don't shoot the messenger
Nigel Barley, London, Februar 2004, Übersetzung von Niels Boeing & Gerd Burger

Der technische Fortschritt ist die letzte Variante des westlichen Kulturimperialismus und zerstört überall auf der Welt Traditionen. Dieser alte Allgemeinplatz hat in der aktuellen Globalisierungsdebatte wieder neue Nahrung bekommen. Doch wie immer ist die Wirklichkeit komplexer und der Mensch pfiffiger: Medizinmänner greifen zum Handy, Stahläxte beleben das spirituelle Leben und rituelle Pfeifsprachen eignen sich perfekt zur Datenübertragung.
Der kreative Umgang mit dem Neuen

Das Verschwinden des Exotischen
Totgesagte leben länger
Produkte sind Botschaften
Die Resistenz der Kulturen
Das Neue rettet das Alte

Die Medien hängen einem mächtigen Mythos an: Dem Mythos der Technik und ihrer zweifelhaften Wirkung auf unser Leben. Auch wenn sie zu fast allem unterschiedliche Ansichten haben – wenn es um die Beschleunigung technischer Neuerungen geht, sind sich Journalisten ertaunlich einig: Es ist allein die Technik, die bestimmt, wie wir leben. Mag sein, dass wir sie geschaffen haben, am Ende sind wir entweder ihre Opfer oder Nutznießer. Die Technik versklavt oder beflügelt uns. Mehr noch: Die ganze bisherige Menschheitsgeschichte wird als ein einziger langer Prozess der Befreiung vom Stofflich-Materiellen hin zur zeitgenössischen Freiheit reiner Form gesehen, am besten verkörpert in den stofflosen Bits der Computer.

In der Vergangenheit wurden ganze Zeitalter nach dem Werkstoff benannt, aus dem die Menschen ihre Werkzeuge fertigten: Man spricht bis heute von der Steinzeit, der Eisenzeit und der Bronzezeit. Dann wurden die wichtigsten Energiequellen zum Namensgeber. Die Ära des Dampfes und das Atomzeitalter folgten. Inzwischen ist das Stofflich-Materielle vollends abgewertet worden. Heute scheint es nur noch um die Frage zu gehen, wie wir kommunizieren. Wir leben in einem Informationszeitalter, in dem sich jede ökonomische und kulturelle Aktivität in Form von Botschaften äußert. In abstrakte Datenpakete verwandelt, jagen sie ungehindert in einer Art universellem und kulturfreiem Vakuum um den Globus – unterworfen nur noch den entfesselten Kräften der Technik.

Dieser Mythos ist umso wichtiger, als er mit einer eigenen politischen und moralischen Ideologie einhergeht, die offenbar die amerikanische Außenpolitik prägt und damit das Handeln der einzigen noch verbliebenen Supermacht des 21. Jahrhunderts. Ihr Kern: Technische Innovation führt – zusammen mit dem Fall aller Handels- und Kommunikationsbarrieren – zu Globalisierung, weltweiter Demokratie und materiellem Wohlstand. Die Effizienz und Unparteilichkeit der Technik garantiert dabei die Effizienz und Unparteilichkeit der menschlichen Institutionen. Der einzige Schönheitsfehler ist, dass am Ende alle Hamburger essen und Englisch sprechen. Unser kulturelles Leben verarmt. Vermeiden lässt sich das nicht. Es ist einfach der Preis, den wir für den materiellen Fortschritt zahlen müssen. Wir können nichts gegen den natürlichen Gang der Dinge – gegen das Darwinsche „survival of the fittest“. Und eigentlich ist es ein ziemlich geringer Preis, den wir für all die Vorteile zahlen müssen. Sind schon die gutgelaunten Unterstellungen bezüglich der hehren Worte "Globalisierung" und "weltweite Demokratie" höchst zweifelhaft: Die Kassandrarufe unserer kulturellen Verarmung sind es erst recht. Der Mythos hält der globalen Realität nicht stand.

