freiwillig ist nicht
Andre Schnoor, Hamburg, März 2004

Eine Polemik gegen den bedingungslosen technischen Fortschritt, die Rationalisierungs-Spirale des weltweiten Wirtschaftskampfes und die Hoffnung, dass irgendwann alles irgendwie von selbst wieder bessr wird.

Die Welt konnte vor 40 Jahren wunderbar mit sehr wenig High Tech funktionieren. Alles war komplizierter und langsamer, aber es lief. Die globale Beschäftigungstherapie "Ich mach dir deins, dann machst du mir meins" drehte sich gemächlich aber vollbeschäftigt im Kreis. Ok, das ist idealisiert. Aber hier geht es grob um die Richtung. Und die geht abwärts.

Der technische Fortschritt entwickelt sich immer mehr zu dem, was das militärische Wettrüsten der 80er war: Eine Spirale in den Untergang. Besonders kritisch ist dabei die technisch gestützte Rationalisierung in den Unternehmen.

Globalisierung und scharfer Wettbewerb lassen heute kaum einem Unternehmer die Wahl aus der Rationalisierungs-Spirale auszusteigen und eigene Wege zu gehen. Er *muss* sich anpassen beim technischen Aufrüsten und damit beim Abbau von Personal. Es ist ja nicht so, dass ein Chef nicht gerne möglichst viele Mitarbeiter hätte. Ganz im Gegenteil. Er liebt es! Was gibt es schöneres, als König eines großen Volkes zu sein. Aber er darf nicht. Der Zwang, Mensch durch Maschine zu ersetzen ist, leider so unvermeidbar wie die Schwerkraft.

Auf lange Sicht wird das böse enden. Und zwar für Alle. Diese Spirale wird den Arbeitsmarkt aushöhlen und die Volkswirtschaften implodieren lassen. Die für jede Wirtschaft lebenswichtige breite Mitte stirbt aus, die Kluft zwischen Arm und Reich wird bizarre Dimensionen annehmen. Der globale Unfriede kommt so sicher wie der Tod.

Fortschritt hat keinen natürlichen Feind. Es gibt kein Regulativ, außer das technisch jeweils nicht mehr Machbare. Verrückt dabei ist: Ein nicht unwesentlicher Teil aller Unternehmen verdient heute sein Geld ausgerechnet damit, das technisch Machbare immer weiter hochzurüsten, die Spirale also immer mehr zu beschleunigen. So betreibt die Wirtschaft in vorauseilendem Gehorsam ihren Selbstmord auf Raten.

Ganz besonders fatal entfaltet sich hier die allgegenwärtige Bevorzugung des kurzfristigen Erfolgs gegenüber nachhaltiger Stabilität. Kurzfristig = ICH, langfristig = WIR. Aber es gibt kein WIR ohne Freiwilligkeit.

Die Gesetzgebung hat kaum eine Chance, da der internationale Konkurrenzdruck als permanentes Killerargument gegen jeden nationalen Alleingang spricht. Nur die Utopie eines freiwilligen globalen Verzichts auf weitere Rationalisierung könnte dem Zerfall Einhalt gebieten. Ein partieller Waffenstillstand zwischen den Unternehmen. Wettbewerb bedeutet dann nicht mehr "wer baut's mit den wenigsten Leuten?" sondern "wo arbeiten die Leute am produktivsten?". Der Kampf um die härtesten Personalkiller weicht dem Kampf um die effektivste Unternehmenskultur und -Führung. Ein schöner Gedanke.

Aber freiwillig ist nicht. Wieso eigentlich?

Ein zentrales Problem in der menschlichen Gesellschaft ist die fehlende Koordination wenn es um kollektives Verhalten geht. Natürlicherweise sieht sich jeder erst einmal selbst und "sieht gar nicht ein" warum ausgerechnet er den Anfang machen soll, wenn es die anderen nicht vor ihm tun. Freiwilligkeit ist mit Verzicht verbunden, oft sogar mit Gefahr (z.B. einseitiger Gewaltverzicht).

Das fängt ganz klein mit "Müll runterbringen" an. Auch so banale Dinge wie Freundlichkeit und Großzügigkeit haben schwer mit einem Mangel an Freiwilligen zu kämpfen. Lieber jetzt sofort Nehmen und später (vielleicht) Geben. Auf die umgekehrte Richtung ist kein Verlass. Es reicht nicht, wenn einer den Anfang macht. Es müssen alle anfangen und sich auch langfristig daran halten. Und man muss es deutlich sehen können, damit ein nachhaltiger Gruppenzwang entsteht. Utopisch. Fazit: Freiwillig funktioniert nicht. Fast nirgendwo.

Was also tun? Auf eine schlagartige globale Ausbreitung von Zivilcourage würde ich nicht unbedingt hoffen. Eher ist es wahrscheinlich, dass der sogenannte Fortschritt natürliche Feinde bekommt. Unfreiwillig, versteht sich.

