wer "mehr" will, will weniger
Michael Jäger, Berlin, September 2005

Warum ist es so schwer, über den Kapitalismus hinaus zu denken? Einige Überlegungen, was radikale Veränderung ist – und was nicht.

Wenn man Dinge nicht zur Unzeit vorträgt, treten sie nie ein. Sie sollen aber eintreten. Ein Wirtschaftssystem, das Einige immer reicher macht, während für immer mehr Andere "keine Arbeit da ist", ist auf Dauer untragbar. Was nützt uns das System, wenn es kein System für alle ist? Man sagt, seine beklagenswerten Schattenseiten hingen mit "der Globalisierung" zusammen. Was nützt uns eine Globalisierung, in der tagtäglich Zigtausende verhungern und ein ganzer Kontinent - Afrika - nicht mithalten kann? Solche Zustände hat es in der Welt nicht gegeben, bevor sie kapitalistisch kolonialisiert wurde. Im Moment ist Wahlkampf, und wir hoffen auf den möglichst großen Erfolg der Linkspartei. Es geht um Protest gegen Hartz IV. Aber Hartz IV ist nur ein Epiphänomen der Systemfrage.

Die Systemfrage soll hier nicht als solche beschworen werden, was oft genug geschehen ist, sondern wir wollen uns mit einer bestimmten Barriere beschäftigen, an der die Versuche, sie zu beantworten, immer wieder aufgelaufen sind. Die Frage, welche andere Wirtschaftsordnung an die Stelle der kapitalistischen Unordnung treten könnte, scheint unbeantwortbar geworden zu sein, seit der reale Sozialismus scheiterte. Wie kommt es zu diesem Schein? Um einen der Gründe soll es hier gehen. Wir beobachten nämlich an manchen Utopiedebatten, dass sich die Denkversuche in einer gar nicht selbstverständlichen Alternative bewegen: Die einen setzen gegen den Kapitalismus eine Gesellschaft, die der jetzigen möglichst gar nicht mehr ähneln soll - keinen Markt, kein Geld soll es in ihr geben, womöglich auch keine Demokratie, jedenfalls keinen Staat. Die andern meinen, dass man Geduld aufbringen muss - je ökologischer die Gesellschaft wird oder je mehr freie Genossenschaften in ihr entstehen, desto mehr erledigt sich die Systemfrage.

Ich glaube nicht, dass sie sich erledigt. Aber in der genannten Alternative hat sie keine Chance, je ernsthaft und beantwortbar gestellt zu werden. Deshalb muss eine Vorfrage geklärt werden: Was wäre eigentlich ein Systemwechsel? Woran erkennt man, dass etwas eine radikale Veränderung ist? Es ist klar, die erstgenannten Denkversuche messen den Wechsel am Übergang vom Einen zum ganz Anderen. Ein totaler Schnitt soll das Neue vom Alten trennen. Wo er nicht stattfindet, bleibt man im Alten. Stimmt das?

Ohne Gewächshaus leben

Was wäre ein funktionierender Kommunismus? Eins der Probleme besteht darin, dass man angenommen hat, er könne nicht funktionieren, wenn auch das Nichtkommunistische daneben noch da sei. Kann man sich zum Beispiel eine gesellschaftlich geplante Wirtschaft vorstellen, wenn in ihr noch der Markt und freie Unternehmer existieren? Ist eine entschiedene Umstrukturierung des Verhältnisses von Markt und Plan, Unternehmern, Arbeitern und Konsumenten keine radikale Veränderung? Aber die Bolschewiki, weit entfernt, so zu fragen, kamen nicht einmal von der Idee los, jede zweite Partei in ihrem Land müsse unweigerlich zur Partei der Vernichter des Kommunismus werden. Hatten sie doch selber das vorher vorhandene Parteiensystem vernichtet und durch ihre eine eigene Partei ersetzt - ein Prozess, der erst abgeschlossen war, als Stalin auch die Bolschewisten selber (deren Generation von 1917) physisch vernichtet hatte. In dieser Praxis und dieser Idee wird eine Angst vor dem Anderen sichtbar, die eigentlich zum Staunen ist.