Der kreative Umgang mit dem Neuen

In den sechziger Jahren begannen die ersten Anthropologen zu erforschen, was eigentlich geschehen war, nachdem man den isolierten, noch in der Steinzeit lebenden Bewohnern des Hochlands von Neuguinea mit einem Paukenschlag die moderne Technik vorgesetzt hatte. (Siehe R. Salisbury, From Stone to Steel, Mel-bourne: University of Australia Press, 1962.) Sie vermuteten zunächst, dass die Stahläxte, die quasi über Nacht Einzug in steinzeitliche Gemeinschaften gehalten hatten, das Leben gehörig umkrempeln sollten. Denn mit den Äxten konnte man nicht nur die Bäume des Urwalds, sondern auch die Zeitspanne „zerkleinern“, die man bislang für das Holzhacken gebraucht hatte. Eigentlich hätte diese Neuerung eine regelrechte Wirtschafts- und Kulturrevolution auslösen müssen, die alles radikal verändert. Wie sich herausstellte, wurden die Äxte jedoch problemlos in die bestehenden Vorstellungen von Waren und Warentausch integriert. Anstatt ihre Produktion zu steigern, dehnten die Hochlandbewohner ihre Freizeit und ihr zeremonielles Leben aus. Anders als erwartet, kam es zu einer ungeheuren Inflation von Ritualen: Das kulturelle Leben der Steinzeitmenschen in Neuguinea erlebte einen regelrechten Boom.

Anthropologen in Museen kennen dieses Phänomen seit langem. Viele der Ausstellungsstücke, die wir in unseren völkerkundlichen Sammlungen ehrfürchtig als die letzten authentischen Reste vergangener Traditionen bestaunen, waren in Wahrheit echte Innovationen, als die Museen sie ankauften. Sie entstammten jener kulturellen Blüte, die sich aus der Verfügbarkeit neuer Werkzeuge und Materialien ergab. Diese wiederum war eine direkte Folge des Kontakts zu den Europäern.

Trotzdem scheint dies unserer eigenen Erfahrung zu widersprechen. Denn können wir nicht überall auf der Welt die alarmierenden Anzeichen für eine kulturelle Homogenisierung sehen? Kinder in Afrika spielen „Cowboy und Indianer“ und benutzen dabei englische Floskeln und Satzfetzen, die sie im Fernsehen aufgeschnappt haben. Bei uns in Großbritannien klopfen heutzutage die Kinder Ende Oktober wie besessen an die Türen und brüllen einem „Trick or Treat“ ins Gesicht – wie in amerikanischen Horrorfilmen, von denen sie das Halloween-Spektakel abgeschaut haben. In den altehrwürdigen Tempeln von Kioto zeigen sich die Gläubigen, die Opfergaben darbringen wollen, ebenso oft in Jeans, T-Shirts und Baseballkappen wie in den traditionellen Gewändern japanischer Pilger. Ältere Japaner sind schon mal mit einer Kappe zu sehen, auf der „I'm retired – this is as dressed up as I get“ steht, was soviel heißt wie: „Ich bin Rentner – eleganter ziehe ich mich nicht an.“

Auf den ersten Blick sieht das wie eine kulturelle Kernschmelze aus: Wir alle werden zu Amerikanern, und die amerikanische Kultur ist ja „bekanntlich“ alles, nur keine Kultur. Das sollte uns jedoch nicht allzu sehr überraschen. Denn die dominanten Kulturformen werden von denen, die sie praktizieren, nie als etwas angesehen, wofür oder wogegen sie sich entscheiden müssen, sondern als die schlichte Wirklichkeit. Das Normale bleibt stets unsichtbar, da es einem überhaupt erst die Kategorien liefert, mit deren Hilfe man die Welt erfasst.

Das Verschwinden des Exotischen

Dies ist einer der Gründe, warum viele den Eindruck haben, als verschwinde allmählich alles Exotische, als werde der Welt alle Farbigkeit geraubt, bis nur noch ein Einheitsgrau übrig bleibt. Und doch: Wir haben heute die Wahl zwischen mehr, nicht zwischen weniger Möglichkeiten. Die Straßen unserer Innenstädte sind voller Restaurants mit chinesischer, mexikanischer oder indischer Küche, wir können aus den kulinarischen Spezialitäten etlicher Nationen wählen. Reisen wir andererseits in ein exotisches Land wie Bali, wundern wir uns darüber, dass man bei der Bestellung eines Hamburgers mit Pommes frites automatisch eine Portion Reis serviert bekommt. Doch erst dann gilt das Gericht in Südostasien als „richtige“ Mahlzeit.

