vorbereitungen für
den ausnahmezustand

Oliver Fahrni, Zürich, Februar 2004

Im Windschatten des Irakkriegs bricht eine autoritäre Epoche an: Die rechte Revolution marschiert auch in der Alten Welt

Wehe, Nicolas Sarkozy kommt zu Besuch. Keiner inszeniert die Paranoia so drall wie der französische Ex-Innenminister [Anm.: Inzwischen ist Sarkozy Wirtschafts- und Finanzminister, nbo]. Zuerst schickt er die Kavallerie. In der Nacht zum 13. Februar besetzte eine Hundertschaft Gendarmen Rillieux-le-Pape, eine Vorstadt Lyons. Sie stellten eiserne Abschrankungen auf, bauten die Tagungshalle zur Festung aus, bezogen lauernd Stellung. Sarkozy hatte Rillieux als eines von 23 „Pilotquartieren“ für seinen „Kampf gegen die Unsicherheit“ ausgeguckt. Bürgermeister Jacky Darne fragt sich noch immer, wie es dazu kam. Rillieux ist eine Vorstadt wie viele andere; starker Anteil Zugewanderter, viele Kids, die übliche Trostlosigkeit und Prekarität (samt Kriminalität) der Banlieue. Selbsthilfegruppen bemügen sich darum, den Ort lebenswerter zu machen.

Auftritt Innenminister. TV-Kameras laufen. „Sarko“ holt eine Gruppe Jugendlicher in den Saal. Sein Stab orchestriert den verbalen Schlagabtausch. TV-Frankreich sieht: Sein erster Flic ist ein ganz Harter. Als der Präsident einer NGO, die hier seit 20 Jahren alphabetisiert und den Kids in der Schule hilft, vom Innenminister Mittel fordert, wird er abgeputzt: „Die brauchen hier keine Töpferkurse.“ Was in Rillieux wirklich los ist, interessiert Sarkozy nicht, Widerspruch hasst er. Ein paar Tage zuvor hatte ein junger Mann im Problemquartier Hautepierre bei Strasbourg mehr Jobs gewünscht. Der Minister blaffte: Unruhestifter müssten bestraft werden, mehr Videoüberwachung, härtere Richtersprüche, viel mehr Polizei, zum Beispiel Kadetten, seine Jugendbrigade. Eine Stunde lang schüttete er polizeiliche Massnahmen aus. In sechs Monaten, sagte er, werde er zurückkommen, um die Fortschritte zu überprüfen.

Sarkozy, manisch-repressiver Kopf der Neuen Rechten in Frankreich, ist ein eiliger Mann. Das Auge begehrlich auf den Präsidentenpalast gerichtet, fordert er Jacques heraus. Zwar bleibt die gaullistische Parteibasis Chirac noch zugetan, doch sie liebt schon den kleinen, alerten Sarkozy vom brutalen Gemüt. Er könnte die autoritäre Wende, die Chirac nur teilweise gelingt, vollenden.

Ohnmächtig erleben Demokraten, wie er Bürgerrecht um Bürgerrecht schleift: Ein restriktives Ausländerrecht setzte er durch, eine erste Verschärfung der Justiznormen, ein rabiates Gesetz zur Inneren Sicherheit. Wann immer er kann, schiesst Sarkozy ein Dekret auf die Demokratie ab. Dieser Tage etwa wies er seine Chefpolizisten an, Richter systematisch zur Rede zu stellen, wenn eine verhängte Strafe zu milde ausfalle. Von Gewaltenteilung, Grundlage demokratischer Machtkontrolle, hält der Innenminister nichts – von der rechten Revolution seiner Kumpane in Italien und USA um so mehr.