Ist das denn zu fassen: Da kommt eine Anschauung daher, die sich als das total Neue ausgibt, es aber für wahrscheinlich hält, dass sie sofort untergeht, wenn nur irgendetwas noch neben ihr existiert, das nicht wieder sie selbst ist? Wer so denkt, müsste doch sehen, dass er seine eigene Sache für eine Lüge hält. Indem er dem Anderen zubilligt, dass es übermächtig sei, wenn es nur überhaupt existiere, sei es auch als bloßer Rest des Alten, bringt er es in die Position dessen, was schlichtweg metaphysisch wahr ist. Denn angenommen, das Andere würde nicht die Wahrheit verkörpern, sondern wäre nur einfach sehr stark, aber auf natürliche Weise, müsste es sich doch eindämmen, zurückdrängen, allmählich auflösen und ganz umstrukturieren lassen. Selbst die Atomenergie versucht man zu beherrschen, aber wenn es einen Markt mit profitorientierten Unternehmern gibt, soll gesellschaftliche Wirtschaftsplanung von vornherein unmöglich sein?

Neue Kräfte, die in der Geschichte wirklich Stärke zeigten und auch behielten, brauchten für ihr Überleben kein Gewächshaus. Die antike Kirche zum Beispiel hat lange mit den heidnischen Kulten koexistiert, auch noch nachdem das Christentum Staatsreligion geworden war. Sie hat damals in zwei Parteien existiert, die sich heftig bekämpften, und wurde doch immer stärker. Als die heidnischen Kulte schließlich verboten wurden, war dennoch die Erinnerung an sie allgegenwärtig. Die Ikonographie der Maria, die den Gottessohn auf dem Schoß hielt, war der Ikonographie der heidnischen Göttin Demeter nachgebildet. Man hat das oft als Kompromiss der neuen mit der alten Religion gedeutet, es ist aber auch eine Kommentierung der alten durch die neue Religion darin zu sehen. Das ist der Punkt: Schon die Bereitschaft, den Gegner irgendwie zu nennen oder zu zeigen, stellt in der Tat eine Art Kompromiss mit ihm dar, den man aber eingehen muss, wenn man ihn widerlegen will. Wer dazu nicht die Kraft hat, muss Kompromisse freilich scheuen.

Marx und Engels waren noch davon ausgegangen, dass man mit Gegnern zusammenlebt, bis sich die Gegnerschaft von selbst erledigt. Das ist ja auch deshalb vernünftig, weil man dann Zeit hat, herauszufinden, dass manche Gegnerschaft nie endet oder gar keine ist. So sahen sie Staat und christliche Religion als Gegner, schlugen aber nicht deren Abschaffung vor, sondern setzten auf ihr allmähliches Verschwinden. Auch ökonomische Ziele wollten sie keineswegs mit dem Radiergummi herbeizwingen. Im Kommunistischen Manifest heißt es, das politisch herrschende Proletariat werde der Bourgeoisie "nach und nach" alles Kapital entreißen, indem es zum Beispiel die Progressivsteuer einführe, die Nationalfabriken vermehre und den Kredit in den Händen des Staates zentralisiere.

War Schönberg radikal?

Liegt radikale Veränderung da vor, wo etwas Neues das Alte total ersetzt? Das Alte müsste dann im Übergang verschwinden. Eins jedenfalls ist klar: Das ist keine Vorstellung, die speziell das Ökonomische betrifft. Sondern wer sie hat, wird alles und so auch das Ökonomische in ihrem Licht sehen. "Vernichtung und Ersatz" will ich diese Figur nennen. Ein Historiker hat kürzlich behauptet, sie sei überhaupt erst im Vorfeld der Russischen Revolution aufgetaucht (Gottfried Schramm, Fünf Wegscheiden der Weltgeschichte, Göttingen 2004). Das ist so sicher nicht richtig, da man sie mindestens bis zur Französischen Revolution zurückverfolgen kann, wie ein anderer Historiker zeigte (François Furet, 1789 - Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, Frankfurt/M. 1980). Auch die vorausgegangene Amerikanische Revolution ist von ihr nicht frei, da sie auf der Vernichtung der Indianerkultur gründet. Auf dem Gebiet des Denkens begegnen wir der Figur seit Beginn der Neuzeit in vielen "utopischen" Entwürfen von Campanella bis Saint-Simon. Da werden dann wirklich, wie der Name sagt, "Nicht-Orte" beschworen, deren Charakter sich von dem, was man kennt, ganz und gar unterscheiden darf.

