Gang setzen (die wegen der Menge nur in Wochen geleistet werden kann) und irgendwo dazwischen laufen zwei, drei, Echtgespräche.

Wollen wir dem gegenwärtigen Datenmüll und der ambienten Propaganda, die Milliarden Dollar und grosse Apparate zur Verfügung hat (bis hin zu Studienaufträgen an unbotmässige Journalisten, ich bekam vor 5 Tagen ein Angebot einer US-Stiftung, 12 000 Dollar für einen Artikel), wollen wir dem entkommen, wollen wir zu einer klaren Sicht kommen, hilft nur: Recherche, aufs Terrain gehen, lesen, interviewen, fragen, und ein neues Analyseinstrumentarium schaffen, das mit sehr strengen Wahrscheinlichkeitsmustern arbeitet. Dazu gehört es etwa, Texte, in denen mit dem Trick der Anhäufung von evidenten Details und einer beiläufig hingeworfenen Behauptung (erwiesen, dass Mossad...) gearbeitet wird, sofort als Ganzes zu verwerfen. Verschwörungstheorien lenken von den eigentlichen Tatsachen ab.

3.
Eine kleine Denkaufgabe zwischendurch: Der unlängst verstorbene palästinensische Desperado Abu Nidal war sehr wahrscheinlich KEIN israelischer Agent (sonst hätten ihn Syrer und Iraker kaum so lange geschützt, die hätten wohl was gemerkt, in 30 Jahren). Tatsache ist, dass jede Tat, jeder Anschlag dieses Mannes haargenau in das Schema israelischer Politik passte. Das hat mich immer frappiert: Da sah man damals etwa seit Monaten einen israelischen Einmarsch im Libanon kommen, wusste, dass er kommen musste, aber es fehlte der richtige Vorwand, man dachte sich, die werden bald etwas inszenieren als Vorwand und paff! Abu Nidal schlägt zu. Wie kommt das? Ich könnte nach dem selben Schema wie der Larouche-Text (wenn er denn von da kommt), sofort beweisen, dass Abu Nidal ein Mossad-Mann war. Ich glaube es nicht. Siehe unten.

4.
Ich verstehe diese Neigung nicht, hier monatelang über CIA und Mossad zu diskutieren. Es ist, mit Verlaub, völlig irrelevant, ob ein CIA-Mann (oder vielleicht doch die NSA oder der Geheimdienst der Navy, oder...) das geplant oder befohlen hat (es ist ausserdem, aus anderen Gründen, zwar durchaus möglich, aber unwahrscheinlich). Warum aber scheint das so vielen relevant? Sie KÖNNTEN es getan haben. Aber wenn sie es waren, was verändert das an unserer Sicht? Klar, das scheint uns erst einmal relevant, weil wir mit Propaganda abgefüttert werden, weil dieser Krieg ein Krieg um die Köpfe ist, weil die Journalisten ihren Job nicht tun, weil wir in einen Krieg der Kulturen getrieben werden, weil... Aber mit diesem Verschwörungs-Gerede vergeuden wir nur unsere Zeit. Wir werden es nie wissen, es sei denn, einer der Verschwörer packe aus, und selbst dann, das kennen wir auch, werden wir vielleicht noch einmal manipuliert (siehe die Memoiren Breszinskis). Vergesst nie: Diese Leute machen das seit Hunderten von Jahren. Die können das gut. Das sind Desinformations-Profis. Die machen sogar aus einer öffentlichen Beichte ihrer Taten noch eine Manipulation. Wir müssen es auch nicht wissen, denn was wir wissen ist viel schlimmer als eine Verschwörung. Dass Kennedy einem bestimmten Teil der amerikanischen Establishments nicht gepasst hat, wissen wir. MUSS ich wissen, ob es Oswald, die CIA, die Exilkubaner oder wer auch immer waren, die den Abzug in Dallas durchgedrückt haben? Ich muss nicht.