Das Exotische ist das, was uns schockiert und zum Stutzen bringt. Die Anthropologen sind aber inzwischen sehr vorsichtig mit diesem Begriff geworden. Denn oft ist Exotik nichts weiter als eine Nische, in der wir unsere übelsten rassistischen Vorurteile aufbewahren, indem wir anderen Menschen die Rolle des ein für allemal Anderen zuschreiben. Das oberflächlich Exotische verschwindet genau deshalb aus der Welt, weil wir weiter herumgekommen und weltläufiger, ja – wenn ich das sagen darf – toleranter geworden sind. Es ist genau das Geben und Nehmen des auf Reisen Geborgten, das die heutige Kultur ausmacht. Das gilt auch für die Interpretation dessen, was wir für grundlegend menschlich halten.

Kommen wir noch einmal auf Bali zurück: Dort tauchte beim letzten Neujahrsfest, bei dem traditionell in einer spektakulären Zeremonie Pappfiguren von Dämonen und bösen Geistern verbrannt werden, eine neue Figur auf: Amrozi, der lächelnde Bombenleger, der in der Touristenhochburg Kuta zwei Nachtclubs in die Luft gesprengt hatte.

Der Staat machte den Terroristen unschädlich, indem er ihn ins Gefängnis warf. Auf den Dörfern hingegen wurde Amrozi gezähmt, indem man ihn ent-exotisierte. Er bekam nach alter Manier den ihm gebührenden Platz als Dämon aus Pappmaché zugewiesen, den man den Flammen übergibt. Unten am Strand von Kuta entpuppen sich die lachenden Surfer derweil als alles andere denn als sonnige Beach Boys: Es sind Fischer, die herausgefunden haben, dass man mit Surfbrettern aus Plastik in Strandnähe viel bequemer fischen kann als mit den alten, unhandlichen Holzbooten. Das Geheimnis erfolgreicher Traditionen besteht darin, dass sie sich still und leise die Moderne einverleiben.

Totgesagte leben länger

Das ist keine neue Erkenntnis. In den sechziger und siebziger Jahren etwa erwarteten wir in England eine grenzenlose Freizeit, die uns die Automatisierung der Produktion bescheren sollte. Wir sahen uns durch grüne Wiesen schlendern, die dank der kompakten neuen Hochhaussiedlungen endlich vom Ärgernis der Land verschlingenden Einfamilienhäuser befreit würden. Die britische Regierung gab damals eine unglaublich teure Studie in Auftrag, die zuversichtlich das baldige Verschwinden des Fußballspiels voraussagte, weil es mit den neuen Arbeitsgewohnheiten nicht mehr zusammenpasse. Die Technologie des Fernsehens, versicherten Experten, würde das Theater ausmerzen – und was die Oper anging, gab man ihr nur noch wenige Monate. Heute geht es den drei Totgesagten ziemlich gut. Tatsächlich erleben sie eine neue Blüte genau wie die Rituale der Hochlandbewohner von Neuguinea. Zur selben Zeit sehen begeisterte Menschenmassen zu, wie die Hochhaussiedlungen von einst in die Luft gejagt werden – und gleichzeitig scheinen wir alle immer härter und immer verbissener zu arbeiten.