„L’insécurité“, der „Kampf gegen den Terrorismus“ ist Sarkozys Element, er badet in der Angst der BürgerInnen, kultiviert die neurotischen Routinen des Alarms. Aufmerksamen Beobachtern entgeht nicht, dass er keine Silbe davon glaubt. Aber der Vorwand ist zu schön. Dass die ambiente Panik, wie überall in Europa, ihren Grund eher im Zerfall sozialer Sicherheit und zunehmend brutaleren gesellschaftlichen Verkehrsformen findet, als in der (stagnierenden) Kriminalität, weiss der Innenminister. Sein Kapital. Wie alle Sicherheitsleute weiss Sarkozy instinktiv, dass seine Karriere an möglichst viel Unsicherheit hängt. Er, erst er, entfaltet die Kriminalität zu ganzer Pracht. Die Strippen zu ziehen, bei diesem Transfer der Angst vom Existenziellen auf die Deliquenz, auf die Banlieue, die Fremden, den Islam, das betreibt er nicht ohne Genuss.

Einmal angeworfen, nährt diese Mechanik sich selbst: Unter dem Vorwand, die Unsicherheit zu bekämpfen, pumpt Sarkozy sie zum einzigen Thema auf und schafft gar reale Unsicherheit: Nach seiner Visite in Rillieux-le-Pape waren Sozialarbeiter und andere Sozialingenieure, die meist die Explosion der Banlieue gerade noch verhindern, vor den Kids als machtlos also unnütz desavouiert.

Das lenkt den Blick weg vom grossen Abrissbagger, den die Rechte an Sozialstaat und Gesellschaft legt. Während bei Schule, Gesundheit und Kultur gespart wird, stockte Sarkozy Polizei und Dienste um Tausende von Beamten auf, band sie in enger Koordination zusammen, schuf neue Sondereinheiten, rüstete sie mit modernster Technik. Auch ohne Tatverdacht und kaum noch richterlich kontrolliert, dürfen sie nun Wohnungen und Autos durchsuchen oder abhören, Post öffnen, Menschen anhalten, biometrische und genetische Datenbanken führen und all die anderen Dinge tun, die jeder Repressionsapparat gerne tut.
Juristerei ist langweilig, die Materie ziemlich technisch und die Klage gegen neue Polizeimacht wird kaum gehört, solange scheinbar normale demokratische Verhältnisse herrschen. Doch ist es atemberaubend, in welcher Beschleunigung überall in Europa ein polizeiliches und juristisches Arsenal geschaffen wird, dass jeden Übergriff erlaubt. Mit dem Kampf gegen Terroristen schwer zu begründen etwa, dass der Flic den erwischten Loubard nun nicht mehr auf sein Schweigerecht aufmerksam machen muss. In Sarkozys erstem Sicherheitspaket wurden weit über 100 Tatbestände geschaffen wie dieser: Kids, die in Treppenhäusern rumlungern, können zu zwei Monaten Gefängnis verknackt werden. Auffallend: Die meisten neuen Strafandrohungen schützen nicht die Integrität der anderen BürgerInnen, sondern allein die Ordnung (etwa neue Vergehen gegen die Autorität wie Beleidigung der Amtsträger oder der Trikolore...).

Sinn macht derlei nur, wenn eine Gesellschaft zerfällt und die Regierung diesen Zerfall zugunsten der Kapitalinteressen befördert. Repression und Einschliessung statt sozialem Ausgleich und Chancen, die Zähmung des Bürgers durch staatliche Gewalt statt Gesellschaftsvertrag. 23 neue Gefängnisse gab Paris in Auftrag.

Lange nahmen auch Juristen und Magistraten klaglos hin, dass in ihrem Schatten ein Feld der Rechtlosigkeit wucherte. Übergriffe von Polizisten, bei denen Menschen zu Schaden oder zu Tode kommen, nahmen rabiat zu. Gefangene Frauen müssen mitunter in Handschellen gebären. Vergewaltigungen und Schläge gehören zum Alltag in französischen Kommissariaten. Nach einer Inspektionsreise durch französische Gefängnisse schrieb das Komitee zur Vorbeugung gegen Folter des Europarates, die Behandlung der Gefangenen sei menschenunwürdig. Doch dies, so schien es, waren Auswüchse, Betriebsnunfälle, Unwägbarkeiten.

Frankreichs Anwälte und Richter erwachten spät. Erst im Januar schwante ihnen, warum die neusten Pläne der Regierung (Perben 2, nach dem Justizminister Dominique Perben benannt), keine Verschärfung der Justiz waren, sondern ein Bruch mit Prinzipien des Rechtstaates. Elementare Bürgerrechte wurden geschleift. „Der Rechtsstaat ist in Frankreich ausgesetzt“, konstatiert ein Star-Anwalt des Pariser Strafgerichts.

