das steigerungsspiel
Gerhard Schulze, Bamberg, Januar 2004

Allen Innovationsgipfeln zum Trotz – der Fortschritt ist endlich. Da sollten wir uns nichts mehr vormachen. Langweilig wird es trotzdem nicht: Wenn die moderne Zivilisation ihren Möglichkeitsraum ausgebaut hat, beginnt nämlich das Wohnen. Dann geht das Spiel erst richtig los...
Die These
Das Steigerungsspiel
Was tun, wenn man am Ziel ist?
Empirie statt Utopie
Theorie der endlicben Informationsressourcen
Nutzendefizite
Zielvorrat
Objektivierbarkeit von Erfolg
Invarianzvorrat
Zwischenbilanz
Vier Einwände
Globalisierung und Krise der Nachfrage
Von der Fortschrittswelt zur Kreislaufwelt
Das kommende Ende des Steigerungsspiels
Kollektives Lernen


Die These

Einer meiner Freunde, ein Steuerberater, träumte jahrelang davon, aus seinem Beruf auszusteigen und Künstler zu werden. Schließlich kaufte er sich eine Scheune, die er aufwendig zu einem Atelier umbaute. Nach längerer Zeit war das Atelier perfekt eingerichtet; die künstlerische Arbeit konnte beginnen. Aber nun geschah folgendes: Mein Freund saß ohne jede Inspiration in seiner Scheune und wurde immer verzweifelter. Schließlich kehrte er ernüchtert in seinen ursprünglichen Beruf zurück.

Meine These ist, daß es nur einmal in der Geschichte der Menschheit eine Innovationsphase solchen Ausmaßes geben kann, wie wir sie gegenwärtig erleben. Wir nähern uns dem Ende dieser Phase; das Atelier wird fertig. Im Gegensatz zu meinem Freund können wir allerdings nicht mehr zurück. Es wird uns nichts anderes übrigbleiben, als den Schwerpunkt unseres Denkens und Handelns allmählich zu verlagern: vom Aufbau des uns umgebenden ungeheuren Möglichkeitsraums zum Bewohnen desselben, von der Innovation zur Stabilisierung, vom könnensorientlerten zum seinsorientlerten Denken.

Das Steigerungsspiel

Während des größten Teils ihrer Geschichte lebte die Menschheit nahezu ohne Fortschritt. Innovation beschränkte sich auf die Erfindung einfachster Werkzeuge, die sich über viele Jahrtausende hinweg kaum veränderten. In unserer Zeit dagegen muß man sich fragen, ob es überhaupt irgendein Produkt gibt, das nicht als vorübergehend betrachtet würde. Wir leben offensichtlich in einer Kultur überschäumender Innovation. Was auch immer wir erzeugen, es steht unter dem Vorbehalt der Ablösung durch etwas Besseres.

Ob man diese Entwicklung positiv oder negativ bewertet, ist für ihr Voranschreiten belanglos. Naturwissenschaft, Technik, Wirtschaft, Politik, Bildungssystem, Menschen im Arbeitsprozeß und Verbraucher sind zu einem Handlungszusammenhang zusammengeschlossen, der sich längst verselbständigt hat. Im folgenden werde ich diesen Handlungszusammenhang als Steigerungsspiel bezeichnen. Ich meine damit ein weltweites Beziehungsgeflecht zwischen Akteuren, die ein und derselben Handlungslogik folgen: der Steigerungslogik. So unterschiedlich die Ziele der verschiedenen Akteure auch sein mögen, die Steigerungslogik macht die Handelnden aneinander anschlußfähig und verkettet sie zu einem gigantlschen sozialen Gebilde.

Im Zentrum jeder der zahllosen Varlanten der Steigerungslogik steht eine Steigerungsskala, die es erlaubt, bestimmte denkbare Ereignisse in eine Rangreihe zu bringen. Hierzu zählen etwa Arbeitsproduktivität, Bruttosozialprodukt, Lebensstandard, Leistungsfähigkeit von Maschinen, Speicherkapazität von Chips, Umfang der durch ein theoretisches Modell erklärten Beobachtungen, fachliche Qualifikation, Ertrag landwirtschaftlicher Nutzflächen, durch Erfindungen eröffnete Möglichkeitssteigerungen. Eine Steigerungslogik entsteht aber erst dadurch, daß die Beteiligten über die Steigerungsskala, mit der sie befaßt sind, in ganz bestimmter Weise denken: Sie stellen sich diese Skala als nach oben offen vor; sie unterwerfen die Skala einer linearen Wertung, der zufolge der nächsthöhere Zustand immer als “besser” anzusehen ist; sie bauen Steigerungswissen auf, das sie dazu befähigt, von einem gegebenen Niveau aus das nächsthöhere zu erreichen. Beispiele für Steigerungswissen sind das naturwissenschaftliche Experiment, das Rationallsierungswissen der Wirtschaft, das Konsumentenwissen über die Warenwelt. Das Zeitmodell der Steigerungslogik ist linear; die Menschen verstehen ihre Geschichte als prinzipiell unendliches Fortschreiten auf Steigerungspfaden.

Seit seinem Beginn Anfang des 19. Jahrhunderts hat das Steigerungsspiel eine immer stärkere Sogwirkung entfaltet. Wer sich ihm verweigert, gerät unter die Räder, es sei denn, er lebt auf Kosten anderer, die sich um so intensiver am Steigerungsspiel beteiligen. Das Steigerungsspiel kulminiert in der gegenwärtigen Phase der Globalisierung. Für seine derzeit geradezu stürmische Intensivierung ist der Willen einzelner, ja sogar der Willen vieler gänzlich unerheblich.

Immer noch kursiert die Behauptung, der Motor dieser Entwicklung seien unsere Bedürfnisse. Diese würden uns dazu herausfordern, den uns umgebenden Möglichkeitshorizont ständig zu erweitern, damit sich jeder einzelne die Welt immer paßgenauer auf den Leib schneidern kann. Nun entstehen aber immer mehr neue Produkte, zu denen man die dafür geeigneten Bedürfnisse erst einmal erfinden und oft genug den Verbrauchern in aufwendigen Werbekampagnen anerziehen muß. Es scheint, daß sich die zeitliche Reihenfolge von Bedürfnis und Produkt allmählich umkehrt. Immer häufiger ist zuerst das Produkt da und dann hoffentlich irgendwann auch einmal ein Bedürfnis danach.

