flucht aus den
zumutungen der vernunft

Sebastian Scheerer, Hamburg, in "Die Zukunft des Terrorismus", Juli 2002

Der 11. September hat den Rückfall des politischen Denkens in in überwunden geglaubte Kategorien verstärkt. Die Phantasieerklärungen des vermeintlich "neuen Terrorismus" arbeiten mit einer Pathologisierung der Täter und einer Mythologisierung ihrer Motive ("das Böse"), anstatt rational die Wurzeln des Ereignisses zu suchen. Diesem Muster erliegen sogar prominente Denker wie Hans Magnus Enzensberger und Andre Glucksmann.

"Der individuelle Todestrip zeigt manche Ähnlichkeiten mit der Triebstruktur der Attentäter."
Hans Magnus Enzensberger

Die schlichten Fragen, was einen Menschen wie Mohammed Atta zu seiner Tat treiben und wie das Gesamtphänomen des internationalen Terrorismus so rapide zu einer globalen Bedrohung ersten Ranges werden konnte, ließen Zweifel an der Tauglichkeit der üblichen Erklärungsmodelle politischer Gewalt, wenn nicht sogar an der Tauglichkeit der üblichen Instrumentarien wissenschaftlicher Erkenntnis sehr schnell die Oberhand gewinnen. Wie so häufig in Situationen von kollektiv traumatisierendem Geschehen, tendierte man fast reflexhaft dazu, aus der Unfassbarkeit des Geschehens auf die Übermenschlichkeit seiner Verursachung zu schließen. Und wie immer bei solchen Gelegenheiten gerieten die Gründe in Vergessenheit, die es einst so wichtig hatten erscheinen lassen, »Soziales« immer nur »aus Sozialem« zu erklären, d.h. eben unter Verzicht auf die Hypothese des Eingreifens über- sinnlicher Mächte, und dass die Aufklärung auch eine Reaktion auf die Grausamkeit der Religionskriege mit ihrer fatalen Tendenz zur Überhöhung meist banaler Interessen- Gegensätze zu einem Kampf Gut gegen Böse gewesen und mit der Hoffnung auf eine hass- und gewaltmindernde, auch und gerade in der politischen Wirklichkeit wirksamen »Beruhigung durch Erklärung« einhergegangen war.

Der Terrorismus gehört allerdings nicht erst seit heute zu jener Klasse von Gewaltphänomenen, die zur Flucht aus den Zumutungen der Vernunft geradezu einladen. In der jüngeren Vergangenheit war das zu spüren, doch damals ging der Zug zum Irrationalen doch lange nicht so weit. Das lag vielleicht auch an der relativen Nähe des Phänomens zur eigenen Erfahrungswelt. So sehr man gegen Theorie und Praxis der damaligen Akteure eingestellt sein mochte, »ihre Ideologie und ihre Absichten waren bei aller politischen Radikalität und trotz des persönlichen Fanatismus immerhin nachvollziehbar «. Heute herrscht hingegen erstmals auch bei denen, auf die immer Verlass war, wenn es um die Verteidigung der Vernunft gegen diese oder jene Tendenz zur Irrationalisierung ging, die Überzeugung vor, es mit einem Destruktionsphänomen zu tun zu haben, das sich den üblichen – vielleicht sogar allen – Versuchen einer rationalen Erklärung entziehe. Denn nur Naive könnten an die Existenz der religiösen und politischen Motive glauben, welche den Tätern als Vorwand dienten. Wer genau hinsehe, werde hingegen gestehen müssen, dass es sich um Taten ohne irgendein Motiv außer der wilden Lust am Bösen und um einen Terrorismus ohne irgendwelche Ursachen außer dem grenzenlosen Hass einiger Fanatiker handele. Eine Bedrohung also, die sich in der Evidenz ihrer destruktiven Irrationalität erschöpfe – und an der es darüber hinaus nichts zu verstehen und nichts zu erklären gebe.

Wo jemand auf der Möglichkeit und Notwendigkeit rationalen Motivverstehens und kausaler Erklärung insistiert, wirkt das im Zweifel schon ganz von allein wie eine mit Absicht eingefädelte Provokation, während Postulate der Unbrauchbarkeit wissenschaftlicher Analyse-Instrumente und alle möglichen Phantasieerklärungen ob ihrer Luzidität und Überzeugungskraft gerühmt zu werden pflegen – besonders, wenn sie den Raum, den sie in ihren Scheinerklärungen dem »Bösen« einräumen, nicht zu knapp bemessen. Auch kehren zwei Muster in diesen Phantasieerklärungen des »neuen Terrorismus« immer wieder: da ist einerseits die altbekannte Erklärung revoltierender politischer Gewaltkriminalität aus einer mit etwas sozialpathologischem Kulturpessimismus garnierten Pathologie der Täter (Pathologisierung) – und andererseits die Negation jeglicher rationaler Erklärbarkeit und die Deutung des Phänomens als Manifestation eines motiv- und ursachenlosen Bösen (Mythologisierung). Beide verdienen eine nähere Betrachtung.

