west-östliches schattenboxen
Niels Boeing, Varanasi, März 1996

Sind der Westen und Asien so verschieden: Europa und die USA bis auf die Knochen materialistisch, Indien dagegen leuchtend spirituell? Ein paar Gedanken eines verwirrten Globetrotters

Varanasi ist die Kulmination Indiens: Was für ein wunderbares Flußufer mit all den Ghats, Palästen und Gopurams, was für ätzende Rattenfänger, welche Weite über der staubigen Sandbank, welche Abgründe an Eindrücken, welche Schwere des Ortes, die wie Blei über dem Manikanika Ghat liegt. Aufgedunsene Leichen von Kühen, Hunden und Heiligen stranden und werden in Stunden von Aasgeiern blankgefressen. Reinige die Selle in der Kloake des Ganges, verbinde Erlösung und Geschäft, Mystik und Geld in nie gekanntem Maße. Hier ist alles möglich, verkauft jeder alles, kennt jeder jede Branche, werden die Grenzen gesprengt.

Ein guruartig aussehender Inder Ende vierzig redet salbungsvoll auf uns ein. Was interessant anfängt, entpuppt sich als die Kunst, das Offensichtliche in viele leere Worte zu fassen. Ach, was wir doch naiv und materialistisch im Westen sind. So erklärt er Dinge, die wir nicht wissen wollen, und kommt nie zum Punkt.

Das spirituelle, zeitlose, verborgene Indien wird als Meßlatte für den realen Westen genommen. Dann sieht der Westen schlecht aus. Hey, der Kolonialismus ist vorbei, und wir sind nicht unsere Großeltern, wir hatten die 60er (lange werden wir sie nicht mehr haben), was wißt Ihr in Indien davon? Was passiert, wenn wir das reale Indien mit einem idealistischen, aufgeklärten, humanistischen Westen vergleichen, wie es bigotte missionseifrige Kolonialherren lange taten?

Das werdet Ihr ablehnen, zurecht, aber seid endlich auch selbstkritisch, denn das ist, was die 60er für uns bedeuten: Selbstkritik der bürgerlichen Welt des Westens. Katholischer Popanz, 33 Crore Götter können wir auch zuhause haben, also speist uns nicht ab. Eure Liebe zum Geld entspringt praktischen Erwägungen, Eure Familienstruktur auch, wie Ihr alle, gleich welcher Bildung, nicht müde werdet zu betonen. Ist das nicht verdammt rationalistisch? Wo ist die Seele, wo sind tiefe, menschliche Gefühle, wenn es immer nur ums Funktionieren und Überleben in der großen Gesellschaft geht? Ist das nicht westlicher Materialismus und Rationalisierung, bürgerliche Lebensbewältigung in Grün? Natürlich können wir aneinander vorbeireden, denn unsere Gedanken sind in sich schlüssig, aber damit kommen wir uns nicht näher. Was wollen wir voneinander, haben wir das schon geklärt? Irgendwie scheint mir kein Wort darüber verloren worden zu sein, was wir voneinander wollen, als ob es klar wäre, aber tatsächlich wissen wir es überhaupt noch nicht!

Westen vs. Osten, in diesem Fall Indien, eine unerquickliche Theorie vom Zusammenprall der Zivilisationen, bei der der Stärkere siegen wird, spukt in allen Köpfen herum. Wir überwinden diese blödsinnige Perspektive nicht, indem eine Seite der anderen den Sieg zuerkennt. Der intellektuelle Westen kasteit sich für 400 Jahre Kolonialismus, der intellektuelle Osten, sofern nicht verwestlicht, fühlt sich überlegen, da er die 400 Jahre Kolonialismus überstanden hat. Das ist alles bodenloser Schrott!

Es ist erstaunlich, daß der individualistische Westen seinen Erkenntnisgewinn einem kollektiv arbeitenden Unternehmen, der modernen Wissenschaft überantwortet hat, während ein das Kollektiv so hoch schätzendes Indien diesen Erkenntnisgewinn Individuen, den Yoghis und Sadhus, überläßt. Noch einer dieser typischen Widersprüche, die die Begegnung Westen - Indien so schwierig machen. Der enthusiastische, wohlwollende, antikolonialistische Westler kommt sich verarscht vor, wenn er nach einiger Zeit diese Widersprüche entdeckt. Er wird zynisch. Aber sind wir nicht selbst schuld, die wir Indien verklärten, jeden Furz als bedeutungsschwanger erachteten oder der Verklärung älterer Indienfahrer unhinterfragt glaubten? Haben wir das Recht, Indien über zu nehmen, daß die Leute auch dort korrupt, konsumgeil, materialistisch, brutal und egoistisch sein können, wenn das Leben diese Aspekte zufällig einmal unterstützt? Es ist unsere Enttäuschung, daß dort niemand auf derselben Suche wie wir im Westen ist, daß dort die Alternative nicht schon abrufbereit vorhanden ist und darauf wartet, den Kapitalismus abzulösen! Ja, wir sind zu unrecht enttäuscht.

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