Spielen wir einmal Profiler und versetzen wir uns in den natürlichen Feind des Fortschritts hinein: Wo würde er ansetzen? Das Kerninstrument der Rationalisierung liegt im IT-Bereich. Dieser ist verwundbar. Das bringt uns die wunderbare Idee des gerechten IT-Terrorismus. Nicht etwa verstohlenes Hacking, Cracking und Virenschreiben. Nein, richtigen Terrorismus: Mit ferngesteuerten Planierraupen in Rechenzentren rasen. Chipfabriken mit EMP-Granaten ausschalten. Viren in Fertigungsstrassen einschleusen, hach, der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt. Da lacht der vom Weltschmerz geschundene Idealist der Erlösung seiner aufgestauten Frustration entgegen!

Gerecht muss es aber schon zugehen. Will heißen: *Alle* müssen flächendeckend und global betroffen sein, es darf keine Wettbewerbsverzerrung entstehen, "guter" Fortschritt muss von "bösem" Fortschritt fein säuberlich getrennt werden. Wer möchte da nicht gern in diesem Komitee sitzen?

Was die globale Skalierung solcher Maßnahmen angeht, würde es selbst bei der größten Leidenschaft aller Beteiligten sehr schnell anstrengend werden. Regelrechte Armeen konspirativer Fanatiker wären nötig. Und damit wären wir wieder mitten im besagten Koordinationsproblem: Wer macht das? Freiwillig?

Geht es nicht effektiver? Wo ist das berühmte Sandkorn im Getriebe? Sollte man sich vielleicht nur auf einzelne Protagonisten konzentrieren und mit dem außerordentlich wirksamen Mittel der Angst arbeiten? Angst ist ein sehr potenter Multiplikator. Einer gekillt - hundert weitere verharren in Erstarrung. Nicht, dass uns das wirklich gefallen würde, aber freiwillig geht ja nix.

Wir können auch anders! Wie wäre es mit einem Geheimprojekt "Die Hand Gottes". Ein geheimes Labor zur Entwicklung der perfekten Waffe. Der Leitsatz, das angestrebte Ideal sozusagen, heißt: "Töten durch Gedanken". Das Forschungsziel ist eindeutig: Wie schafft man es, völlig spurenlos, lautlos, nicht zurückverfolgbar, gezielt und auf den Punkt eine für das globale Gemeinwohl mehrheitlich unerwünschte Schlüsselperson auszuschalten? (an diesem Projekt wird übrigens seit 5000 Jahren gearbeitet, mindestens seit Pfeil und Bogen erfunden wurden).

Zugegeben, ein grobes Instrument. Aber die friedlichere Variante "Willensbildung durch Gedanken" wird wohl technisch auch in den nächsten 1000 Jahren noch nicht machbar sein. Sie funktioniert meistens nicht einmal freiwillig.

Wie wäre es z.B. mit einem Schwarm Fliegen, von kleinen aufgeklebten Funk-Etiketten-Chips ferngesteuert, die sich nachts in großer Zahl in die Atemwege eines Opfers einschleusen und es ersticken? Ein biblisches Symbol! Die Chips sind schließlich endlich klein genug. Der Fortschritt frisst seine Kinder. Wer übernimmt dann noch freiwillig einen Vorstandsposten, wenn seine Vorgänger allesamt an Insekten-Bots unbekannter Herkunft krepiert sind?

Selbstverständlich gehört "Die Hand Gottes" exklusiv in die Hände eines weisen Rates, der sich - nach reiflicher Überlegung und mittels eines angemessenen Initiationsrituals – selbst ernannt hat. Freiwillig. Die demokratische Wahl eines Großinquisitors wäre völlig ausgeschlossen. Er muss geheim bleiben, da er über dem Gesetz steht (stehen muss!) und daher von ihm verfolgt würde. Gesetzlosigkeit ist in diesem Fall also Notwehr.

Für solche Szenarien braucht es nur eine Hand voll Freiwilliger mit technischem Verstand. Die Zeit wird es richten. Denn wenn nicht bald etwas geschieht, wird sich jemand dazu aufgerufen fühlen.

Ausgerechnet in den USA, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, dem Vorzeige-Buhmann des ungebremsten Kapitalismus, kommen inzwischen politische Bestrebungen auf, multinationales Outsourcing von Jobs in Billiglohn-Länder systematisch per Gesetz zu benachteiligen. Onkel Sam schneidet seinen Kraken die Saugnäpfe ab, damit das Aquarium am Leben bleibt. Hört, hört.

Das hat zwar nicht direkt etwas mit Rationalisierung durch High Tech zu tun. Es zeigt aber deutlich: Freiwillig geht es wirklich nicht. Es erinnert uns daran, dass es keinen legitimen Garant für den Frieden gibt, außer einer Politik die immer und in jeden Fall mächtiger ist als Wirtschaft und Wissenschaft zusammen.

Im Augenblick hat niemand mehr einen Zweifel daran, dass es genau umgekehrt ist.

[zurück zum Anfang]



© 2004 km 21.0 - diese Seite ist Bestandteil von www.km21.org