impressionen aus dem
castro-erlebnispark

Niels Boeing, Hamburg, August 2003

1953 begann mit dem Sturm auf die Moncada-Kaserne die kubanische Revolution. Fünfzig Jahre glaubt nur noch Fidel an den Sozialismus. Die Kubaner bereiten sich schon mal auf den Kapitalismus vor

Während die Maschine den Atlantik überquert, tollen Bilder durch meinen Kopf. Alles Klischees: der Che mit dem weit in die Ferne gerichteten Blick, die Oldtimer des Buena Vista Social Club, Zuckerrohrstauden, Fidel fuchtelnd an einem Rednerpult, sozialistische Arbeitsbrigaden... Warum fahrt ihr nach Kuba, haben viele verständnislos gefragt? Ich will es sehen, bevor Castro stirbt, habe ich geantwortet. Will sehen, ob es noch eine Alternative inmitten der Globalisierung gibt, habe ich hinzugefügt. Noch verständnislosere Blicke. Vielleicht auch verstehen, warum Castro regelmäßig stehende Ovationen bekommt, wenn er auf internationalen Konferenzen Brandreden hält. Mein Wohlwollen hat er. Ein skeptisches Wohlwollen.

Der Mythos Kuba beginnt also in Holguin. Die Horde der Gelandeten setzt ihn in einem Reisebus fort, der sie zu einer Enklave bringt. Irgendwo unten an der Küste, sagen zwei Hamburger. Für zwei Wochen, alles mit dabei. Lieber nicht. Wir steigen in Santiago de Cuba aus.

36 Stunden später ist der Mythos schon in Auflösung begriffen. Alle zehn Minuten quatscht uns einer von diesen jungen Checkern an. Dollarzeichen glänzen in den Augen. "Come to my mother's paladar", "Want a good meal?", "Shrimps, Lagosta...!" Weil ich aus dem Westen komme, brauche ich dauernd Langusten, oder wie? Diese Gequatsche ist fast wie Indien, denke ich. Und falle kurze Zeit später wieder auf eine Frage rein. Es geht immer nur ums Geld.

Joaquin, wie funktioniert das mit den Pesos? Der Besitzer unserer Casa ist ein entspannter Typ. Bringt Dorothee zum Valentinstag ein Sträußchen mit. Es gibt kubanische Pesos und konvertible Pesos, sagt Joaquin. Ja, das habe ich gelesen, aber ich kapier noch nicht, wie das in der Realität läuft. Er zeigt mir das konvertible Kleingeld. Das ist das Wechselgeld für den Dollar. Und was kann ich mit den kubanischen Pesos machen? Joaquin lächelt.

Auf der Enremada und der Aguilera, den Haupteinkaufsstraßen mit den tollen alten Leuchtreklamen, herrscht ein wahnsinniges Gedränge. Aber ganz ohne Verkehr und Tempo. Die Leute schlendern in Massen. Kaufen sie, organisieren sie oder schlagen sie die Zeit tot, frage ich mich? Die offiziellen Schaufenster sind fast leer und verstaubt. So etwas sieht man bei uns schon wieder in Trash-Galerien. Vor einem Blumenladen steht eine Schlange. Vor dem Devisentausch sogar zwei Schlangen. Das macht mich nervös. Diese Langsamkeit. Ich hab mich so daran gewöhnt, dass man immer alles auf der Stelle, im nächsten Augenblick organisieren kann. Ich hab es noch nie in Frage gestellt.

Aber die Langsamkeit ist überhaupt nicht entspannt. Die Leute lächeln nur ganz sparsam. Sie überlegen. Sie rechnen. Ein paar gehen ganz selbstverständlich am Türsteher vorbei in den Dollarshop. Das sind Leute wie Joaquin, die Dollars verdienen. Dort ist alles wie in Hamburg, auch die Preise. Es fehlt nichts. Fernseher, Waschmaschine, sogar Computer. Man kann schon alles kaufen. Im Prinzip.

Als wir zurückkommen, sitzt ein Typ im weißen Hemd in einem Schaukelstuhl bei Joaquin im Patio. Vor sich hat er ein Buch, und er geht Abrechnungen durch. Joaquin greift sich ans Kinn. Dann macht er eine Geste, als ob er sich das Kinn langziehen will. Der Bärtige. Ja, Castros Leute. Joaquin ist kein Dissident. Er wartet geduldig, bis der Spuk irgendwann vorbei ist. Der ganze Spuk.

Wir fahren nach Manzanillo. Joaquins Frau ruft ihre Schwester an, bei der wir übernachten können. Am Rande einer Plattenbausiedlung werden wir in einer Art Bauhaus-Bungalow einquartiert. Coole Architektur. Im Garten des Nachbarn grunzt ein Schwein. Innen Bücherregale voller medizinischer Fachliteratur. Der Mann der Schwester ist Arzt. Für uns legt er sich eine Nacht aufs Sofa, um auf das Auto aufzupassen. Man weiß ja nie, sagt er. Dafür will er am nächsten Tag acht Dollar extra. Ich bin verwirrt, er registriert das, geht kurz rein, diskutiert mit seiner Frau, kommt wieder raus, vier Dollar. Und in seinen Augen sehen ich ein Unbehagen aufblitzen, fast als ob ihm das ganze peinlich ist. Er ist doch eigentlich eines der wenigen Vorzeigeprodukte der Revolution, ein Exportartikel sogar, und verdient dafür umgerechnet vielleicht 20 Dollar im Monat. Und hier kommen nicht viele Touristen vorbei.