Dies zeigt uns, daß das Steigerungsspiel seine soziale Energie inzwischen nicht mehr, wie am Anfang, auss klar empfundenen Mängeln des Alltagslebens und unerfüllten Wünschen bezieht. Woher aber dann? Meine These lautet: zunehmend aus seiner bloßen Orientierungsleistung. Das Steigerungsspiel sagt uns, was zu tun ist. Es liefert den Produktentwicklern, den Forschern, den wählenden Verbrauchern, den um Konkurrenzvorteile bemühten Unternehmern, den um Standortvortelle kämpfenden Politikern Handlungsvorgaben. Es gibt uns allen eine gemeinsame Richtung vor. Es erlaubt uns nationale und internationale Verständigung auf objektiver Grundlage. Es ist der soziale Kitt, der die Welt zusammenhält.

Was tun, wenn man am Ziel ist?

Es mag nun etwas überraschend wirken, wenn ich von diesen umfassenden Überlegungen zu einem kleinen Gerät für den täglichen Gebrauch übergehe, zum elektrischen Rasierapparat. Das eine hat aber durchaus mit dem anderen zu tun: Der Rasierapparat ist ein anschaulicher Kristallisationspunkt für Gedanken über das Große und Ganze. So, wie wir ihn heute vorfinden, teilt er uns möglicherweise sogar etwas über die Zukunft des Fortschritts mit.

Seit Jahrzehnten untersucht die Stiftung Warentest die Leistung von Rasierapparaten mit objektiven Meßverfahren. Unter anderem wird das Gewicht der pro Zeiteinheit abrasierten Haare ermittelt. Bemerkenswert ist nun, daß sich die Rasierleistung der getesteten Apparate seit Jahren nicht mehr erhöht. Was ist geschehen? Haben die Forscher, die Techniker, die Produktentwickler versagt? Dies gewiß nicht, dafür sorgt mit eiserner Hand der Markt. Vielmehr verhält es sich so, daß hier ein Steigerungspfad bis zum Ende beschritten wurde. Die Entwicklung des Rasierapparates ist ausgereizt. Mehr als vollkommen glatt rasieren ist nicht möglich, dies aber können die Rasierapparate inzwischen.

In der Art und Weise, wie man in Politik und Wirtschaft gegenwärtig über “Innovation” redet, schwingt ein geradezu metaphysischer Unterton mit: der Glaube, daß es mit dem Fortschritt ewig weitergehen könne. Nun gehört es ja zum Wesen der Metaphysik, daß man sie nicht definitiv widerlegen kann. Der Rasierapparat läßt uns aber einen Moment stutzig werden. Immerhin liefert er uns ein Beispiel für einen endlichen Steigerungspfad. Uns überkommt eine beunruhigende Vorahnung. Kann das Steigerungsspiel einmal zu Ende gehen?

Doch wir beruhigen uns sogleich wieder: Es ist ja nur der Grundnutzen, die Rasierleistung, die sich nun nicht mehr steigern läßt. Was hindert uns daran, nun den Rasierapparat mit zusätzlichen, über den Grundnutzen hinausgehenden Funktionen zu versehen und damit eben doch zu steigern?

Man könnte zum Beispiel eine Digitaluhr einbauen, einen Rundfunkempfänger mit Anschluß für Kopfhörer, einen Rasierwasserspender. Man könnte vielleicht noch die Haltbarkeit oder die Speicherfähigkeit der Batterie steigern. Und man könnte immer wieder das Design verändern. Ein Zweifel freilich bleibt. Abgesehen davon, daß fraglich ist, ob die Konsumenten bestimmte Zusatzfunktionen überhaupt wollen, gilt ja möglicherweise auch für die “Nebensteigerungspfade” das Gesetz der Endlichkeit.

Nur das Design, die Ästhetik, muß man wohl von dieser Überlegung ausnehmen, aber nicht etwa deshalb, weil Ästhetik unendlich steigerbar wäre, sondern weil sie gar nicht steigerbar ist. Hier gibt es nur das andere, nicht das Bessere - sonst wäre Mozart besser als Bach, Beethoven besser als Mozart, Schumann besser als Beethoven. Anders als das Spiel von Ästhetik, Kunst, Design, Mode und Unterhaltung organisiert sich das Steigerungsspiel unter dem Prinzip des Fortschritts im objektiven Sinn. Es macht solche Steigerungen zum Thema, über die man sich verständigen kann, beispielsweise durch Meßverfahren entsprechend denen der Stiftung Warentest. Geschmacksfragen stehen auf einem ganz anderen Blatt. Insofern kann man sagen, daß sich die ersten Ahnungen einer Zeit nach dem Steigerungsspiel bereits Ende der sechziger Jahre mit dem Hervortreten der “Erlebnisgesellschaft” bemerkbar machten. Was sich damals artikulierte, erscheint bei einer kultursoziologischen Betrachtung zum heutigen Zeitpunkt als Beginn einer Selbstbesinnung der Menschen auf sich selbst. Der Siegeszug einer Lebensphilosophie begann, deren Kernidee darin besteht, das Subjekt zum Maß aller Dinge zu erklären. “lch tue, was mir gefällt.”

Es hat einigen intellektuellen Reiz, das am Beispiel des Rasierapparates demonstrierte Modell der Endlichkeit des Fortschritts zu verallgemeinern. Wer konsequent mit dem Begriff der Innovation umgehen will, muß diesen Begriff auch rückbezüglich anwenden. Was aber bei einer “Innovation der Innovation” herauskäme, wäre nichts anderes als ihre Aufhebung. Sollte das Modell des Rasierapparates verallgemeinerbar sein, so wäre der Regisseur dieser Aufhebung niemand anderes als die Innovation selbst. Sie schafft sich durch allmähliche Erledigung aller denkbaren Aufgaben am Ende selbst ab. Was dann noch bleibt, ist lediglich Variation, unendliches Durchspielen gegebener Möglichkeiten, nicht aber Innovation im Sinn einer Erweiterung des Möglichkeitsraums.

