"tokyo wird nie bombardiert"
Ein Interview von Oliver Fahrni und Walter de Gregoriro, Februar 2002

Vor unseren Augen entsteht eine neue globale Herrschaftsform: das "Empire". Der Philosoph ANTONIO NEGRI enthüllt die Blaupausen der grenzenlosen Weltmacht

Sie empfangen uns in einer bizarren Situation, Professor Negri. Hier in Rom stehen Sie unter Hausarrest. Derweil feiert Sie das amerikanische Magazin "Time" als einen der großen geistigen Erneuerer des Jahres 2001 – und die Globalisierungskritiker in Porto Alegre halten Ihr neuestes Buch "Empire" quasi für die Bibel.

ANTONIO NEGRI Nun, ich werde Ihre Verwirrung noch vergrößern: Gut, dass wir die Globalisierung haben.

Sie stellen sich gegen die Kritiker des globalen Kapitalismus?

NEGRI Nein, keine Rede davon.Ich teile Geist und Ziel dieser Bewegung. Endlich wird da weltweit der Widerstand gegen die brutale Ordnung organisiert, die Millionen in Not und Ausbeutung hält, endlich wird globale Gegenmacht gebaut – aber im Rahmen der Globalisierung: Die No-Globals sind so global, wie man nur global sein kann. Sie sind innovativ, vernetzt, militant, stark. Isolierten Widerstand gegen Unterdrückung gab es immer wieder, die Bewegung vonTiananmen, die Kämpfe, die zum Fall der Sowjetunion führten, 1992 die Revolte von Los Angeles, später Chiapas, die großen Streiks in Frankreich und Südkorea. Jetzt erleben wir zum ersten Mal seit 1968, wie ein Kampf den nächsten nach sich zieht, es entsteht ein Zyklus von Kämpfen, von Seattle über Genua und weiter. Darum sind sie gefährlich. Die Mächtigen haben das begriffen. Sie antworten nicht mehr nur mit klassischen Polizeistrategien, sondern, wie Genua zeigt, mit einem regelrechten Krieg "niedriger Intensität", wie die Militärs sagen.

Deshalb wirken die Globalisierungskritiker recht machtlos gegen das grenzenlos handelnde Kapital. Parteien und Gewerkschaften dagegen konnten im modernen Sozialstaat einiges erkämpfen.

NEGRI Manche Globalisierungskritiker schauen nostalgisch auf den Nationalstaat zurück. Sie suchen, wie ein Teil der französischen oder deutschen Linken, nach nationalen Strategien. Ich halte ihnen entgegen: Erinnern wir uns. Wir reden nicht nur vom Wohlfahrtsstaat. Der Nationalstaat hat dumpfen Patriotismus gezeugt, schreckliche Weltkriege, die Schützengräben von Verdun, Hunderte Millionen von Toten. Er hat Kolonialismus, Imperialismus, Faschismus, den Wahn ethnischer Reinheit in die Welt gesetzt. Heute verurteilen wir Osama Bin Laden. Aber wie viele Osama Bin Ladens hat das Dritte Reich geboren, wie viele der englische Imperialismus? Heute sind wir Zeugen eines epochalen Bruchs, einer dramatischen, radikalen Veränderung: Der Nationalstaat zerfällt; vor unseren Augen entsteht das Empire, wie Michael Hardt und ich diese historisch nie da gewesene Ordnung nennen.

Es gab schon das römische Imperium oder das britische Empire …

NEGRI Ein paar Analogien bestehen, aber was wir als Empire fassen, ist eine neue Form der Herrschaft jenseits des Staates. Das Empire expandiert rasch, schließt zunehmend die ganze Realität der Welt ein. Am Ende kennt es weder ein Außen noch ein territorial begrenztes Machtzentrum. Sein dezentralisierter Apparat unterwirft alles und alle seinen Regeln und Werten. Das Empire ist die globale Form der Souveränität.

Merkwürdig: Wir nehmen genau das Gegenteil wahr. Seit dem 11. September feiert der Patriotismus Auferstehung. In Europa spielt jeder seine nationalen Interessen aus. Die Vereinigten Staaten haben resolut die Führung der Weltgeschäfte übernommen – in nationalem Interesse, wie PräsidentBush versichert. Seine Berater sprechen von einem guten Kolonialismus. Ist Ihr Empire nicht bloß ein anderes Bild für die amerikanische Weltordnung, für einen perfektionierten Imperialismus?