1. Pathologisierung. Die Pathologisierung politischer Gewalt, ansonsten aus der Kriminalbiologie Cesare Lombrosos, aus der NS-Kriminalbiologie und zum Beispiel auch aus der sowjetischen Praxis der Psychiatrisierung von Dissidenten bekannt, beruht auf dem schlichten Prinzip, die vom Täter angegebenen Motive zum Beweis seiner Verrücktheit und Gefährlichkeit zu erklären. Man muss nur jeden nachvollziehbaren Bezug seiner Handlung zur Realität kategorisch bestreiten. Genau dies charakterisiert eine starke Strömung der heutigen Diskussion. Auf die naheliegende Vermutung, dass es sich um den Angriff eines äußeren Feindes gehandelt (und dass der etwas mit der Religion des Islam zu tun) haben könne, lautet die Antwort Hans Magnus Enzensbergers schon wenige Tage nach dem 11. September: »Der Angriff kam nicht von außen und nicht aus dem Islam«. Selbstmörder und Selbstmordattentäter existierten überall auf der Welt und in jeder Gesellschaft. Ihre angeblichen Beweggründe seien austauschbar, denn in Wirklichkeit gehe es ihnen darum, ihrem Drang nach Selbst- und Fremdzerstörung freie Bahn zu verschaffen. Atta habe dasselbe ange- trieben, was auch Drogensüchtige und Skinheads und alle anderen antreibe, die sich »ganz gezielt ihrer Lebenschance berauben«: der »individuelle Todestrip«.

Enzensbergers Herangehensweise lässt den Tätern keine Chance, als Träger ernstzunehmender Reflexionen, Beweggründe und Ziele (an-)erkannt zu werden und sabotiert jede Möglichkeit, hinter den erschreckenden Ereignissen vielleicht doch noch auf eine reale Bedeutung religiöser Motive oder gesellschaftlicher Bedingungen zu stoßen. Die brutale Reflexionsverkürzung »beweist« auf diesem Wege das, weshalb sie veranstaltet wurde: dass es sich nicht um ein politisches, sondern ein psychiatrisches Problem handle. »So verschieden also die Maßstäbe des Schreckens sind, eines scheint all diese Täter zu verbinden: Ihre flottierende Aggression richtet sich nicht nur gegen beliebige andere, sondern vor allem gegen sie selbst. Wenn der Terrorist dabei ein höheres Ziel für sich geltend machen kann, um so besser. Es kommt nicht darauf an, um welches Phantasma es sich handelt (…) irgendein göttlicher Auftrag, irgendein heiliges Vaterland, irgendeine Revolution. Im Notfall kommt der mordende Selbstmörder jedoch auch ohne solche Rechtfertigungen aus zweiter Hand aus.«

Wer gleichwohl an die Möglichkeit komplexer politischer Zusammenhänge und Interventionsmöglichkeiten denkt, riskiert den Vorwurf, dem fadenscheinigen Trick von Psychopathen auf den Leim gegangen zu sein. Damit kann und darf das alles nichts zu tun haben. Enzensbergers Ausführungen rehabilitieren die Erklärung politischer Kriminalität aus den angeblichen psychischen Defekten derer, die sie begehen. Die Suche nach Motiven wird überflüssig. Sind ja doch alles nur Vorwände. Die Gefahr, sich bei der rationalen Analyse mit unbequemen Tatsachen konfrontiert zu sehen, ist von vornherein und radikal gebannt.

2. Mythologisierung. André Glucksmanns »Dostojevski in Manhattan« teilt über weite Strecken Enzensbergers Sicht. Auch der französische Philosoph sieht keinen Grund, den Tätern ihre religiöse Motivation abzunehmen. Im Gegenteil: nur weil sie Gott verloren hätten, hätten sie es tun können. Sie seien keine religiösen Fanatiker, sondern atheistische Nihilisten gewesen, wie Dostojevski sie beschrieben habe, und auch ihre heimliche Devise habe wie deren gelautet: »Wenn Gott tot ist, ist alles erlaubt.«

Letztlich aber geht es Glucksmann um mehr. Während die Pathologisierung zwar die Reflexion verkürzt und die Rationalität missbraucht, aber immer noch innerhalb des Bezugsrahmens des wissenschaftlichen Weltbildes operiert, geht es Glucksmann um die Delegitimierung eben dieses Bezugsrahmens selbst. Leute wie die russischen Nihilisten, wie der Tschetschenien-Massenmörder Putin in Moskau oder eben die Terroristen des 11. September, so Glucksmann, seien Phänomene der Bosheit, die kein soziales Motiv und keine gesellschaftlichen Ursachen habe und deshalb auch mit den Mitteln der Moderne nicht zu entschlüsseln seien. In scharfer Wendung gegen all jene Verteidiger von Rationalität und Wissenschaft, die das noch nicht begriffen haben, geht es Glucksmann darum, der Vernunft die Zuständigkeit für die Erklärung all dieser Erscheinungen zu entziehen. Sie seien untaugliche Objekte für den Versuch rationalen Verstehens und Erklärens und allein zu erfassen, wenn man sie als Manifestationen des Bösen begreife. Glucksmanns Gegner sind all jene, die das noch nicht begreifen, die sich weigern, Existenz und Wirkungsmacht des Bösen anzuerkennen, die das Böse klein reden, relativieren und gewollt oder ungewollt immer auch ein Stück weit rechtfertigen.

Hätte Glucksmann Recht, dann wären wir angesichts des neuen Terrorismus mit der Vernunft am Ende. Denn »das Böse gehört nicht zu den Themen, denen man mit einer These oder einer Problemlösung beikommen könnte.« In Form einer praktischen Kritik und anders als bei Glucksmann und Enzensberger (der früher auch nicht dazu neigte), soll in "Die Zukunft des Terrorismus" Irrationalisierung aber nicht betrieben, sondern analysiert und mit der Behauptung konfrontiert werden, dass eine rationale Erklärung der Gegenwart und auf dieser Basis ein educated guess über die Zukunft möglich ist – ein Panorama des Möglichen, das zugleich deutlich macht, dass die Zukunft des Terrorismus von denjenigen abhängt, die auf ihn reagieren.

"Die Zukunft des Terrorismus. Drei Szenarien" von Sebastian Scheerer, 170 S., Verlag zu Klampen, Juli 2002, ISBN 3934920160, 14 €

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