Verdächtige können von den Polizisten nun vier Tage in Haft gehalten, pausenlos verhört und mit Schlafentzug traktiert werden, bevor sie Anspruch auf einen Haftrichter haben. Zahlreiche Bestimmungen schränken die Verteidigerrechte ein. Der Tatbestand terroristischer Vereinigung ist mit Bedacht so schwammig gefasst, dass jede Familienfête, aber auch jede politische Gruppe darunter fällt.

Doch der Kern liegt anderswo: Scheinbar auf die Terroristen und Grosskriminelle zielend, schafft Perben 2 für alle BürgerInnen die Unschuldsvermutung ab. Bisher konnte der unbescholtene Bürger, wenigstens im Normalfall, sich durch sein Verhalten den Staat auf Distanz halten. Solage er keine Gesetze verletzte, war er im Prinzip vor Nachstellung geschützt. Künftig verhält es sich umgekehrt: Die Bürgerin muss beweisen, dass sie nicht gefährlich ist. Sie, wir, jeder ist verdächtig. Heribert Prantl, Politikchef der „Süddeutschen Zeitung“ nennt das in seinem Buch „Verdächtig“ den „Geist des Präventionsstaates“.

Im Rechtsstaat treten die BürgerInnen die Gewalt an den Staat ab und bekommen im Tausch den Schutz vor ihresgleichen und der Macht des Staates. Das blieb zwar oft Theorie und spätestens seit Foucault wissen wir, dass andere essentielle Dispositive der Macht für unsere Zucht und Selbstzucht sorgen. Aber die direkte Gewalt war im Rechtsstaat weitgehend gezähmt. „Gesetze meinen die Pflichten des Staates gegenüber dem Bürger“, sagt der Pariser Anwalt Stéphane Donte, „Perben 2 verwandelt das in eine Sammlung der Rechte des Staates gegen den Bürger.“ Der Präsident der Vereinigung der Strafverteidiger, Jean-Yves Le Borgne, gibt an, zwar Chirac gewählt zu haben, aber hält fest: „Wir nähern uns einer totalitären Vision der Gesellschaft.“ Sogar Francis Szpiner , Freund und Anwalt Chiracs, Drahtzieher im Schwarzen Kabinett des Elysées, nennt die neuen Gesetze „infam“.

Da bricht etwas auf, was den merkwürdigen Tatbestand erklären könnte, dass die selben Metamorphosen der öffentlichen Ordnung und des Justizsystems gleichzeitig alle europäischen Staaten heimsuchen – und warum dies ein historischer Bruch ist.

In Italien führt der Berlusconi-Clan Krieg gegen eine unabhängige Justiz und hat sich eine Reihe Gesetze, inklusive Strafgesetze, massgeschneidert. Tony Blairs Grossbritannien ist federführend, wenn es darum geht, neue Kontrollinstrumente gegen den Bürger zu entwickeln, etwa biometrische Identitätskarten. Zuhause hat er mit Dutzenden von Gesetzen auch banalste Freiräume der BürgerInnen aufgerollt.

In Deutschland stand ein vollständiges Arsenal der Repression, mit zahlreichen Sonderbefugnissen für Polizei, Justiz und Polizei, noch aus Zeiten der Roten Armee Fraktion bereit – und wurde auch weidlich genutzt. Raster- und Schleppnetzfahndung, elektronische Bespitzelung in jeder Form, Lauschangriff, Einschleusung von verdeckten Ermittlern und mehr stammen schon aus den 70er Jahren. Jeder terroristischen Bedrohung wäre damit trefflich beizukommen gewesen. Dennoch drückte der sozialdemokratische Bundesinnenminister Otto Schily zwei Sicherheitspakete mit zahlreichen Gesetzesnovellen durch.
Wozu? Der totalitäre Geist des Amtsinhabers erklärt manchens, aber kaum, warum überall in Europa, gleichzeitig und beschleunigt Bürgerrechte zerstört werden. Schaut man sich die Schily-Pakete genauer an, so wird zu einen schnell deutlich, dass auch hier jeder Bürger, jede Bürgerin ein Verdächtiger, ein Unsicherheitsfaktor wird. Der Bürger als einzelnes, souveränes Subjekt ist also aufgehoben, er ist zum Partikel einer potentiell feindlichen Masse verkommen, die überwacht und niedergehalten werden muss. Das Individuum sieht sich ausgelöscht.