NEGRI Es existiert keine amerikanische Ordnung und sie hat nie existiert. Schauen wir genauer hin. Zwei widerstreitende Meinungen stehen hoch im Kurs: Die einen halten die USA für den Welt-Unterdrücker, in der Nachfolge des europäischen Imperialismus. Die anderen sehen in Amerika einen effizienten und uneigennützigen Welt-Leader. Unsere These hingegen ist: Amerika hat tatsächlich eine wichtige Stellung im Empire – aber Amerika ist nicht das Empire. Kein Staat kann das Empire führen, denn es stellt eine grundsätzlich neue Form von Souveränität dar. Die Macht imEmpire ist auf viele Stellen verteilt, die in einem Netzwerk funktionieren: staatliche Organisationen, Konzerne, multinationale Organisationen aller Art wie die Welthandelsorganisation oder die Weltbank. Sie alle verbindet eine gemeinsame Logik.

Die Logik des Marktes und des Profits. Ist nicht gerade dies das Merkmal der Globalisierung: Seit sich die großen Konzerne und Banken dem gesellschaftlichen Ausgleich zwischen Arbeit und Kapital, dem Sozialvertrag entziehen, den die Politik vermittelt hatte, zerfällt die Macht des Staates?

NEGRI Gewiss, aber es ist nur die halbe Wahrheit. Würden sich die globalen Konzerne in einem mehr oder weniger rechtsfreien Raum tummeln, müssten sie unter dem Chaos leiden. Der Zerfall staatlicher Souveränität bedeutet nicht, dass Souveränität generell abnimmt. Es kann keinen Weltmarkt ohne Regulierungen geben. Diese Rechtsordnung braucht eine Instanz der Macht, die ihr Funktionieren sicherstellt – eine weltweit mächtige Instanz: das Empire. Der Weltmarkt organisiert seine Einheit um die klassischen Mittel der Souveränität; um die militärische Dominanz, eine hegemoniale Währung, die Vorherrschaft bei Kommunikation, Sprache und Kultur.

US-Army, Dollar, CNN, Englisch, Hollywood?

NEGRI Sie greifen zu kurz. Nicht amerikanisch und imperialistisch ist das Empire, sondern schlicht kapitalistisch. Es ist die Ordnung des Kapitals, jener Kraft, die den Bürgerkrieg des 20. Jahrhunderts gewonnen hat. Am Empire des Kapitals nehmen amerikanische wie europäische Besitzende teil, jene, die ihr Geld mit der Kor-ruption in Russland oder Arabien machen, ebenso wie die afrikanischen oder asiatischen Eliten, die es sich leisten können, ihre Kinder nach Harvard und ihr Geld an die Wall Street zu schicken. Kein geringes Paradox, wenn heute der amerikanische Präsident auch mit ausländischem Kapital gewählt wird – das Geld saudischer Ölkonzerne ist längst ein wichtiger Faktor in der amerikanischen Politik.

Sie stehen mit Ihrer ganzen Biografie für Widerstand und linke Gegenentwürfe. Jetzt beschreiben Sie uns ein globales Empire. Gibt es in diesem allmächtigen Wirtschaftssystem noch Platz für Veränderung, für die Hoffnung auf ein besseres Leben?

NEGRI Wieso allmächtig? Ich beobachte viele Krisen, welche die Ordnung immer wieder erschüttern. Zuletzt Argentiniens Bankrott oder die Auseinandersetzung mit dem Islamismus. Interessanter Fall. Eine interne Krise, eine Familientragödie à la Shakespeare. Die Familie Bush und die Familie Bin Laden sind verwandte Familien, was den Umgang mit der Macht anbelangt, und Erdöl, eine der wichtigsten Ressourcen dieser Welt, spielt darin eine zentrale Rolle. Der moderne Kapitalismus krankt an der Totalität seines Herrschaftsanspruchs, die sich am Ende doch nie durchsetzen lässt. Oder glauben Sie, die Globalisierung sei dem unbeugsamen Vorsatz einiger Konzernchefs entsprungen? Sie wurde ihnen aufgezwungen.

Durch wen?

NEGRI Durch die Arbeitskämpfe in der reichen Welt, die die Lohnkosten in die Höhe trieben. Durch die Befreiungskämpfe in der kolonialisierten Welt und in den sozialistischen Ländern. DemKapitalismus ging es blendend im Nationalstaat. Raum und die nationale Konzeption von Herrschaft waren ihm angemessen. Er ist ja erst dadurch entstanden, dass er den Nationalstaat schuf. Ich denke, die Globalisierung ist eine unbequeme Form für das Kapital.