Warum diese Obsession mit der Verschwörung? Eigentlich sehe ich nur ein Erklärung: Naiv nehmen wir an, gäbe es die Verschwörung nicht, wäre alles in Butter. Verschwörungen, die in der Politik so häufig sind, wie das Amen in der Kirche, Verschwörungen, die zum normalen Handwerkszeug gehören, empören uns nur, weil wir davon ausgehen, dass sie nicht zum üblichen Verhalten der guten USA oder des guten Israel gehören. Die Geschichte lehrt uns: Der Agent, der eine Maschine mit 250 Passagieren in die Luft gehen lässt, um einen Mannn umzubringen, der Dienst, der Terror selbst inszeniert, um ein höheres Budget zu bekommen etc. das alles sind bekannte Figuren. Warum pflegten amerikanische und sowjetische Generäle den ganzen Kalten Krieg über beste Beziehungen? Weil sie objektiv das selbe Interesse hatten: Viel Geld, viel Mann, viel Waffen. Wir wollen uns empören, weil uns das hilft zu glauben, wider besseres Wissen, Demokratie, Öffentlichkeit etc. funktionierten, es gebe eine Gemeinschaft gleicher Werte zwischen den Mächtigen und uns, der Westen sei grundsätzlich gut... Wir sind auf die grosse Lüge hereingefallen – und trösten uns mit Geschichten von Verschwörungen.

5.
Die harten Fakten sind für mich um vieles schlagender als diese Zahlenspielerei mit der Kabbala oder der Hinweis auf die Banknote (erinnert stark an den Kuklux-Clan und die Marlboro-Packung). Harte Fakten etwa ums Öl, um die Geostrategie der Amerikaner, der Rolle Zentralasiens bei der Eindämmung Chinas und die Rolle Israels als imperialischer Unterakkordant, der Kurzschliessung der saudischen Thronfolge etc pp, oder das Wissen um systematische Besetzung aller wichtiger gesellschaftlicher Institutionen durch die amerikanische Ultrarechte seit Reagan, oder das Wissen, dass ich in Papieren von Cheney und Wolfowitz und Libby und Rumsfeld etc seit mehr als zehn Jahren all dies lesen kann, was sie jetzt tun (der 11.9. also nichts verändert hat, er war nur der ersehnte Vorwand war und wäre es nicht das WTC gewesen, hätte es einen anderen gegeben), oder den Aufbau der Neofundis durch die CIA (nachzulesen in Senatsdokumenten, recherchierbar auf dem Terrain) oder die aktenkundige Tatsache (Knesset-Befragung), dass Israel den Hamas-Scheikh Yassin aus agyptischem Knast freigekauft und im Gaza-Streifen angesiedelt hat, um einen Konkurrenten zur PLO aufzubauen etc.

Und da kommen wir zum Kern. Schlimm ist nicht die Verschwörung, schlimm ist die Mechanik des Systems. Das System, das sind nicht ein paar Milliardäre, die in geheimen Sitzungen mit kabbalistischem Ritual oder freimaurerisch oder was auch immer die Welt steuern. Schlimm ist nicht die Verschwörung, schlimm ist die Mechanik des Systems.Das System ist eine brutale, komplexe Mechanik des Kapitals, das sich nicht nur immer mehr Länder, Gesellschaften etc unterwirft, um sie besser auszupressen, sondern zunehmend auch das Leben selbst, die Biomasse, den Menschen. Die Abschaffung des autonomen Individuums bei uns im Westen ist der nächste Schritt.