Angesichts dieser Tradition war es dringend nötig, dass Ernst Bloch eine Ehrenrettung des Utopiebegriffs vornahm, indem er die "konkrete" Utopie forderte, die sich über das real Mögliche nicht hinwegsetzt. Gegen den schlechten "utopischen Sozialismus" haben sich Marx und Engels klar genug ausgesprochen. Sie haben freilich auch dies gesagt: "Die kommunistische Revolution ist das radikalste Brechen mit den überlieferten Eigentumsverhältnissen; kein Wunder, dass in ihrem Entwicklungsgange am radikalsten mit den überlieferten Ideen gebrochen wird." Aber die Frage ist eben, was man unter dem "Radikalsten" versteht. Man irrt vielleicht, wenn man meint, das "radikalste Brechen" sei dasjenige, das von dem, womit gebrochen wird, nichts oder so wenig wie nur irgend möglich übrig lässt.

Radikal ist nur dasjenige Neue, von dem das Alte auf Null gebracht wird? Mit diesem Gedanken könnte man beispielsweise die Radikalität wissenschaftlicher Revolutionen nicht erklären. Man stelle sich eine Einsteinsche Relativitätsphysik vor, die von der Newtonischen Physik absolut nichts übrig lässt, oder einen Galilei, der mit Aristoteles nicht nur bricht, sondern die aristotelische Gedankenwelt für schlicht unsinnig erklärt. Man stelle sich einen Luther vor, der den Katholizismus so radikal erneuert, dass weder Taufe noch Abendmahl übrig bleiben. Oder einen Schönberg, der seiner Zwölftonmusik das Verdikt beigibt, Bach, Mozart, Brahms zu hören, gelte fortan als unmusikalisch. Waren Einstein und Galilei, Luther und Schönberg etwa nicht radikal?

Gerade Schönberg kann man mit dem kommunistischen Utopismus ganz gut konfrontieren. In der chinesischen Kulturrevolution wurden Bach, Mozart und Brahms tatsächlich verboten, weil sie bürgerlich seien; Musiker, die sich mit ihnen abgaben, kamen ins Straflager. Schönberg jedoch, dessen Kulturauffassung es an Radikalität mit derjenigen Maos doch wohl aufnehmen kann, war bestrebt, die Nähe seiner Musik zur Musik der großen Vorgänger zu unterstreichen. So behauptete er, Bach habe "mit den zwölf Tönen manchmal auf solche Weise gearbeitet, dass man geneigt sein könnte, ihn als den ersten Zwölftonkomponisten zu bezeichnen".

Auflösung statt Vernichtung

Diese Beispiele können uns veranlassen, das logische Prinzip der Radikalität zu suchen. Denn das ist jedenfalls auch radikal: die Eiswüste der Abstraktion nicht zu scheuen, wenn es die Sache voranbringt. Was haben Einstein und Galilei eigentlich getan? Jeder, der vom "utopischen" zum "wissenschaftlichen Sozialismus" wirklich übergehen will, müsste sich das doch fragen.

Thomas S. Kuhn, der die Logik wissenschaftlicher Revolutionen intensiv untersucht hat, teilt uns eine interessante Beobachtung mit: Newton habe Galilei "die Antwort auf eine Frage zugesprochen, die Galileis Paradigmata [Denkmuster] gar nicht zuließen". Gerade dieser Wechsel "in der Formulierung von Fragen und Antworten", verallgemeinert Kuhn, bezeuge "den Übergang von der Aristotelischen zur Galileischen und der Galileischen zur Newtonischen Dynamik". Überraschend ähnlich wie Kuhn über Galilei äußert sich Louis Althusser über Marx: Wenn Marx festgestellt habe, der Wert der Arbeitskraft sei so hoch wie die Kosten ihrer Reproduktion, so sei das "die richtige Antwort auf eine Frage" - nämlich die Frage, wie hoch der Wert der Arbeitskraft ist -, "die nur einen Fehler hat: sie ist nie gestellt worden". Denn den Begriff "Arbeitskraft" hatte Ricardo noch nicht gebraucht, er sprach nur von "Arbeit". Das Denkmuster Ricardos, von dem aus Marx zu antworten gezwungen war, weil er ein besseres nicht vorfand, ließ den Begriff "Arbeitskraft" gar nicht zu.