Weil sie eine neue Organisation der Welt notwendig machte? Weil die unfreiwillige Expansion die schwierige Aufgabe stellt, ein weltweit funktionierendes Regime zu kreieren? Weil "das Empire gut in sich ist, aber nicht gut für sich selbst", wie Sie in Anspielung aufHegel schreiben?

NEGRI Die Krise, die am Anfang der Globalisierung stand, hat eine völlig neue Arbeitsorganisation erzwungen: Wir sind von der arbeitsteiligen Fabrikarbeit zur immateriellen Arbeit übergegangen, von der Moderne zur Postmoderne. Das Werkzeug ist heute nicht mehr draußen, auf der Werkbank und in der Faust, sondern drinnen, imGehirn. Es war die dritte industrielle Revolution, zwischen 1968 und 1989, Marx kannte nur zwei. Viel Arbeit wurde aus den Betrieben ausgelagert. Das stellte das Problem der Kontrolle über den Arbeiter. Eine Gruppe italienischer Forscher hat die Frage untersucht. Wo die immaterielle Arbeit, die Kopfarbeit, die Kommunikation, die Vernetzung der Menschen, der Massenintellekt in der Produktion dominieren, wird das Gehirn des Arbeiters, seine Affekte, sein Begehren zentraler Teil des wirtschaftlichenProzesses.So avanciert die Kontrolle über das Leben zum großen biopolitischen Projekt des Empire.

Das sprachen wir vorhin mit der Allmacht des Kapitalismus an. Wie können die Menschen unter diesen Umständen auf den Gang ihres Lebens Einfluss nehmen, wie können sie wenigstens Teile ihrer Existenz frei vonHerrschaft halten, wie können sie eine Opposition organisieren?

NEGRI Vielleicht ist das Problem falsch gestellt. Die französischen Philosophen Foucault, Deleuze und Guattari haben uns die Augen geöffnet: Souveränität ist nichts Massives. Das Kapital kann den Menschen nicht vollständig vereinnahmen, das Subjekt antwortet; es reagiert. Der Souverän kann den Abhängigen auch nicht zerstören. Im Augenblick, in dem er es versucht, existiert er nicht mehr. Es wäre Selbstmord. Auf die politische Ebene übertragen finden wir eine hübsche Ironie: Das Empire, so allmächtig es scheint, kann den Konsum nicht zerstören. Es kann die Berge Afghanistans bombardieren, aber nicht die Innenstädte von Tokio oder Hongkong. Übrigens zeigt sich da ein fundamentales Konzept des Marxismus: Herrschaft ist immer eine Beziehung, ein Verhältnis.

Hat sich dieses Verhältnis nicht zu Lasten des Individuums verschoben?

NEGRI Nein, ich denke, der Einzelne ist mobiler im Raum und flexibler in seiner Zeit geworden.

Also freier?

NEGRI Potenziell freier. Wenn die Arbeit mental wird, wenn der Arbeiter sein eigenes Arbeitsinstrument kontrolliert, hat der Arbeiter-Bürger zahlreiche neue Möglichkeiten des Handelns. Wo die vermittelnden Strukturen der Fabrikhierarchie, der Gewerkschaft, des Staates schwächer werden, wird die Beziehung zwischen Mächtigen und Abhängigen direkter, ungeschützter, gleichzeitiger – in beide Richtungen. Darin steckt das Potenzial für eine Destabilisierung des Empires und am Ende für ein demokratisches Gegen-Empire, eine alternative, gemischte, globale Gesellschaft. InPorto Alegre haben wir gesehen, wie diese neue Bewegung, die Vielfalt, die Menge, gerade wächst.

So wie der Kapitalismus dem Feudalismus vorzuziehen war, bietet das Empire mehr Befreiungschancen als die nationalstaatliche Ordnung?

NEGRI Geschichte verläuft nicht mechanisch. Entscheidend wird sein, wie sich die Vielfalt entscheidet, welche Kämpfe sie führt, etwa für ein Existenzgeld, ein Grundeinkommen unabhängig von der Arbeit.

Aber Ihre Menge ist arg zersplittert und verfolgt widersprüchliche Ziele.

NEGRI Frappant ist doch: Gerade ihre Vielfalt macht möglich, dass sie zu einem kraftvollen Widerstand findet. Die Menge hat viele gemeinsame Energien und Freiheiten. Vor allem aber haben wir gelernt, uns zu entziehen. Durch Exodus, Desertion, Nomadismus. Schauen Sie, wie ganze Bereiche der Gesellschaft heute sagen: Es interessiert mich nicht mehr, ich gehe nicht mehr hin, uns gibt es nicht mehr, wir bauen unsere eigene Gesellschaft. Weil das Empire kein Draußen mehr kennt, wird die zweite Stadt imEmpire selbst gebaut, ein Gegen-Empire. Die irdische Stadt, die der göttlichen entgegentritt.