Gut, es stimmt, dass das Kino in meinem Viertel geschlossen wurde, aber nur um sich – seltsam genug – in eine andere todgeweihte Kulturinstitution zu verwandeln, in eine katholische Kirche. Die wiederum wurde kurz darauf in eine Moschee umgewidmet, die Moschee mutierte zu einem Supermarkt für asiatische Lebensmittel. Das legt den Schluss nahe, dass man wohl eher von einem steten Wandel und einem Fluss der Formen sprechen sollte als von simplem Kulturverlust. Vielleicht machen all die Kulturtheoretiker, die den unmittelbar bevorstehenden Untergang predigen, nur denselben Fehler wie jene Torajaner aus dem Bergland der Insel Sulawesi, die eine Zeit lang in London meine Gäste waren. Rasch akklimatisierten sie sich im westlichen Alltagsleben mit all seinen technischen Spielereien. Genau wie wir lernten sie nicht etwa, wie diese Geräte funktionieren, sondern wie man sie benutzt, sprich auf welche Knöpfchen man drücken muss, um einen gewünschten Effekt zu erzielen. Meine Besucher waren jedoch total schockiert, als sie herausfanden, dass sie sich über die Telefone des Westens auch in ihrer eigenen Sprache unterhalten konnten. Es kam mir fast vor, als hätten sie die Bücher des Medientheoretikers Marshall MacLuhan gelesen und gedacht, sie könnten übers englische Telefon nichts anderes als Englisch reden, weil das Medium laut MacLuhan nun einmal die Botschaft bestimmt.

Dies unterschied sich drastisch von der Erfahrung, die einige meiner Freunde aus Afrika in den siebziger Jahren gemacht hatten. Bei internationalen Ferngesprächen konnten sie sich über die knackenden und krachenden Leitungen nur verständigen, indem sie die rituelle Pfeifsprache benutzten, die sie als Jungen bei den Beschneidungszeremonien im Urwald erlernt hatten. Dank ihrer hohen Redundanz und des Rückgriffs auf Tonhöhen statt auf die Feinheiten der Aussprache eignete sich die Pfeifsprache ideal für die klapprige „Hochtechnologie“ jener Zeit.

Tatsache ist, dass neue Technologien von älteren kolonisiert werden können. Heutzutage hat so gut wie jeder Geisterbeschwörer in der westafrikanischen Republik Benin ein Telefon, dessen Kabel tief in die Erde reicht. Das ermöglicht ihm einen direkteren Draht zu den Göttern als vorher, wenn er seine Beschwörungsknochen und Zauberhölzer auf den Boden warf. Die Genesungsformeln des traditionellen Bohmoh aus Malaysia – den wir als Medizinmann bezeichnen würden – konnten in der lokalen Mythologie nicht über offenes Wasser hinweg gesprochen werden. Waren der Bohmoh und der Kranke etwa durch einen Fluss getrennt, blieben die Formeln wirkungslos. Heute erreichen sie das Ohr eines weit entfernten Patienten direkt via Satellitentelefon – und schlagen damit der Mythologie ein Schnippchen. Findige Klienten aus der Großstadt nehmen deshalb ihr Handy einfach ins Dorf mit, und schon kann der Bohmoh seine magischen Worte in die Muschel flüstern und die abwesenden Verwandten heilen. So ist ein neues Phänomen entstanden: der „internationale Medizinmann“.

Produkte sind Botschaften

Wenn wir von der kulturellen Verarmung unserer Zeit reden, verwechseln wir Kultur oft mit Mode und Konsumverhalten. Menschen sind Sinnstifter und setzen jeden beliebigen Konsumartikel – sei es ein Handy oder ein Jogginganzug – dazu ein, um etwas über sich selbst auszusagen. In der Welt der Mode drehen sich solche Aussagen um einige wenige Themen: vor allem um Reichtum, Status und sexuelle Attraktivität.

Inhaltlich trivial, können diese Botschaften sozial von immenser Bedeutung sein und sich überall auf der Welt frappierend ähneln. Dass es heute in den Einkaufszentren von Kuala Lumpur und Stuttgart haargenau die gleichen Läden gibt, wird oft als eindeutiger Beleg dafür genommen, wie schlicht die Aussagen der dort verkauften Waren doch sind. Es ist in der Tat verblüffend, dass das Internet, das großartigste Informationssystem, das je entwickelt wurde, bislang fast ausschließlich für drei banale Zwecke eingesetzt wird: für Klatsch, Shopping und Sex.

