die gipfelstürmer
Ulrike Moser, Jan Puhl, Hamburg, Juli 2001

Die Love Parade bekommt endlich Konkurrenz: Nach den lustigen 90ern gehen wieder Menschen auf die Straße, die den Versprechungen der Globalisierungsverfechter zutiefst misstrauen und den Kapitalismus für eine Sackgasse halten

Sie feiern wieder. Sich selbst, ihre schönen Körper, den Konsum. Zehntausende tanzen durch die Straßen von Berlin. Wenn die Hedonisten zu Techno-Klängen in einen kollektiven Rausch treiben, bewegen sich zur selben Zeit die Massen in Genua nach einem ganz anderen Rhythmus: gegen den „zügellosen Kapitalismus“, die „Herrschaft der Konzerne“. Während die Spaßgesellschaft in Berlin längst nicht mehr vorgibt, Rave sei gesellschaftlicher Protest, erzittert Genua unter dem Ansturm einer Bewegung, die wie die Geburt einer neuen Jugendrevolte erscheint.

Die Minderheit der Straßenkämpfer, die es darauf anlegt, inzwischen jede, aber auch jede internationale Konferenz in ein Schlachtfeld zu verwandeln, verstellt indes den Blick auf das Wesentliche, auf das Neue an jener bunten Internationalen der Globalisierungsgegner. Denn die überwältigende Mehrheit legt Wert auf friedlichen Protest, feiert ein fröhliches Happening, eine Love Parade unter anderen Vorzeichen: brasilianische Landlose mit amerikanischen Feministinnen, skandinavische Tierrechtler mit französischen Bauern, deutsche Postkommunisten mit italienischen Katholiken. Heiner Geißler, der christdemokratische Zweifler, ist schon lange davon überzeugt, dass eine Gegenbewegung zum „globalen Kapitalismus“ entstehen musste. Aber ist das nun die neue Linke, die an den Grundfesten des Turbo-Kapitalismus rüttelt?

Tatsächlich scheint die Bewegung jenes Vakuum zu füllen, das vor zehn Jahren durch den Zusammenbruch des „real existierenden“ Sozialismus entstanden war. Der Protest, der seinen ersten Höhepunkt 1999 in Seattle fand, als Demonstranten ein Treffen der Welthandelsorganisation (WTO) blockierten, ist inzwischen weltweit zusammengewachsen. Und er trägt alle Kennzeichen einer neuen sozialen Bewegung: Er teilt ein gemeinsames Feindbild – die „Macht der Spekulanten“, den „neoliberalen Konsens“. Und er schöpft seine Energie aus kollektivem Fronterlebnis – bei den großen Gipfeltreffen in Prag, Göteborg und anderswo. Das „Unbehagen an der Globalisierung“ beweist gewaltige Integrationskraft. Die Endmoräne der alten (Öko-)Linken aus frustrierten Marxisten, Atomgegnern und Friedensbewegten fließt zusammen mit werteorientierten Christen und einer jungen, spontanen Aktionskultur von Internet-Hackern, Autonomen und Spaßprotestlern.

Zur weltweiten Kraft hat sie allerdings erst die beschleunigte Globalisierung der vergangenen zehn Jahre gemacht: die Bedrohung von Arbeitsplätzen in den Industrieländern durch globalen Handel und Kapitalfluss, Öko- und Lohn-Dumping unter dem Druck internationaler Konkurrenz. Die Folgen der Globalisierung sickern ein ins tägliche Leben: die Unsicherheit, ob importierte Lebensmittel gentechnisch manipuliert wurden, ob Kleider in ausbeuterischen Sweatshops genäht wurden, ob das argentinische Steak BSE-frei ist. Die Unsicherheit hat das Vertrauen in Politik fundamental erschüttert, weil sie die Verheißungen der Globalisierung – Wohlstand für alle – nicht erfüllt hat. Im Gegenteil: Der Abstand zwischen Arm und Reich ist noch größer geworden. Das wird „der Politik“ angerechnet, die sich vermeintlich selbst entmachtet hat und zum Erfüllungsgehilfen der Konzerne geworden ist. Einer Sozialdemokratie, die in den neoliberalen Konsens eingeschwenkt ist, ihre Wähler in der „Neuen Mitte“ sucht, einer grünen Bewegung, die inzwischen sogar kriegstauglich ist und sich programmatisch als Protestpartei verabschiedet hat. Viele Linke sind heimatlos geworden.

Paradoxerweise war es aber ausgerechnet jenes Medium, das untrennbar mit der Globalisierung verbunden ist, das die neue Bewegung erst möglich gemacht hat: das Internet. Es erlaubt die schnelle, billige und grenzenlose Koordination der Protestierer, verhilft ihnen zu Macht und speist ihr Selbstbewusstsein – nämlich selbst ein Global Player zu sein.

Die Größe der Bewegung verdeckt indes, dass es ihr über die vage Abneigung gegen die Globalisierung hinaus an politischem Bindemittel fehlt. Die Widersprüche zersetzen die Gemeinsamkeiten. Ein politisches Programm ist bislang nicht erkennbar – und ob bloßes Unbehagen auf Dauer ausreicht, um die Protestler zu mobilisieren, ist fraglich. Linke Postillen wie „Analyse & Kritik“ fordern besorgt: Die Bewegung müsse mehr sein als „Gipfel-Hopping“, fröhlicher Happening-Tourismus.

Verhängnisvoller noch ist die Unklarheit über den Adressaten der Proteste. Wütend angeklagt sind – neben den Konzernen – internationale Zusammenschlüsse wie die Welthandelsorganisation oder gar die Europäische Union, fatalerweise die einzigen Akteure, die die Macht hätten, die Globalisierung gerechter zu gestalten. Eine Strafsteuer auf Gewinne aus internationalen Währungsspekulationen kann ohne diese Organisationen unmöglich durchgesetzt werden.

Solange die Bewegung sich also nicht auf einen Katalog sozialer und ökologischer Forderungen einigen kann, droht sie in globaler Beliebigkeit zu versinken oder aber – was wahrscheinlicher ist – sich zu spalten. Schon toben im Internet erbitterte Flügelkämpfe – da ist die neue ganz die alte Linke. Die große reformistische Fraktion will ihre Ideen in die Parteien tragen, sucht den Dialog mit der Wirtschaft und hat sich zur ernst genommenen Gegenmacht gemausert – muss sich dafür aber heftigster Anfeindungen der Radikalen erwehren. Die ziehen sich immer tiefer in die eigene Subkultur zurück und dürften sich wohl weiter radikalisieren – zu einem „Schwarzen Welt-Block“, möglicherweise bis hin zum Anti-Globalisierungs-Terror. In Genua explodierte schon die erste Briefbombe – und zerstörte die letzte Gemeinsamkeit mit der Love Parade. Der Tanz wird ernst.

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