Wie kann man auf etwas antworten, wonach nicht gefragt wurde? Wäre es verständlich zu machen, hätten wir ein mit historischer Empirie gesättigtes Prinzip von Radikalität. Aber das ist nicht schwer, denn alle wissen doch, was Fragen und Antworten sind. Ganz ohne Frage kommt freilich keine Antwort aus. Indessen gibt es Fragen, die man nur so beantworten kann, dass man sie zurückweist, indem man die andere Frage nennt, die stattdessen gestellt werden müsste. Zum Beispiel: "Wird dieser Briefkasten heute noch geleert?" "Das ist ein toter Briefkasten." Die Frage, ob der Briefkasten funktioniert, war nicht gestellt worden. Aber wenn nicht nach der Briefkastenleerung gefragt worden wäre, hätte es überhaupt keine Antwort gegeben. Nach diesem Modell erklären Kuhn und Althusser die wissenschaftliche Revolution: Unzweifelhaft antworten Galilei auf eine aristotelische, Marx auf eine ricardianische Frage, aber sie tun es so, dass sie die Frage jeweils zurückweisen. Ist die Antwort einmal da, stellt sich heraus, man hat es nun auch mit einer neuen Frage zu tun.

Damit haben wir ein Modell des radikalen Übergangs vom Alten zum Neuen, in dem das Alte, statt vernichtet und durch das Neue ersetzt zu werden, vollkommen erhalten bleibt, nur freilich aufgelöst wird und eine Umstrukturierung erfährt. Auflösung statt Vernichtung: Die neue Frage geht aus der alten durch deren überraschende Vervielfältigung hervor. Ich frage: "Wo ist ein funktionierender Briefkasten?", weil ich vorher geantwortet habe oder mir habe antworten lassen: "Als ich nach der nächsten Leerung fragte, übersah ich, dass ich zwei Fragen hätte stellen müssen, wo ich nur eine stellte, nämlich erstens, ob dieser Briefkasten funktioniert, und zweitens, wenn ja, wann er geleert wird." Seht nur, es ist alles noch da - Briefkästen und ihr Funktionieren oder Nichtfunktionieren, beide Fragen, beide Antworten!

Der härteste Kern des Kapitalismus

Die Figur von "Vernichtung und Ersatz" spielte, wie wir sahen, in der neuzeitlichen Geschichte eine herausragende Rolle: von Campanella bis Saint-Simon, von den Indianermorden bis zur "Furie des Verschwindens", als welche schon Hegel die revolutionäre Guillotine sah. Liegt es nicht nahe, in ihr eine originär bürgerliche und nicht etwa eine antikapitalistische Figur zu sehen? In den Anfängen war es wahrscheinlich einfach die Idee, das Reich Gottes, das man sich schon immer als das ganz Andere vorstellte, auf Erden zu verwirklichen. Diese phantastische Idee hat mit der Absicht, die Produktion gesellschaftlich zu planen und die Gliederung der Gesellschaft in Klassen zu überwinden, schwerlich auch nur das Mindeste zu tun.

Aber sehr viel hat sie mit dem Kapitalismus zu tun, denn der führt ununterbrochen das ganz Andere herbei. So haben ihn Marx und Engels charakterisiert: "fortwährende Umwälzung der Produktion", "ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände", "ewige Unsicherheit der Bewegung". "Schöpferische Zerstörung", fasst Joseph Schumpeter zusammen. Wer diese Figur nur umkehrt, um sie nunmehr gegen den Kapitalismus selber zu wenden, der schützt gerade den härtesten Kern des Kapitalismus vor der Auflösung.

Wirkliche Radikalität sieht anders aus. Sie bestünde darin, in einer neuartigen Wirtschaftsverfassung, die endlich ausgearbeitet und propagiert werden müsste, das Unternehmertum auf eine von vielen dienenden Funktionen rein ökonomischer Natur zu reduzieren. Auf ein Berufsausübungsrecht im Grunde, das, wie jedes, bei Missbrauch aberkannt werden kann. Wer "mehr" will, will weniger. Wie unfreiwillig auch immer: Leute, die unter Radikalität "vernichtende" Kritik verstehen, sind bürgerliche Konterrevolutionäre.

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