Empirie statt Utopie

Zunächst einmal geht es darum, diesen Gedanken überhaupt zuzulassen, ohne ihn gleich durch den Ausruf “So ein Quatsch” zu verscheuchen. Polemik ist oft ein Zeichen der Angst, und in der Tat hat der Gedanke etwas Beunruhigendes. Die Sozialwelt der Gegenwart wird vor allem über das Medium der objektiven Möglichkeitssteigerung integriert. Diese Sozialwelt müßte dann ja zusammenbrechen, und unzählige Menschen würden beschäftigungslos, Wirtschaftsorganisationen würden verfallen, Universitäten und Forschungseinrichtungen müßten schließen, das herrschende Orientierungssystem würde zusammenbrechen.

Man würde das gerade angedeutete Modell vom Ende des Steigerungsspiels jedoch argumentativ verfehlen, wollte man ihm solche Befürchtungen entgegenhalten. Es geht nämlich keineswegs um einen Vorschlag, sondern um eine empirische Behauptung. Dies zu unterstreichen ist deshalb nötig, weil in den letzten Jahren und Jahrzehnten ständig vom Ende des Wachstums die Rede war, aber in ganz anderer Weise als hier, nämlich kulturkritisch, auffordernd, moralisch. Der Club of Rome, die Umweltbewegung, die Technikskeptiker, die Konsumkritiker, die Diagnostiker des Kulturverfalls, sie alle reden in Imperativen: Aufhören! Verzichten! Machbares unterlassen! Dies mag aller Ehren wert sein, doch wird es angesichts der ungeheuren Sogwirkung des Steigerungsspiels nichts bewirken. Die These von der Endlichkeit der Innovationsgeschichte stellt keine Forderung auf, sie beschreibt eine Zukunft, die über uns kommen wird, gleichgültig, ob es uns paßt oder nicht.

Über Ethik im nachmetaphysischen Zeitalter zu diskutieren, Rückkehr zu alten Werten zu fordern, von den Unternehmern Altruismus zu verlangen und von den Arbeitnehmern Verzicht, Utopien zu entwerfen, ein “Pro gramm zur Rettung des Planeten Erde” aufzustellen und so weiter: All dies führt allenfalls zum Abbau psychischer Spannungen. Das Steige- rungsspiel macht den Eindruck eines “Attraktors” der Chaostheorie. Wir sind in einer weltweiten Ordnungsstruktur gefangen und können diese nicht ändern, weder durch Protest noch durch Hilfsappelle, noch durch Verweigerung. Die Globalisierung hat den Spielraum, der den Staaten bleibt, um die sozialen Kosten dieser Ordnungsstruktur abzufedern, enorm eingeschränkt; die Zunahme der Knappheit am Ende des Steige- rungsspiels tut ein übriges. Zwar besteht kein Anlaß zum Fatalismus; immer noch gibt es verschiedene Optionen, wie der Vergleich etwa der USA, der Bundesrepublik Deutschland und der Niederlande in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre zeigt. Doch handelt es bei diesen Optionen um gesellschaftliche Varianten innerhalb, nicht jensseits der Steigerungsspiels. Dieses wird niemand einfach abstellen können, vielmehr wird es eines Tages einfach “ausgespielt” sein. Zugegebenermaßen ist diese These unsicher und spekulativ. Aber gleiches Recht für alle: Die Gegenthese von der Unendlichkeit der Innovation ist auch nur eine Vermutung, wenn sie auch immer im Tonfall der Gewißheit vorgetragen wird. Untersuchen wir also die Begründung.

Theorie der endlicben Informationsressourcen

Meine Kernüberlegung läßt sich in einem Satz zusammenfassen: Das Steigerungsspiel beruht auf endlichen Informationsressourcen. Unter “Informationsressourcen” verstehe ich kognitive Bedingungen, die erfüllt sein müssen, wenn Menschen oder Institutionen eine Handlungslogik der Steigerung praktizieren. Ich werde gleich ins Detail gehen, doch zuvor will ich kurz versuchen, den Kerngedanken in seiner abstrakten Form zugänglicher zu machen.

Wenn man den Begriff der Informationsressourcen zum ersten Mal hört, denkt man zunächst an abspeicherbares und jederzeit abrufbares Wissen. Das gesamte Steigerungsspiel beruht auf solchem “Steigerungswissen”. Eines von vielen Beispielen ist die Methodik des naturwissenschaftlichen Experiments. Wie sollte sich dieses Wissen jemals erschöpfen? Es ist doch unendlich reproduzierbar. Gewiß: Daran kann kein vernünftiger Mensch zweifeln. Neben dem für wahr gehaltenen Wissen gibt es aber auch Informationsbedingungen, die tatsächlich erschöpfbar sind.

Zur Veranschaulichung eignet sich die Geschichte der Geographie. Lange Zeit war die Geographie eine ausgesprochen innovative Wissenschaft. Diese Zeit war um die jahrhundertwende unwiderruflich zu Ende, denn damals wurden mit der Erforschung der Antarktis die letzten weißen Flecken auf der Landkarte getilgt. Weil man nun so gut wie alles wußte, war die Steigerungsphase der Geographie vorbei. Eine Informationsressource geographischen Fortschritts war unwiderruflich versiegt: die Unkenntnis.

Ich gebe zu, daß es zunächst verwirrend scheint, ausgerechnet Unkenntnis als Informationsressource einzustufen, aber genau darum handelt es sich. Wenn man etwas nicht weiß, so weiß man gerade deshalb, was zu tun ist. Man mobilisiert methodisches Wissen, Vorkenntnisse über den Gegenstandsbereich, Kreativität, um dem Nichtwissen zu Leibe zu rückeil. Dabei steigert man das Wissen, aber nur so lange, wie noch ein Vorrat an Unbekanntem zur Verfügung steht.

Betrachten wir nun die endlichen Informationsressourcen des Steigerungsspiels im Detail. Im einzelnen handelt es sich um vier Klassen von Informationsressourcen: Nutzendefizite, Zielvorrat, Objektivierbarkeit von Erfolg und unentdeckte Invarianzen. Was ist damit gemeint?