Die Revolution hat gar nicht weit von Manzanillo begonnen. In den Bergen der Sierra Maestra, in der Comandancia de la Plata. 30 Monate haben die Rebellen im Bergdschungel in einem Hüttendorf ausgehalten. Batistas Luftwaffe genarrt. Der Ort hat etwas. Das Lazarett, Castros roh gezimmerter Schreibtischbalkon, sein Donnerbalken geben der Legende eine menschliche Dimension. Fast 50 Jahre ist das her. Es gab eine Vision, die Radio Rebelde unablässig von hier verkündete.

Unten auf den langen leeren Landstraßen verliert sie sich. Tafeln mit Durchhalteparolen, ein Lob an Fidel als Graffitto an einer Bushaltestelle, und immer wieder der Blick des Che in die Ferne. Der neue Mensch, seine Traum, sitzt bei uns im Auto. Die jüngste Generation. Ungeduldig. Sie weiß, was in Miami geht. Was mit Dollars geht. Nicht wir nehmen sie mit. Sie nehmen uns mit, eine gute Transportgelegenheit zum Schulbeginn. Am Ende, nach 500 Kilometern, kein "Gracias". Schon gut, denke ich, halten wir uns nicht mit Förmlichkeiten auf.

Irgendwann gewöhnt man sich an die bösen Blicke im Rückspiegel, an geschüttelte Fäuste, ja Fuck-Finger, wenn man einmal am Ortsausgang, wo Menschentrauben auf die wenigen Busse und LKWs warten, niemanden mitnehmen will, um allein zu sein. Der ganze Frust, auf die Fremden angewiesen zu sein, entlädt sich spontan. Und wenn diese helfen, scheint die Demütigung fast noch größer zu sein. Wie ein Querschnittsgelähmter, der seinen Pfleger verachtet, sagt Dorothee, die vor Jahren mit einem Querschnittsgelähmten durch Griechenland gereist ist.

Weil keiner allein etwas ändern kann, warten alle. Auf die Zeit nach Castro. Die Zeit, die sich keiner vorstellen kann, vorstellen will. Carlos Lange – Castros Vize und Wirtschaftskopf – ist ein guter Mann, der könnte das Land weiterbringen, sagen einige. Es klingt ein bisschen, als wollten sie sich beruhigen. Die meisten zucken mit den Schultern. Nur auf Fidel lassen sie nichts kommen, da sind sich fast alle einig. Es sind die Schranzen, die Beamten, die Parteileute unter ihm, die das Land ruinieren, sagen sie. So ist das.

Die Kinder der Schranzen treffen sich zum Beispiel in einem gut gekühlten Jazz-Club in Miramar. Dort sieht Havanna aus wie eine Mischung aus Miami und L.A. Keine Oldtimer mehr. Kein Son. Funk und Soul spielt die Band, und ihre Freunde in den trendigen Klamotten feuern sie frenetisch an. Hat sich was mit Buena-Vista-Nostalgie. Sechs Kilometer westlich vom kaputten Centro Habana können einige offensichtlich schon in der Zukunft leben.

Auf dem Rückweg versacken wir noch in einer kleinen Bar. Die liegt 50 Meter neben dem berühmten "El Floridita", einer Farce für Touristen auf dem Hemingway-Pfad. In der Bar trinken neue Hemingways – das hoffen sie jedenfalls –, Nutten – die alle zwei Stunden von der Polizei zur Wache gefahren werden –, Nachteulen, ein paar Reisende und Schlitzohren. Einer nennt sich Roger Cuba. Welch großartiger Name, denke ich. Unter diesem macht er diverse Geschäfte, halblegal, irgendetwas mit Filmen. Roger, was kommt nach Castro? Die Amerikaner übernehmen das Land in vier Wochen, sagt er. Mit einem Lächeln: Es kommt wie es kommt, und ob es besser oder schlechter wird, kann man dann immer noch sehen.

Um vier Uhr früh gibt Havanna für kurze Zeit Ruhe. In wenigen Stunden beginnt der nächste Tag in der Warteschleife. Ich lese noch ein paar Seiten in Pedro Juan Gutiérrez' "Schmutzige Havanna-Trilogie", die mir meine Schwester mitgegeben hat: "Es ist die neue Zeit", steht da. "Auf einmal braucht man Geld. Wie immer macht Geld alles platt, was ihm im Weg steht. Fünfundreißig Jahre wurde der neue Mensch aufgebaut. Und das ist jetzt vorbei."

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