willkommen im
politischen hyperraum

Niels Boeing, Hamburg, Juni 2003

Wie schön war das, als es noch links und rechts gab. Alles so übersichtlich. Irakkrieg und Reformstreit haben uns in die komplexe Kälte der "Phasenräume" gebeamt. Hier skizzieren wir einen mit 8 Dimensionen für 256 Parteien – bis zur nächsten Wahl könnten es aber locker mehr werden

Schröder pokert um seine "Agenda 2010" und gewinnt, Jusos und Gewerkschaften toben, die Union ist ratlos, und überall nur das eine Wort: Reform. Keiner von uns weiß mehr, was alles zu reformieren ist. Keiner weiß mehr, wo er steht. Sicher ist nur: So soll es nicht weiter gehen, die Bundesrepublik ist nach 54 Jahren verkrustet, unter dem Staub anachronistischer politischer Debatten begraben, ihr Selbstverständnis in Europa, in der Welt unklarer denn je.

Rechts? Links? Who cares? Wer noch daran aus Bequemlichkeit festhielt, sollte dieses Schema spätestens seit dem Irak-Krieg in die Tonne treten. Zwar ahnten wir schon, dass rechts-links nicht mehr so richtig passt, aber Bushs Feldzug hat Verwerfungen in der politischen Landschaft offenbart, vor allem in der Linken, die noch vor kurzem undenkbar waren.

Gestandene bis radikale Linke feiern Bush als "Man of peace", der die barbarische islamische Despotie in einem antifaschistischen Feldzug zerschmettert hat. Altlinke wie Enzensberger oder taz-Korrespondenten hetzen gegen Pazifisten, die in der Tat plötzlich von rechtsaußen umarmt werden und sich mit Typen wie Horst Mahler beim Protestmarsch wiederfinden. Globalisierungskritiker werden von links als potenzielle Antisemiten geziehen. Hier ist der grafische Versuch, das Durcheinander auf immerhin vier Pole und eine dicke, fette Mitte zu reduzieren:



Aber nehmen wir das nicht zu ernst. Wenn wir es nur mit vier Polen zu tun hätten, wäre ja alles recht einfach. Es ist in Wirklichkeit noch viel schlimmer. Tatsächlich befinden wir uns in einem "n-dimensionalen politischen Phasenraum", wie der Physiker sagt. Die politische Identität eines jeden von uns - EINES JEDEN - lässt sich längst nur noch als mathematische Hyperebene beschreiben, die durch n politische Werte-Achsen charakterisiert wird. Nichts verstanden?

Schauen wir doch mal, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, was das für Achsen sind:

- 1. Dimension - Organisation des Sozialstaats: a) Regiert das Solidaritätsprinzip oder b) das Subsidiaritätsprinzip? Auf deutsch: Bezahlen andere schon für meine Grippe mit, oder erst, wenn ich richtig teuer ein Bein amputiert bekommen muss?
- 2. Dimension - Steuern: a) Soll umverteilt werden mittels Vermögenssteuer und fetten Steuersätzen für Reiche und Konzerne, oder b) sollen niedrige Steuersätze unternehmerisches Handeln - gern auch als Ich AG - ermutigen?
- 3. Dimension - Zuwanderung: a) Ist das Boot voll mit Sozialhilfe schnorrenden Ausländern oder b) brauchen wir qualifizierte Arbeitskräfte in den Branchen, auf die zu wenig Inländer Lust hatten?
- 4. Dimension - Bildung: a) Sollen Schüler und Studenten endlich anstrengende, international wettbewerbsfähige Inhalte büffeln oder b) sich weiterhin billig, also auf Staatskosten, für das ganze Leben bilden?
- 5. Dimension - Internationale Konflikte: a) Gilt das Völkerrecht ohne Wenn und Aber, werden Konflikte, wenn überhaupt, nur durch die UNO gelöst, oder b) brauchen wir endlich Menschenrechtskriege, die von einer wirklich starken Weltpolizei geführt werden und den Weg in ein lichtes 21. Jh. ebnen?
- 6. Dimension - Staatsfinanzen: a) Sind die Neu-/Verschuldungsgrenzen des Maastricht-Vertrags und des Grundgesetzes heilig, weil Ausdruck ökonomischer Weisheit, oder b) brauchen wir einen neokeynesianischen Staat, der Geld unters Volk bringt, das er nicht hat, und so die Konjunktur wieder ankurbelt?
- 7. Dimension - Globalisierung: a) Sollen die Volkswirtschaften des Westens ohne Wenn und Aber für die Produkte der Entwicklungsländer geöffnet werden, um ein gerechteres Weltwirtschaftssystem zu ermöglichen, oder b) müssen in der Dritten Welt erst einmal Kinderarbeit, Fronarbeit und Raubbau an der Natur im Namen der internationalen Wettbewerbsfähigkeit ausgemerzt werden?
- 8. Dimension - Minderheitenschutz: a) Brauchen wir Affirmative Action, weil Verbote allein die unausgesprochenen Gepflogenheiten, die "Anderen" draußen zu halten, nicht unterbinden können oder b) ist Affirmative Action eine besonders subtile Form der Diskriminierung, weil die "Anderen" wie Minderbemittelte behandelt werden?
...

Ich habe jetzt nur die Pole der jeweiligen Achse aufgezählt. Grautöne, also c), d), e) usw., gibt es bei jeder Antwort zuhauf. In diesem 8-dimensionalen Politikraum könnten wir mit 256 Parteien alle denkbaren a)-b)-Kombinationen vertreten. 256 Parteien! Wir haben aber noch nicht einmal 10 nennenswerte. Bei welcher Partei bin ich richtig, wenn ich ein 1a-2b-3b-4b-5a-6b-7a-8a-Mensch bin? Was ändert sich, wenn ich von 5a nach 5b wechsele, aber sonst alles gleich lasse? Muss ich dann gleich eine andere Partei wählen? Oder besser gar nicht wählen? Und was ist, wenn ich 2, 3 und 5 für reformwürdig halte, ein anderer aber 4, 6 und 8? Ein Dritter 1, 5 und 7? Ein Vierter 2, 4 und 7?

Viel Spaß, Gerhard! kann man da nur sagen. Möchte einer gerne regieren?

PS: Für Vorschläge zu weiteren essentiellen Polit-Dimensionen bin ich dankbar. Ich bin sicher, dass wir es nicht nur mit einem acht-dimensionalen "politischen Phasenraum" zu tun haben.

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