Nutzendefizite

Solange ein Rasierapparat noch nicht die überhaupt vorstellbare Maximalleistung der perfekten Glattrasur bringt, weist er ein Nutzendefizit auf. Für den Verbraucher mag dies unangenehm sein, die Produktentwickler aber freuen sich, weil es für sie noch etwas zu tun gibt. Wenn sie schließlich das Nutzenideal erreicht haben, kehrt sich das Verhältnis freilich um. Nun freuen sich die Verbraucher, während sich die Produktentwickler eine neue Aufgabe suchen müssen, denn eine ihrer Informationsressourcen ist aufgezehrt: das Nutzendefizit. Ein solches liegt immer dann vor, wenn ein Unterschied zwischen Nutzenideal und tatsächlich erreichtem Nutzenniveau eines Produkts besteht. Für alle Produkte, vom Schraubenzieher über den Staubsauger bis zum Datenspeicher, sind Nutzenideale definiert, denen sich die Produkte in manchmal jahrtausende lang währenden Steigerungspfaden annähern.

Betrachten wir das Beispiel der Datenspeicherung. Eines der Nutzenideale ist hier die Konservierung von möglichst viel Informationen auf möglichst geringem Raum. Von den urzeitlichen Höhlenmalerelen führt ein direkter Weg zum Mikrochip. Nun ist allgemein bekannt, daß in den letzten Jahrzehnten die Technologie geradezu ins Galoppieren gekommen ist. Die Innovation rast voran, aber gewiß nicht ewig. Es gibt eine theoretische Obergrenze der Speicherkapazität, die “bald” erreicht sein wird, verglichen mit dem riesigen Zeitraum der bisherigen Produktgeschichte. In absehbarer Zeit wird die Informationsressource, das Nutzendefizit, ein für allemal verbraucht sein. Es wird zumindest in dieser Hinsicht nichts mehr zu tun geben.

Zielvorrat

Dazu ließe sich sagen: Es gibt la noch genügend andere Ziele. Wenn wir eines erreicht haben, können wir unsere Innovationsenergie ja für eine anderes Ziel arbeiten lassen, das noch weit entfernt ist. Genau dies läßt sich im Ging der Kulturgeschichte immer wieder beobachten. Sobald ein Problem gelöst ist, werfen wir auf neue Aufgaben. Wir ähneln Reinhold Messner. Nachdem er den ersten Achttausender bestiegen hatte, machte er sich an den zweiten und so weiter. Aber im Jahr 1986, nachdem vierzehnten Mal, war zumindest diese Form des Weitermachens zu Ende, der Zielvorrat war verbraucht, denn es gibt nur vierzehn Berggipfel, die höher als achttausend Meter sind. Zwar bleiben dann immer noch die Wüsten und die Pole als Extremziele, aber auch dieser Zielvorrat ist begrenzt. Übertragen wir nun diese Überlegung auf die Zukunft des globalen Steigerungsspiels. Müssen wir uns nicht auf einen Schwund noch unerreichter Ziele einstellen? Unser Repertoire an Bedürfnissen ist beschränkt, selbst wenn wir den Begriff des Bedürfnisses weit auslegen. Es gibt einen durch unser Menschsein bedingten, anthropologisch begrenzten Vorrat sinnvoll erscheinender Ziele, zumindest im Bereich der Produkte, die einen bestimmten Nutzen haben sollen.

Objektivierbarkeit von Erfolg

Aber ist es nicht so, daß Menschen die merkwürdigsten Dinge einfallen? Selbst wenn alles technisch Machbare gemacht ist, bleibt doch das Subjekt mit seinen Phantasien, Gefühlen, Erlebniswünschen als ein unerschöpflich scheinender Generator immer neuer Ziele übrig. Wir wollen doch ständig etwas und haben es nicht. Wir wollen geliebt werden, Schönes sehen, Ekstasen erleben, in kreative Selbstvergessenheit verfallen, einen exquisiten Geschmack spüren, das Gefühl haben, von jemandem vollkommen verstanden zu werden, glücklich sein. All diese Beispiele verweisen auf einen Bereich von Zielen, deren Ort im Subjekt selbst zu suchen ist. Hat man alles Äußere geschafft, bleibt im Inneren noch viel zu tun übrig - gerade reiche Leute sind oft sehr unzufrieden. Subjektiv definierte Ziele sind schwer zu erreichen, ändern sich ständig, widersprechen einander, lösen einander in ununterbrochener Reihenfolge ab, so daß man wahrlich nicht sagen kann, irgendwann einmal sei hier alle Arbeit erledigt.

Genau dies läßt sich auch im Gang der neuesten Kulturgeschichte verfolgen. In der Nachkriegsgeschichte Deutschlands hat sich ein Wandlungsmuster vollzogen, das zum ersten Mal in der Kulturgeschichte der USA auftrat und inzwischen zum globalen Muster wurde: die Transformatioli von der Überlebensgesellschaft zur Erlebnisgesellschaft. In der Erlebnisgesellschaft fließt immer mehr Arbeit in Tätigkeiten, die etwas mit subjektiv definierten Zielen zu tun haben. Eine riesige Konsumgüterindustrie ist entstanden, deren Artikel immer weniger unter dem Gesichtspunkt ihres objektiven Nutzens und immer mehr unter dem Gesichtspunkt ihres Erlebniswerts nachgefragt werden.

Inzwischen hat sich allerdings herausgestellt, daß der Glaube, man könne das subjektive Glück so planvoll steigern wie die Leistung eines Staubsaugers, auf einer Illusion beruht. Die Menschen erkennen allmählich, daß sich die Glücksuche, sofern sie damit nicht Materielles, sondern Empfundenes meinen, nicht in gewohnter Weise als Steigerungsspiel organisieren läßt. Was dabei fehlt, ist die Informationsressource der Objektivierbarkeit von Erfolg.

Invarianzvorrat

Eine letzte Klasse von Informationsressourcen versteht man am besten, wenn man sich die tragende Idee der Technikgeschichte vergegenwärtigt.