Ich habe 15 Jahre lang über islamische Gesellschaften geschrieben und geforscht. War sehr oft da. Übrigens auch in Israel. Ich mache ein radikal andere Analyse des Islamismus, des politischen Islam, als hier üblich ist. Ich habe in der WOCHE mehrmals Zweifel an der Urheberschaft Osama bin Ladens angemeldet. Aber ob es ObL war oder nicht, ist leider nicht wichtig. Fakt ist, dass der globalisierte Kapitalismus Monster produziert. Zuhauf. ObL, Abu Nidal etc. sind die dunklen Zwillinge des Westens, wie Arundhati Roy schreibt. Denn Macht ist nie nur schiere Gewalt. Macht ist immer eine Beziehung. Das ist, wenn man diesen Menschen begegnet, das Perverse: Der Unterdrückte, der Rebell im finalen Kapitalismus ist ein Abziehbild des Herrschers. Zugleich sein radikalster Gegenspieler und der Mensch gewordene Beweis der zerstörerischen Kraft des Empires. Ashcroft, der US-Innenminister und Osama sind eineiige Zwillinge, bis hin zu Details in ihrem religiösen Wahn, ihrer Sprache... Den guten Guerillero gibt es nicht mehr, Stil Che. ObL hängen wir uns nicht an die Wand. Dem späten Kapitalismus wohnt eine ungeheure, prämillenaristische Todessehnsucht inne. Er zerstört Gesellschaften, er zerstört die Individuen. Herr Bush braucht keine CIA-Kabale. Israel musste Abu Nidal nicht bezahlen. Er tat seinen Job für Grossisrael, weil er ein Produkt Israels war. Bin Laden, oder wer auch immer es war, brauchte kein kodiertes "Go" aus Washington. Nun, vielleicht hat er es bekommen. Aber das wäre nur eine Sideline. Kein Skandal. Der Skandal ist die tausendfache Produktion von Monstern, die millionenfache Zerstörung von Menschen durch IWF, Konzerne, Banken und ihre lokalen Statthalter. Nicht vergessen: Die meiste Gewalt der Unterdrückten richtet sich nicht gegen den Unterdrücker, sondern gegen sich selbst. Der algerische Arbeitslose in der Pariser Banlieue zündet als erstes seinen Briefkasten an, dann den Aufzug in seiner 15-stöckigen Mietskaserne, dann die Bushaltestelle, die seine einzige Verbindung zur Aussenwelt ist, dann den einzigen Laden für 20 000 Menschen, dann die Schule, die ihn zum Unidiplom aber nicht zu einem lebenswerten Leben geführt hat. Immer wieder brennt die Banlieue. Warum brennen nie die Champs-Elysées? Die Weltbank selbst hat erforscht: Jedes Mal, wenn der IWF mit seinen Strukturprogrammen über ein Land gegangen ist, vervielfacht sich die Kriminalität.

Die USA arbeiten zwar sicher auch mit Verschwörungen, in erste Linie aber mit Selffullfilling prophecy. Bush versucht seit Monaten mit allen Mitteln, eine Attacke Saddam Husseins zu provozieren. Mit seinem Krieg schafft er all die Monster, die die Abschaffung der letzten Reste Demokratie in den USA rechtfertigen, die Ashcroft längst betreibt, nicht erst seit dem 11.9. Das Empire schafft sich seine Feinde selbst, genau so wie es sie braucht. Keine Frage: Der 11.9. war in allem genau das, was Bush brauchte. Das Vertrackte dabei ist, dass er (oder Rumsfeld oder W....) gar keine Verschwörung brauchen. Sie herrschen seit 50 Jahren über den Nahen Osten. Er ist ihre Produktionsstätte für Öl und die erwünschten Monster. Wir sind am Anfang eines grossen Krieges der Kulturen. Aber eigentlich gibt es gar keinen Krieg der Kulturen. Der irakische Filmer Samir steht mir kulturell unendlich viel näher als Bush, sogar der Hodjatoleslam Qahiri, mit dem ich in der Hochburg der iranischen Geistlichen, in Qom, drei Tage über Sartre, Freud, Foucault, Marx diskutierte. Kann ich mit Dick Cheney über Houllebeq oder Eco diskutieren, geschweige denn über Abd el-Kadr, Shukrallah oder Marsilia Sound System? Der Krieg der Kulturen ist eine Hollywood-Produktion, eine Erfindung Amerikas. Nur mit einem Unterschied: Die Millionen Toten sind echt.

Und daran erkennen wir die andere Seite dieses Krieges: Er ist zuerst ein Krieg gegen innen, ein Krieg gegen die europäische Kultur im Westen. Vor der physischen Gewalt kommt die symbolische. Der Herrscher beharrt auf der Einsicht der Opfer in ihr Glück, unterworfen zu sein. Die Gewalt muss in die Köpfe, um mächtig zu werden. Dieser Tage titelte ein neurechter Jungredakteur in der ZEIT: Vom Glück, ein Vasall zu sein.

Wohl bekömm's. Aber wollen wir dem entgegen treten, dann gibt es einen zwingenden ersten Schritt: Selbst denken, unterscheiden und Texte wie jenes PDF, das uns Moritz schickt, sogleich kübeln. .

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