Die Klage über die mangelnde Ernsthaftigkeit und Oberflächlichkeit der Jugend ist indes so alt wie die Bibel. Mit Technik oder den sozialen Probleme der Moderne hat sie nichts zu tun. Unsere Nutzung des Internets entspricht eben exakt dem Muster der zuvor erwähnten Hochlandbewohner von Neuguinea mit ihren Stahläxten – Innovationen werden gezähmt, indem man sie in bestehende Bezugssysteme einpasst.

Es gibt noch weitere interessante Befunde: Neuere anthropologische Studien deuten darauf hin, dass ein und dieselben Produkte in unterschiedlichen Umgebungen ganz andere Botschaften transportieren können. In dem Buch „Golden Arches: McDonalds in East Asia", einer 1997 in Berkeley erschienenen, von James L. Watson herausgegebenen Studie, wird berichtet, dass viele Lehrer in Peking ihre Schüler dazu ermutigen, bei McDonalds zu essen. Dort, so die Begründung, könnten die Schulkinder wunderbar die Grundregeln der Hygiene erlernen. Denn um ihr soziales Verantwortungsbewusstsein zu demonstrieren, entsorgen ältere Pekinger ihre Essensreste demonstrativ selbst in die Müllbehälter – in klarem Bruch mit den sonst üblichen Verhaltensstandards der Mittelschicht. Auch die Muster des Konsums ein und desselben Produkts können im globalen Maßstab deutlich voneinander abweichen. So benötigt ein Asiate zum Verzehr etwa eines Burgers anscheinend dreimal soviel Zeit wie ein Amerikaner. Die Restaurants der großen Fastfood-Ketten sind in Asien wesentlich engmaschiger in bestehende gesellschaftliche Netzwerke eingebunden. Wer schon einmal in Singapur gewesen ist, wird sich gewundert haben, dass die McDonalds-Filialen dort regelrecht als Pausenraum der benachbarten Schulen fungieren, in dem die Schüler ihre Hausaufgaben erledigen.

Es ist offensichtlich, dass die materielle Welt zur Übermittlung jedweder Botschaft benutzt werden kann, die für ihr jeweiliges soziokulturelles Umfeld von Belang ist. So gab es in dem Dorf in Großbritannien, in dem ich meine Kindheit verbrachte, zwei Arten von Fernsehantennen: die eine hatte die Form eines riesigen H, die andere sah aus wie ein X. Technisch waren beide identisch. Doch den Dorfbewohnern wäre es nie in den Sinn gekommen, die Verteilung der zwei Varianten für zufällig zu halten. Für sie musste es eine tiefere Bedeutung, ein Muster hinter dem Antennenwald geben. Die Sinnsuche nahm ihren Lauf: Als die einzige geschiedene Frau des Dorfes eine X-Antenne kaufte, war die Frage geklärt.

Alle „anständigen“ Leute – selbst die, die bereits ein X auf ihrem Haus montiert hatten – schafften sich sofort ein H an und pflanzten es stolz auf ihr Dach. Ganz so, wie sie es mit ihren Hochzeitsfotos machten, die gut sichtbar im Wohnzimmer zur Schau gestellt wurden. Als anständig und ehrbar zu gelten, war im Dorfleben so wichtig, dass man es sogar von den Hausdächern herunterposaunen musste.

Die Resistenz der Kulturen

Solche Beispiele räumen auch mit einem seit dem 18. Jahrhundert verbreiteten Vorurteil auf: Dass nämlich neue Technologien automatisch die vollständige Übernahme westlicher Vorstellungen von Rationalität und Effizienz nach sich ziehen, dass jedes Mehr an Technik notwendigerweise die Welt entzaubern muss. Japan gilt als die technisch avancierteste Nation der Welt. Dort gibt es eine eigene Kategorie von Scherzobjekten, die unter dem Begriff „Chindogu“ bekannt sind. Das sind seltsame Objekte wie Essstäbchen mit eingebautem Elektroventilator zur Kühlung der Nudeln – technisch völlig logisch und dennoch sinnlos. Und doch ist Japan alles andere als eine nüchterne, unreligiöse Gesellschaft. Heute kann jeder Japaner seinen Vorfahren mit einem Klick im Internet virtuelle Opfergaben darbringen. Ähnlich in Israel: Dort sorgt die Post sorgt dafür, dass Faxe bei entsprechendem Vermerk in die Ritzen der Klagemauer gesteckt werden. Es wäre schlicht ein Irrtum, Technik als die Vorhut der totalen und unvermeidlichen Verwestlichung zu interpretieren.