Im siebzehnten Jahrhundert fand man für diese Idee die einprägsame Formel der „Überlistung der Natur mit ihren eigenen Mitteln“. Worin aber bestehen diese Mittel? Die Antwort ist eindeutig: in Invarianzen. Alle bisherigen technischen Fortschritte beruhten auf der Ausbeutung unseres Wissens über Invarlanzen, die wir mit verschiedenen Gegenbegriffen zum Chaos erfassen, etwa: “Naturgesetze”, “Strukturen”, “Wahrscheinlichkeiten”. Ohne Invarlanzen wäre jeder Versuch, den Möglichkeitsraum der Menschen auch nur um eine Winzigkeit zu verschieben, zum Scheitern verurteilt gewesen. Umgekehrt gilt: Mit jeder neuentdeckten Invarlanz tut sich ein weites Feld von Nutzungsmöglichkeiten auf. Man denke etwa an die vielfältige Ausbeutung der Relativitätstheorie von der Atomtechnik bis zur Raumfahrt, um ein Beispiel dafür zu haben, wie sehr die Entdeckung von Invarianzen Innovationen auslösen kann.

Wird dies aber immer so weitergehen? Die meisten Naturwissenschaftler halten den Pfad der Erkenntnis für ewig. Doch woher wissen sie, daß sie recht haben? Die etwa von John Horgan vorgetragene These vom allmählichen Ende der Wissenschaft ist mindestens ebenso plausibel. Der Vorrat der unserem Erkenntnisvermögen zugänglichen Invarlanzen ist begrenzt. Wir nähern uns der Erschöpfung dieses Vorrats im selben Maß, wie die weltweit mobilisierte Forschungsenergie steigt. Das Schicksal der Geographie nimmt das Schicksal der Naturwissenschaft insgesamt vorweg.

Zwischenbilanz

Der Sozialwelt der Steigerung gehen die Informationsressourcen aus. Nutzendefizite verringern sich, Zielvorräte und Invarianzvorräte schwinden, die Objektivierbarkeit von Erfolg geht zurück. Die Erschöpfung der Informationsressourcen erfaßt alle zum großen Steigerungsspiel verzahnten Lebensbereiche: Wirtschaft, Technik, Naturwissenschaft, Arbeit, Bildung, Konsum, Politik. Auf manchen Steigerungspfaden sind wir bereits definitiv am Ende angelangt, bei anderen gibt es noch viel Steigerungsspielraum. Es geht hier jedoch nicht um einzelne Steigerungspfade, sondern um die Gesamtheit. Meine These meint das Mischungsverhältnis von abgeschlossenen und offenen Steigerungspfaden in der Weltgesellschaft. In diesem Mischungsverhältnis wächst der Anteil abgeschlossener Steigerungspfade rapide an.

Unsere in Jahrhunderten geschulte, wohlorganisierte und methodisch verfeinerte Steigerungsenergie wird aber nicht weniger. Forscher, Unternehmensberater, Produktentwickler, Marketingspezialisten, wachstumsorientierte Wirtschaftstheoretiker, ständig nach mehr strebende Konsumenten, Politiker mit Heilsbotschaften auf den Lippen, sie alle drängen sich im abnehmenden Bereich des noch Steigerbaren und erschöpfen seine noch verbliebenen Informationsressourcen um so schneller - ein sich beschleunigender Vorgang, eine Steigerung der Steigerung.

Das Ende der Sozialwelt der Steigerung wird nicht das Ergebnis von Entscheidungen, Bewußtsein und heroischen ethischen Glanztaten sein. Wir werden uns mit allen Mitteln und aller Energie gegen dieses Ende stemmen, wir werden alles daransetzen, das alte Spiel fortzuführen - und es genau dadurch um so schneller beenden.

Nirgendwo ist die Abenddämmerung des Steigerungsspiels am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts deutlicher zu spüren als auf dem Arbeitsmarkt der am weitesten fortgeschrittenen Länder. Die Rationalisierung der Produktion, so zeigt uns die Geschichte der Landwirtschaft, der Industriearbeit und nun auch der Dienstleistungen, ist kein unendlicher Vorgang. Sie schreitet mit abnehmendem Grenznutzen voran, bis wenige in der Lage sind, mehr Güter zu produzieren als früher große Schichten der Bevölkerung.

Nach der Rationalisierung der Dienstleistungen wird jedoch kein neues Auffangbecken zur Verfügung stehen, in das die ungeheure Masse erübrigter Arbeitskraft einfließen kann, um das Steigerungsspiel auf einem neuen Niveau fortzusetzen. Die nun schon im Alltagsdenken angekommene Erwartung der “Informationsgesellschaft” ist meist mit genau dieser Hoffnung verbunden. Doch je mehr man dazu übergehen wird, Informationen nach der Logik des Steigerungsspiels zu bewirtschaften, desto mehr wird sich das Spiel beschleunigen, und desto eher wird es enden. Nur die nicht rationalisierbaren Humandienstleistungen scheinen unerschöpflichPflege, Erziehung, Kommunikation, Bewußtseinsarbeit. Nefiodow erhofft sich davon einen neuen langfristigen Aufschwung, einen “sechsten Kondtratieff”. Vielleicht zu Recht - aber die Wirtschaftsweise des Steigerungsspiels wird sich für eine von solchen Tätigkeiten geprägte Sozialwelt nicht mehr eignen.

Vier Einwände

Gegen den soeben skizzierten Gedankengang läßt sich erstens einwenden, daß er spekulativ sei. Dies ist gewiß zutreffend, nur verhält es sich bei der herrschenden Annahme der ewigen Fortsetzbarkeit des Steigerungsspiels nicht anders. Es scheint mir jedoch nicht bloß Geschmackssache zu sein, welcher Theorie man den Vorzug gibt. Die These von der Endlichkeit bestimmter Informationsressourcen ist nicht ohne weiteres aus dem Weg zu räumen; sie läßt die hier vertretene Auffassung plausibler erscheinen als ihr Gegenteil.

Eine zweite Kritik könnte die großen Entwicklungsspielräume ins Feld führen, die auch gegenwärtig nach mehr als zweihundert Jahren Forschungs-, Industrie- und Technikgeschichte noch offenstehen. Es wäre in der Tat verwegen, die Rationallsierung der Produktion bereits am Ende zu sehen. Gleiches gilt für eine ganze Reihe sogenannter Zukunftstechnologien, etwa Photovoltaik, Medizintechnik, Werkstofftechnik, Umwelttechnik, Informationstechnik, Biotechnik, Robotik. Und wer wollte behaupten, daß etwa die Geschichte der Medizin schon im selben Stadium angelangt sei, in dem sich die Geographie Anfang des Jahrhunderts befand? Meine Entgegnung: Zweifellos gibt es immer noch große Steigerungsspielräume, doch stellt die These vom Ende des Steigerungsspiels dies auch gar nicht in Abrede. Ich behaupte lediglich eine immer schnellere Zunahme des Anteils abgeschlossener Steigerungspfade im Mischungsverhältnis von offenen und abgeschlossenen Entwicklungslinien. Die Konsequenz wird sein, daß das noch Steigerbare immer schneller zu Ende gesteigert wird.

