progressive politik -
versuch einer positionsbestimmung

Niels Boeing, Hamburg, 30.8.1999

Gezeichnet von der Katharsis des real existierenden Sozialismus 1989,ausgezehrt von den Festen der Pop-Kultur stolpert die Linke am Ende der 90er durch theoretisches Niemandsland.

Inzwischen haben neoliberale "Modernisierer" den politischen Diskurs besetzt und sich zur Avantgarde des gesellschaftlichen Wandels erklärt (siehe brief 99.5). Das Kapital diktiert: die neue Ästhetik, die neuen Werte, die neue Ordnung, nichts bleibt, wie es war. Der Spielplan für die neue Saison ist gerade draußen: Anpassung an die Vorgaben des globalen Kapitalismus.

Die Antworten sind alle schon fertig, es geht nicht mehr um unsere Phantasie, um unsere Bereitschaft umzudenken, es geht nur noch um unsere Bereitschaft zu akzeptieren. Linke Politik steht im Verdacht, "Besitzstände" wahren zu wollen. Ein Wortungetüm, das suggeriert, das untere Drittel (oder sind es zwei Drittel?) besäße überhaupt etwas. Progressive Politik muß die Dogmen gegenwärtiger Politik als solche benennen. Wie die Glaubenssätze aller Epochen sind sie nicht begründbar und bloße Konvention - stellen wir sie zur Disposition:

1 Das Dogma von der Unantastbarkeit des Eigentums. Marx mag tot und der Ostblock zusammengebrochen sein - na, und? Das Ungeheuer der Kapitalakkumulation lebt!

2 Das Dogma vom Wettbewerb der Nationen. Es verschweigt geflissentlich, daß es Sieger nie ohne Verlierer gibt. Die Wahnvorstellung der Industriestaaten, "Exportweltmeister" sein zu müssen, ruiniert die Grundlagen einer friedlichen Koexistenz der Staaten.

3 Das Dogma vom materiellen Wachstum. Rohstoffe, Trinkwasser und die Verfügbarkeit von Ackerland sind endlich. Da wir in einer Geldwirtschaft leben, ist Wachstum unverzichtbar - solange wir keine neue Wirtschaftsordnung finden, kann Wachstum in Zukunft nur noch immateriell und qualitativ sein.

4 Das Dogma des Individualismus. "Jeder ist seines Glückes Schmied" heißt es, in Wirklichkeit geht es längst darum, gerade noch auf den abfahrenden Zug aufzuspringen und sich nicht mehr um die zu kümmern, die nicht die nötige Kraft und Schnelligkeit haben.

5 Das Dogma der Parteiendemokratie. Niemand versteht, warum allein die Parteien dem Allgemeinwohl, andere gemeinnützige Organisationen aber nur Teilinteressen verpflichtet sein sollen, was sie von der politischen Willensbildung ausschließe. NGOs ins Parlament!

6 Das Dogma "professioneller" Politik. Europa muß endlich eine Demokratie werden. Stattdessen haben wir es, zunehmend auch in den Mitgliedstaaten, mit einer Politik "von oben" zu tun. Roman Herzog diffamiert gar die politische Willensbildung in Parlamenten und Öffentlichkeit als "Zerreden von Problemen", wo "schnelles Zupacken" gefragt wäre. Eine Ungeheuerlichkeit. Progressive Politik muß aber vor allem eine Richtung zeigen:

- Schluß mit den "Staaten im Staate" - Multinationale Konzernen zahlen keine Steuern, picken sich in jedem Gemeinwesen das Beste heraus, ohne dafür aufzukommen. Konzentrationen, Fusionen müssen verhindert und Kartelle radikal zerschlagen werden. Schaffen wir Rahmenbedingungen für ein dezentrale Wirtschaftsordnung der kleinen Einheiten.

- Schluß mit dem "freien" Welthandel. Setzen wir uns stattdessen für regionale Binnenmärkte ein, in denen die jeweilige Bevölkerung noch den Hauch einer Chance hat, über Entwicklung mitzubestimmen.

- Schluß mit der Produktion von immer mehr Gütern. Nein, produzieren wir weniger! aber dafür besser! Die Wertschöpfung muß in der Zunahme von Qualität, in immateriellen Dienstleistungen und in der Gegenwartskultur stattfinden.



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