Wir alle neigen dazu, uns die Welt in technischen Kategorien vorzustellen. Im Körper des Menschen etwa sehen wir eine Maschine. In Afrika hingegen betrachtet man den menschlichen Körper als ein Gefäß und benutzt deshalb zu seiner Beschreibung Bilder aus der Töpfersprache. In Südostasien wiederum werden die vielfachen Verknüpfungen innerhalb der Gesellschaft mit Begriffen der Stoffverarbeitung versinnbildlicht.

Es gibt immerhin ein Konzept, das wirklich Veränderungen auslöst: Das ist nicht etwa die moderne Kommunikation, sondern das Geld. Die Einführung des Geldes, nicht der Technik, hat tatsächlich radikale Auswirkungen auf zahlenmäßig überschaubare Gesellschaften, die noch auf dem direkten Austausch von Angesicht zu Angesicht basieren. Denn die Möglichkeit, den Wert von allem und jedem in einer einzigen Bezugsgröße auszudrücken, beeinflusst sowohl den Blick des Menschen auf die Welt als auch die Entscheidungen, die er trifft, tiefgreifender als Technik. Doch weil Geld so normal für uns ist, ja „einfach da“, bleibt sein geheimnisvolles Wirken als eine Art des Denkens unsichtbar.

Das Neue rettet das Alte

Es hat den Anschein, als ob jede Technik, selbst die der Kommunikation, stets zu zweierlei taugt: einerseits zum Bauen von Brücken, andererseits zum Errichten von trennenden Mauern. Solche Mauern können eine Kultur in strikt voneinander getrennte, isolierte Bereiche aufspalten, weshalb sich die Folgen einer Innovation letztlich nie voraussagen lassen.

Autoren, die über die Auswirkungen technischen Wandels schreiben, irren sich bekanntlich ebenso oft wie alle übrigen Propheten. So krankt etwa das Gesamtbild der epochalen Analysen von Marshall McLuhan daran, dass McLuhan den Siegeszug des PCs noch nicht einmal im Entferntesten hat kommen sehen. Deshalb lesen sich seine Bücher heute ebenso altmodisch wie jene visionäre Aussage eines Computer-Experten aus den vierziger Jahren, irgendwann sei es wohl möglich, Rechner mit weniger als eineinhalb Tonnen Gewicht zu bauen.

Auch wenn die modernen Kommunikationsmittel es mittlerweile möglich machen, mit jedermann auf diesem Planeten in direkten Kontakt zu treten, verwenden wir doch dieselbe Technik hartnäckig dazu, diese sozial schon fast verletzende Direktheit zu blockieren. Das neue Potenzial wird technisch sofort wieder unterlaufen. Früher hatte man Sekretärinnen oder andere menschliche Bollwerke, um die gebührende Distanz aufrechtzuerhalten. An der indischen Universität, an der ich eine Zeit lang lehrte, gingen die E-Mails aus allen Teilen der Welt erst einmal bei einem hochbetagten Boten ein. Dieser drehte dann gemächlich seine Runden über den Campus und stellte den Professoren der diversen Fakultäten im Verlaufe einiger Tage die E-Mails in handadressierten Umschlägen zu. Die Professoren wiederum reichten die Nachrichten entweder an ihre Untergebenen weiter oder übergaben sie dem Papierkorb. Auf diese Weise hielten sie sämtlichen Schriftverkehr unter Kontrolle. Ein tüchtiger Professor, so wurde mir erklärt, sollte tunlichst die Post seiner Mitarbeiter lesen, und ebenso sollte ein guter Ehemann es bei seiner Ehefrau halten. Wir dagegen benutzen heute Mailfilter, multiple Mailidentitäten und Anrufbeantworter – womöglich für denselben Zweck. Ich könnte mir auch eine Sprechanlage für meine Haustür anschaffen und mir die Nervensägen mit ihrem „Trick or Treat“ ein für allemal vom Leibe halten.