Eine dritte Gegenrede könnte die ökologische Herausforderung ins Feld führen. Gerade durch das Steigerungsspiel, so läßt sich argumentieren, handeln wir uns immer größere Umweltbelastungen ein. Nimmt man die Theorie der Informationsressourcen ernst, so bedeutet dies aber, daß das Spiel weitergehen kann, denn, so eigenartig es klingt, Probleme sind aus dem Blickwinkel der Steigerungslogik etwas Willkommenes: Sie “bessern” den zur Neige gehenden Zielvorrat wieder auf und “versorgen" uns mit neuen Nutzendefiziten. Bei dieser Kritik handelt es sich eigentlich um eine konsequente Anwendung der hier skizzierten Theorie. Doch die Anwendung geht nicht weit genug. Die Theorie besagt nämlich auch, daß die ökologisch erzeugten Informationsressourcen endlich sind. Schon jetzt befindet sich die Umwelttechnologie enorm im Aufschwung. Die ökologischen Probleme werden dem Steigerungsspiel einen letzten Aufschub verschaffen, denn sie lassen sich nur noch mit den Mitteln des Steigerungsspiels bewältigen. Es wird sich aber herausstellen, daß dieser Bewältigtiligsvorgang zeitlich begrenzt ist. Die umweltintensive Phase der Sozialgeschichte wird ebenso zu Ende gehen wie die Phasen der Landwirtschaft, der Industriearbeit und der massenhaften Dienstleistungen. Und schon in der umweltintensiven Phase wird die Bewältigung der ökologischen Herausforderung bei weitem nicht alle freigewordene Humanenergie binden können.

Bleibt ein vierter Einwand: Selbst in den reichen Nationen nehmen die sozialen Unterschiede rapide zu. Der Anteil der Menschen wächst, die in relativer Armut leben. Erst recht gilt dies global. Der größere Teil der Menschheit lebt unter Bedingungen, die der gutsituierte kleinere Teil für sich selbst entrüstet als unzumutbar von sich weisen würde. Grenzt es nicht geradezu an Zynismus, angesichts dieser Fakten vom Ende des Stelgerungsspiels zu reden? Weisen nicht die Zahlen, die etwa im "Bericht über die menschliche Entwicklung 1996" im Auftrag der UNO veröffentlicht wurden, auf einen geradezu riesigen Steigerungsspielraum hin, der erst einmal auszuschöpfen wäre, bevor man beginnt, über die Zeit nach dem Steigerungsspiel nachzudenken?

Auch dieser Kritik kann ich teilweise zustimmen, dennoch glaube ich nicht, daß sie die These vom Ende des Steigerungsspiels widerlegt. Warum? Vor allem aus zwei Gründen: wegen des inzwischen erreichten Tempos der Globalisierung und wegen der am Ende des Steigerungsspiels aufbrechenden Krise der Nachfrage. Beides will ich kurz erläutern.

Globalisierung und Krise der Nachfrage

Globalisierung interessiert im Zusammenhang dieser Überlegungen vor allem in einer Hinsicht: Das Steigerungsspiel läßt sich nun in kürzester Zeit überall in der Welt, wo nationale Regierungen den Boden dafür bereiten, in Szene setzen. Das Beispiel von Korea zeigt, wie schnell eine Region den Anschluß auf hohem Niveau finden kann. Wir werden erleben, daß mehr und mehr Weltgegenden in immer kürzerer Zeit den Weg vom Anfang bis zum Ende des Steigerungsspiels durcheilen werden, jenen Weg, für den Westeuropa etwa zweihundert Jahre gebraucht hat. Wie im Fall der ökologischen Bedrohung gilt auch für internationale Ungleichheit, daß sie zwar eine Informationsressource für das Steigerungsspiel darstellt, daß sich aber auch die Endlichkeit dieser Ressource erweisen wird.

Dies bedeutet jedoch mitnichten, daß Ungleichheit überhaupt verschwinden wird. Im Gegenteil: Sie wird zunächst weiter zunehmen, nicht nur irn internationalen Vergleich, sondern auch innerhalb der Nationen. Dieses Phänomen ist eine unmittelbare Folge der Logik des Steigerungspiels. In der Sozialwelt der Steigerung unterliegt auch Arbeit der Steigerungslogik.

Der Markt sorgt dafür, daß ein Anreiz für die Arbeitenden besteht, sich an immer neue, gesteigerte Produktionslandschaften anzupassen, sich für gewandelte Aufgaben zu qualifizieren, die Arbeitsleistung zu intensivieren. In der Sozialwelt der Steigerung ist Arbeit die bei weitem wichtigste Quelle von Geldeinkommen. Für die Arbeitgeber freilich ist Arbeit ein Kostenfaktor; sie stehen unter dem durch noch so viele Appelle nicht aufzuhebenden Druck, die Arbeitsproduktivität zu steigern. Immer wieder hatten sie dabei eindrucksvolle Erfolge, immer wieder brach der Arbeitsmarkt ganzer Branchen zusammen, wodurch die Arbeitenden zu schmerzhaften Anpassungen gezwungen wurden. Letztlich kam dies aber allen zugute, denn die Güter, für die man bisher viel Arbeit einsetzen mußte, ließen sich nun mit wenig Arbeit herstellen, so daß Arbeitsvermögen für die Produktion von Gütern frei wurde, die bisher nicht oder nur knapp verfügbar waren.