Irgendwann wird sie ihre Gegenmacht in eine starke Organisation wandeln müssen.

NEGRI Gut, aber heißt Organisation, die Macht abzutreten? Glauben Sie nicht, dass unsere neuen Arbeitsformen, unsere neuen Erfahrungen es möglich machen, die Macht besser zu organisieren als in der Vergangenheit? ZumBeispiel als Kooperation in einem Netzwerk? Die Diktatur des Proletariats ist tot, eine der vielen Leichen der alten Welt.

Vielleicht hängt das auch davon ab, welche Herrschaftsform das Empire findet.

NEGRI Die Frage ist durchaus offen. Wie alle Reiche stellt das Empire seine Ordnung als permanent, ewig und notwendig dar. Seine Ambition, auch wenn es im Blut badet, ist der ewige Friede. Es beansprucht eine hohe Legitimität. Töricht, das Empire ausschließlich darüber zu beschreiben, was es nicht ist. In unserem Buch spielen wir mit einer geschichtlichen Analogie. Auf der einen Seite die römisch-aristokratische Form der Macht, auf der anderen die byzantinisch-monarchische. Amerika mit seinem Thronräuber Bush ist eindeutig byzantinisch-monarchisch. Unter Kollegen scherzen wir darüber, wie sehr "Star Wars", der amerikanische Raketenschutzschild, einer byzantinischen Kuppel gleicht … Aber vielleicht entscheidet sich das Empire auch für die zivilere, offenere, römische Form, die den Bürgern mehr Freiheiten lässt.

Befürchten Sie nicht, dass der 11. September und der Kampf gegen den Terrorismus die No-Globals kriminalisieren könnte?

NEGRI Doch, sehr. Die Freiheiten wurden und werden noch mehr eingeschränkt. Ich fürchte, der Krieg gegen den Terrorismus gibt das neue Modell ab, wie das Empire seine Souveränität durchsetzt. Er ist weder ein klassischer Krieg noch eine klassische Polizeiaktion, sondern eine neue Form von Krieg, der immer weniger zerstört, aber eine ordnende und konsti-tuierende Rolle übernimmt. Die Militärs verwandeln sich in Richter, in zentrale Figuren des gesellschaftlichen Lebens. Sie könnten im Empire immer mehr Funktionen übernehmen.

In den 70er Jahren waren Sie ein Kopf der außerparlamentarischen Linken. Sie sind damals gescheitert beim Versuch, die Ordnung umzustürzen. Was lehrt Sie das darüber, wie sich die Menge im neuen autoritären Empire verhalten soll?

NEGRI Ich denke, dass diese Bewegungen bewaffnet sein müssen – bewaffnet mit gutem Willen, mit der Fähigkeit und der Intelligenz des Respekts.

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ANTONIO NEGRI (68)

ist ein frappierender Mann: faustisch, ambivalent wie alle Venezianer, ein Kraftwerk neuer Ideen. Als Philosophiestudent tritt er in Padua der Katholischen Aktion bei, wird zugleich MARXIST. Er leistet Sozialarbeit in Sizilien. Zurück inPadua übernimmt er die Professur für Rechtsphilosophie, verfasst eine Reihe von Werken zu Hegel. Nach einem Intermezzo in der Sozialistischen Partei gründet er die Zeitschrift "Quaderni Rossi", Organ der Neuen Linken. Padua ist Zentrum studentischer Agitation, Negri Chefdenker der Gruppen Potere Operaio und Autonomia. 1979 wird er mit etwa 50 weiteren Intellektuellen verhaftet und sitzt bis 1983 im Gefängnis. "Die wilde Anomalie" erscheint, ein bahnbrechendes Buch über Spinoza und Marx.

Politischer Prozess: Er soll die Ermordung ALDO MOROS geplant haben. Die Anklage fällt in sich zusammen. Negri setzt sich per Boot nach Korsika ab. Im Pariser Exil lehrt er an den staatlichen Eliteuniversitäten, während Rom auf Auslieferung drängt. Mit Michael Hardt schreibt er "Empire". 1997 kehrt Negri freiwillig zurück. Trotz eines Appells vieler Intellektueller wird er wegen "bewaffneten Aufstands" eingesperrt. Seit kurzem lebt Negri in seiner römischen Wohnung unter HAUSARREST.


Das Interview erschien im Februar 2002 zuerst in der WOCHE.

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