Ein Ergebnis des Informationszeitalters ist auch, dass Einwanderer in den EU-Ländern die Traditionen ihrer Heimat viel besser aufrechterhalten können, als dies früher je denkbar gewesen wäre. Mütter und Töchter können mehrmals am Tag zwischen Karatschi, Berlin und London miteinander plaudern und Klatsch und Kochrezepte austauschen, gerade so als würden sie einander gegenüber sitzen. Und sie können das in ihrer Muttersprache tun. Diese Brücke erleichtert es ungemein, eine Mauer rund ums eigene Heim hochzuziehen. Es wird zu einer quasi extraterritorialen Zone, in der weiterhin nichtwestliche Kleidung, Ernährung und Sprache gepflegt werden. Dabei schaut sich die ganze Familie – einschließlich der im Ausland geborenen Kinder – einträchtig die neuesten DVDs aus Asien an, etwa mit dem altindischen Großepos der „Mahabharata“. Ein vermeintliches Werkzeug unvermeidlicher Verwestlichung bewahrt auf diese Weise lokale Kulturen, ja erhält sie überhaupt erst am Leben.

In unseren Großstädten ist es nicht ungewöhnlich, jeden Tag mit jemandem auf einem anderen Kontinent zu reden, aber nie mit dem Nachbarn im eigenen Haus. Daraus kann man schließen, dass die alten Muster von Gemeinschaft und Assimilierung, wonach Migrantenkinder rasch die Sprache ihrer Eltern verlernen, nicht länger die Regel sind. Stattdessen wachsen sie zunehmend zweisprachig auf: Vor der Tür sprechen sie die eine Sprache, zu Hause die andere. So kommt es, dass manche Bräuche verschwinden, während andere eine plötzliche, unerwartete Renaissance erleben. Das soll natürlich nicht heißen, dass beide Traditionen einfach friedlich koexistieren. Zwischen ihnen kann es etliche Reibungspunkte geben, und sie können gar mit ganz unterschiedlichen Gefühlslagen assoziiert sein. Einer meiner Freunde brachte es so auf den Punkt: „Meine Lehrer haben mich auf Englisch beschimpft und geschlagen. Meine Mutter hat mich auf Urdu getröstet.“

Fest steht: Wir alle können uns heute in einem viel weitläufigeren und reichhaltigeren soziokulturellen Umfeld bewegen als je zuvor, sowohl sprachlich als auch kulturell. Wir haben heute weit mehr Optionen als früher und nicht etwa weniger. Daher ist jede kulturelle Verarmung eine Wahl, die nur wir selbst treffen. Die Technik jedenfalls nimmt uns diese Entscheidung nicht ab. Geben Sie also nicht dem Überbringer des Neuen die Schuld.


Nigel Barley hat uns diesen Text zur Verfügung gestellt. Vielen Dank! Barley, geboren 1947, lebt in London. Er studierte Moderne Sprachen und Anthropologie an den Universitäten Cambridge und Oxford und lehrte anschließend in London am University College und an der Slade School of Fine Art. 1980 übernahm er eine Stelle als Kustos in der Völkerkundeabteilung des Britischen Museums und war dort bis 2003 für die Sammlungen Afrika und Indonesien zuständig. Heute arbeitet er als Schriftsteller und Radiomoderator. Zu seinen bekanntesten Werken zählen The Innocent Anthropologist (1983; deutscher Titel: Die Raupenplage), Not a Hazardous Sport (1988) und The Duke of Puddledock (1983). Seine jüngste Veröffentlichung trägt den Titel White Rajah (2002).

In deutscher Übersetzung liegen bei Klett-Cotta folgende Titel von Nigel Barley vor: Traumatische Tropen. Notizen aus meiner Lehmhütte (1994), Der Löwe von Singapur (1996), Die Raupenplage (1998), Tanz ums Grab (1998; Taschenbuchausgabe 2000), Hallo Mister Puttymann (1999) und Traurige Insulaner (1999).

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