Am Ende des Steigerungsspiels aber geschieht folgendes: Die Rationalisierung der Produktion stößt in eine neue Größenordnung vor, für die dabei freiwerdende Arbeit gibt es jedoch immer weniger neue Beschäftlgungsmöglichkeiten. Wegen des Zusammenhangs zwischen Arbeit und Geldeinkommen muß die Schicht der Bedürftigen wachsen. Dadurch fällt aber auch Nachfrage aus, was wiederum den Rationalisierungsdruck verstärkt und die Entstehung von Geldeinkommen durch Arbeit vermindert. Hier stößt das Steigerungsspiel also noch an eine andere Grenze als an die der Informationsressourcen. Ein Problem entsteht, das sich steigerungslogisch nicht bewältigen läßt, weil es durch die Steigerungslogik selbst bedingt wird. Die Informationsressource “Knapphelt” wäre zwar vorhanden, man kommt aber nicht an sie heran, weil man sich selbst im Wege steht.

Von der Fortschrittswelt zur Kreislaufwelt

Auf welche Sozialwelt müssen wir uns einstellen? Wie wird die Wirtschaft funktionieren? Wie werden die Unternehmen operieren? Solche und viele andere Fragen sind keineswegs bloß Fragen an eine weit entfernte Zukunft, über die nachzudenken sich noch nicht so recht lohnt. Diese Zukunft, die Zeit nach dem Steigerungsspiel, ist bereits auf dem Vormarsch. Wir müssen uns mit Ungleichzeitigkeit arrangieren. Während das Steigerungsspiel in vielen Bereichen noch an Intensität zulegt, ist es in anderen Bereichen schon am Ende. Die Frage, wie man nach dem Steigerungsspiel leben könnte, ist jetzt schon da, und sie wird rasch weiter an Bedeutung gewinnen.

Von der Fortschrittswelt zur Kreislaufwelt: So könnte man den uns bevorstehenden fundamentalen Wandel charakterisieren. Die beiden Welten unterscheiden sich sowohl objektiv wie subjektiv.

Für die Fortschrittswelt gilt objektiv eine ständige Erweiterung des Möglichkeitsraums; das gesamte Wirtschaftsleben, die Wissenschaft, die Politik, der private Konsum, die Berufswelt, das Bildungswesen, alles ist darauf eingestellt. Es scheint paradox - die Erneuerung ist das wichtigste Traditionselement in der Fortschrittswelt, genauer: jener Typ von Erneuerung, der sich objektiv als Steigerung interpretieren läßt. Die Menschen haben sich so sehr daran gewöhnt wie die Menschen in einer Stammeskultur an ihre jahrhundertealten Riten. Subjektiv wird die Fortschrittswelt bestimmt vom Geist des könnensorientierten Denkens. Nichts wird hier so hoch bewertet wie Innovationen, die dazu führen, daß man nach ihrer Einführung mehr kann als vorher: mehr produzieren, mehr Daten speichern oder weiterleiten, mehr Funktionen in einem Gerät vereinen, mehr empirische Daten unter einem neuen wissenschaftlichen Paradigma subsumieren, Ressourcen sparen - Steigerung hat tausend Facetten.

Die Kreislaufwelt ist gewiß keine Welt ohne Veränderung, nur hat dort die Veränderung überwiegend horizontalen Charakter. Statt der Kategorie “mehr” regiert die Kategorie „anders”. Es gibt Lebensbereiche, in denen dies schon längst der Fall ist, etwa die Mode, die Musik, die Literatur, die Malerei. Unterschiede lassen sich nicht in einer objektiv nachvollziehbaren Rangfolge anordnen; Steigerungsskalen sind nicht definierbar. In der Kreislaufwelt verschiebt sich die Grenze des Möglichen nur noch unwesentlich. Gewiß gibt es hier und da noch Steigerungen, doch reicht ihre Bedeutung nicht mehr dafür aus, sie zum tragenden Element der Sozialwelt zu machen. Die ineinander verzahnten Regeln und Routinen, nach denen das Alltagsleben der Menschen abläuft, zielen nicht auf die Erweiterung des Möglichkeitsraums, sondern auf den Aufenthalt im gegebenen Möglichkeitsraum. Subjektiv ist die Mentalität des könnensorlentlerten Denkens zurückgetreten; sie hat der Mentalität des seinsorientierten Denkens Platz gemacht. Dabei geht es den Menschen darum, sich gut in einer Situation einzurichten und sich das Leben schön zu machen.

Die Bezeichnung “Kreislaufwelt” könnte mißverstanden werden. Der Ausdruck meint lediglich, daß sich die Menschen in dieser Welt in größerem Umfang als die Menschen in der Fortschrittswelt mit Periodizität arrangieren müssen. Das lineare, für eine unbegrenzte Zukunft offene Zeitbewußtsein des Steigerungsspiels wird in den Hintergrund treten, ein zyklisches Zeitbewußtsein in den Vordergrund. In der Kreislaufwelt wird man nach dauerhaften Abstimmungen zwischen vielen verschiedenen Rhythmen suchen, die in unterschiedlichen Frequenzen pulsieren: menschliche, pflanzliche, jahreszeitliche Rhythmen in ihrer Asynchronizität auf dem Globus; Lebenszyklen von Produkten von der Neuanfertigung über die Wartungsphase bis zur Entsorgungsphase; Stoffkreisläufe; Tag und Nacht, Sommer und Winter im Zusammenhang mit der Energiebewirtschaftung. Wenn das Steigerungsspiel zu Ende ist, wird das primäre Ziel der Menschen im Umgang mit der physischen Welt nicht mehr ihre „Überlistung” sein, sondern eine langfristige, möglichst störungsfreie, berechenbare Koexistenz. Das Prinzip des in sich geschlossenen Kreises und die Abstimmung unzählig vieler verschiedener Kreise wird dem Alltagsleben ein neues Gepräge geben und eine neue Wirtschaftsordnung begünstigen.

In dieser Wirtschaftsordnung wird sich ein Wertbewußtsein der Annäherung gegenüber dem jetzt vorherrschenden Wertbewußtsein der Steigerung durchsetzen. Die Produktwelt ist geistig ausgereift; grundlegende Produktideen ändern sich nur noch wenig. Man wird ein gegebenes Produkt nicht mehr bloß als Vorläufer eines wesentlich verbesserten Folgemodells begreifen. Was sich noch ändern kann und wird, ist das Design und die symbolische Aufladung des Produkts, ansonsten herrscht eine Art säkularisierter Platonismus: Produktideale sind immer mehr in der Sphäre des bereits Erreichten definiert, weil man zunehmend daran zweifelt, noch wesentlich weiter in die Sphäre des bisher Unerreichten vorstoßen zu können.