Zum anderen wird der Ausnahmezustand ausgerufen, von Schily, Sarkozy, Blair, Berlusconi... Faszinierend, dass wir dies kaum wahrnehmen, noch in einer scheinbaren Normalität gefangen, und dass die Regierenden gleichzeitig die Notwendigkeit erkennen, die Rechte des Bürgers stark einzuschränken. Dies nur als mehr Repression zu deuten oder in Verschwörungstheorien zu verfallen, wäre etwas kurz, um einen Epochenbruch zu beschreiben: Der Ausnahmezustand beschreibt den Übergang zu einer neuen Herrschaftsform. Das Kapital und die globalisierten Eliten haben sich von ihren Gesellschaften gelöst. Die Gesellschaft wird zerschlagen, die Öffentlichkeit geschleift. Und da stehen die Verhältnisse mit einmal nackt, die vermittelnden Institutionen vermitteln nicht mehr.

Da können die neuen Oligarchien von Recht und Rechtsstaat sich nur bedrängt fühlen. An die Stelle des Rechts muss, seiner alten Dialektik folgend, wieder die Gewalt, der Zwang, die schiere Macht treten. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben beschreibt den Vorgang, in Anlehnung an Carl Schmitt, den sich die Vierte Rechte als Vordenken genommen hat, sehr präzise (in „Homo sacer“). Er nennt das politische System des Westens eine „doppelte Maschine“, in der Recht und reine Gewalt, Ordnung und Begehren, Gesetz und Lebensformen gegenübertreten – und der Ausnahmezustand, also die Aufhebung des Rechts, regelt periodisch, ihr Zusammenspiel.

Nun aber, da Gesellschaften als Ort des Ausgleichs zerfallen, stellt sich die Frage, ob der Ausnahmezustand nicht mehr ist – eine Herrschaftsform an und für sich.

Er kann sich dabei, kleine Ironie, durchaus in neue Gesetze kleiden. Hatte das römische Imperium noch die gesetzliche Normierung im Sinn und war darin erfolgreich, wollen die globalen Eliten des Empire nur eines nicht: Verbindliche Rechtsnormen. Darum haben all diese neuen Gesetze diesen merkwürdigen Doppelcharakter: Sie sind fast durchwegs Novellen, die ein verbrieftes Recht des Bürgers gegenüber dem Staat zurücknehmen. Sie sind Anti-Gesetze.

Das mögen Frankreichs Richter, Anwälte und Staatsanwälte erkannt haben, als sie im Februar mit Streiks und Demos in Robe Aufruhr in den Justiz-Palästen stifteten. Perben 2 aber ging im Parlament durch, obschon sich alle Verbände der Juristen, ob links oder rechts, gemeinsam wehrten.

Da bekamen die Richter ein Aperçu für die Verachtung des Rechts durch die regierende Rechte. Alain Juppé, der frühere Premierminister, wurde von einem Gericht in Nanterre wegen illegaler Parteienfinanzierung und Korruption verurteilt. Präsident Chirac hatte die Stadt Paris zu einer gaullistischen Kampfmaschine, den Immobiliengaullismus zu seiner schwarzen Kasse gemacht, Juppé war seine rechte Hand. Nur Minuten nach dem Urteil gegen Juppé, das jedeR als indirekte Verurteilung des Präsidenten las, startete das Unternehmen „Märtyrer“. Juppé sei ein Opfer politischer Justiz, tönte Chirac an und die ganze Rechte, Justizminister zuvorderst, prügelte auf die Richter ein. Perben liess gar durchblicken, er suche nach Wegen, den Verurteilten rauszuhauen. Das befördert den Rechtssinn der BürgerInnen.

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