Es gibt schon jetzt Beispiele für diese Form von Ökonomie, etwa das Essen, sofern es “gutes” Essen sein soll, oder die Kunst der musikalischen Interpretation. Gutes Essen und gute Musik sind keineswegs einfach herzustellen, sie haben ebenso ihren Preis wie hochwertige Möbel, Häuser, Kleider, Maschinen, Fertigungsanlagen, Transportmittel. Aber die Steigerungspfade, die zur idealen Qualität führen, werden von Anfang an als endlich vorgestellt. Das zum Unbegrenzten hin offene Steigerungsdenken der gegenwärtigen Wirtschaft, Wissenschaft, Technik, Politik und Konsumwelt wird verdrängt durch das Denken der Ankunft bei Idealen, man könnte auch sagen: der Ankunft des Menschen bei sich selbst.

Das kommende Ende des Steigerungsspiels

Es war keineswegs meine Absicht, die Gegenüberstellung dieser beiden Weiten mit einer Wertung zu verbinden, gar mit der Aufforderung, doch endlich von der Fortschrittswelt in die Kreislaufwelt umzusteigen. Die Fortschrittswelt hatte und hat immer noch ihren Sinn; sie hat uns in eine objektive Situation katapultiert, in der immer mehr Menschen die Frage nach dem Glück überhaupt erst stellen können, ohne ständig durch Überlebensprobleme völlig beansprucht zu sein. Irn übrigen: Was sollen in diesem Zusammenhang Werturteile, seien sie kulturkritisch oder optimistisch? Das Steigerungsspiel ist viel zu mächtig, als daß wir die Wahl hätten, es einfach abzuschalten, wenn wir zu dem Urteil kommen, daß es nun genug sei.

Nur zwei Ereignisse können dieses Spiel beenden. Eines davon wäre ein ökologischer Kollaps. Wenn ich diesen bisher nicht in Erwägung gezogen habe, so vor allem deshalb, weil ich es für wahrscheinlicher halte, daß wir immer stärker auf die ökologische Herausforderung reagieren werden und sie mit den Mitteln des Steigerungsspiels schließlich auch bewältigen werden. Plausibel scheint mir diese Annahme deshalb, weil die ökologische Herausforderung einen enormen, bei weitem noch nicht erschlossenen Anreiz für die Fortsetzung des Steigerungsspiels liefert. Um es paradox auszudrücken: Die Verknappung der natürlichen Ressourcen schafft neue Informationsressourcen für die Fortschrittswelt. Das zweite Ereignis, welches das Steigerungsspiel zum Erliegen bringen kann, ergibt sich allmählich aus der Logik dieses Spiels selbst. Es ist endogen und besteht in der Erschöpfung seiner Informationsressourcen.

Der Übergang von der einen zur anderen Welt vollzieht sich gewiß nicht schlagartig, sondern im Lauf von Jahrzehnten. Schon jetzt aber gibt es Hinweise darauf, daß wir uns in der Übergangsphase befinden, auch wenn das Steigerungsspiel noch nie so mächtig schien wie jetzt. Ein Hinweis ist die Verringerung der Arbeit, über die auch sogenannte Jobwunder nicht hinwegtäuschen können. Ein zweiter Hinweis ist die Vermehrung von Produkten, die sich seit längerem nicht mehr wesentlich ändern, abgesehen vom Design - Produkte, die zu Ende entwickelt sind. Ein dritter Hinweis ist die enorme Zunahme der Bedeutung des Themas „Glück“. in den Zeitschriften, in Talkshows, in Gesprächen, im Psychoboom, in der Selbstreflexion. Die Intensivierung des Glücksdiskurses in den neunziger Jahren wird man später einmal als das Fanal eines kollektiven Lernprozesses deuten: als eine Hinwendung von der Mentalität des Könnens zur Mentalität des Seins.

Kollektives Lernen

In der Tat: Was ansteht, ist ein kollektiver Lernprozeß. Aber sind kollektive Lernprozesse überhaupt möglich? Das Steigerungsspiel ist wohl das eindrucksvollste Beispiel dafür. Die Industrialisierung war ein allmähliches Begreifen, die gegenwärtige Globalisierung des Steigerungsspiels ist die Zwischenprüfung, die Bewältigung der ökologischen Herausforderung das Schlußexamen. Danach kommt die Praxis: der Aufenthalt in einem weitgehend zu Ende entwickelten Möglichkeitsraum. Es liegt eine schmerzliche Ironie darin, daß wir mit der mühsam erworbenen Steigerungskompetenz nun nicht einfach weiterleben können. Beim Lernen des Steigerungsspiels vermindert sich allmählich der Anlaß des Lernens. Wenn wir die Lektion endlich begriffen haben, brauchen wir sie kaum noch. Nun steht an, etwas ganz anderes zu lernen, nämlich zu sein, ein Kapitel, das nicht zu den Themen unserer vergangenen kollektiven Lerngeschichte zählte, das aber unausweichlich auf uns zukommt.


Braun, C.-F. v.: Der Innovationskrieg. Ziele und Grenzen der industriellen Forschung und Entwicklung. München. Wien: Hanser 1994

Heuser, U. J.: Tausend Welten. Die Fragmentierung der Gesellschaft im digitalen Zeitalter. Berlin: Berlin Verlag 1996

Horgan, J.: The End of Science. Facing the Limits of Knowledge in the Twilight of the Scientific Age. Reading Mass. 1996

Martin, H.-P. / Schumann, H.: Die Globalisierungsfalle. Der Angriff auf Demokratie und Wohlstand. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 1996

Nefiodow, L. A.: Der sechste Kontratieff. Wege zur Produktivität und Vollbeschäftigung im Zeitalter der Information. Sankt Augustin: Rhein-Siek Verlag 1996

Schulze, G.: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt a.M.: Campus 1992

UNDP (United Nations Development Program): Human Development Report. New York 1996

Gerhard Schulze lehrt an der Universität Bamberg empirische Sozialforschung. Er hat uns den Text, der 1997 in dem sonst flauen Buch "Das Neue" von Hanser herausstach und unverändert aktuell ist, freundlicherweise überlassen. Vielen Dank!

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