die zerschlagung der welt
Oliver Fahrni, Hamburg, November 2001

Nach den Anschlägen vom 11.September 2001 werden die Globalisierungskritiker in die Nähe des Terrorismus gerückt. Das ist absurd: Denn es ist die Globalisierung, die statt Wohlstand für alle Not und Kriege hervorbringt – und eben auch Gestalten wie Osama Bin Laden

Schade eigentlich, dass man ihn töten muss. Hätte er eine andere Karriere gewählt, müsste man Osama Bin Laden sogleich in die Verwaltungsräte von ein paar Weltkonzernen berufen – denn keiner globalisiert so gründlich wie er. Sein Geschäftsgebiet ist die ganze Welt. Sein Name: ein Markenzeichen bis in die Slums von Jakarta. Der Firmensitz: irgendwo, jedenfalls fluchtgünstig angelegt. Seine Terror AG: ein globales Netzwerk, kleine Zentrale, kaum lokale Mitarbeiter, multinationale Mannschaft. Das Credo: Grenzen kenne ich nicht, nationale Gesetze heble ich aus, internationale Regeln ignoriere ich. Und menschliche Verluste sind kein Problem, solange mir mein Angebot abgekauft wird.

Merkwürdig, wie sich die schärfsten Feinde ähneln. Bin Laden, der Globalisierer des Terrors, ist – trotz Koranversen – ganz ein Mann unserer Zeit. Sein Massaker an fast 5000 Menschen ist ein Indiz für die Wucht der Vorgänge, die wir Globalisierung nennen. Ein mildes Wort, wo es doch um den radikalen Umbau der Welt geht. Es suggeriert: Der Globus wächst zusammen, Reisen wird billig, die Kommunikation rasant und der Wohlstand mehrt sich global. Wir essen Sushi und in den Favelas von Rio scheppert Madonna.

Nun aber keimt der Verdacht, es bahne sich eine große geschichtliche Verwerfung an. Selbst ein so bedächtiger Mann wie Anthony Giddens, Direktor der London School of Economics, beschrieb die Globalisierung schon 1999 als historischen Bruch, der fast alles umstürzen werde, was die in sechs Jahrhunderten gewachsene kapitalistische Ordnung ausmacht. Der Japaner Kenichi Ohmae prophezeite als Erster das Ende des modernen Nationalstaats. Michel Beaud, ein französischer Ökonom, der seit vier Jahren der Globalisierung in einem Tagebuch das Fieber misst, sieht gar das gesamte, 2000 Jahre alte Wertesystem der westlichen Zivilisation rasch zerfallen. Der Menschheit stehen neue Verteilungskämpfe, verheerende Bürgerkriege und Aufstände ins Haus.

Die Sorge macht deutlich, wie unzulänglich die Vorstellung ist, Globalisierung sei nicht mehr als die weltweite Ausdehnung des Marktes. Schon lange ist der Kapitalismus international organisiert. Europas Aufstieg baute auf Sklavenhandel und Sklavenarbeit, auf Kolonialismus, Handel und Migration. Die weltweiten Warenströme sind heute nicht entscheidend höher als vor dem Ersten Weltkrieg.

Weit mächtigere Kräfte zertrümmern derzeit die uns bekannten Formen von Wirtschaft und Gesellschaft. Zum einen die exorbitante Konzentration von Kapital und Macht in Händen von weltweit agierenden Konzernen: In den 90er Jahren sind mehr multinationale Unternehmen entstanden als in dem halben Jahrtausend davor. Die 15 mächtigsten Firmengiganten allein setzen mehr um, als die 60 ärmsten Länder zusammen erwirtschaften. Zu den weltweit 100 größten wirtschaftlichen Einheiten zählen heute 52 Konzerne – aber nur noch 48 Staaten.

Der andere umstürzende Faktor ist der Kasino-Kapitalismus, die Entfesselung des spekulativen Finanzkapitals. 360 Billionen Dollar (400 Bio. €) gingen 1997 durch die Finanzmärkte – pro Börsensekunde über 8 Milliarden Mark (4,1 Mrd. €).

Dieses Geld ist auf kurzfristige Gewinne aus – jenseits der realen Wirtschaft: Die ist, alle Waren, Dienstleistungen, Investitionen zusammen, 20-mal kleiner. So fällt eine weitere Illusion der globalen Ökonomie: Im vergangenen Vierteljahrhundert stagnierten die Investitionen in Entwicklungsländern – der Geldabfluss vom armen Süden in den Norden aber wuchs um das Zwölffache.

In Wahrheit ist die Globalisierung ein radikaler Epochenbruch: Etwa 200 gewaltige Konzerne, Banken, Investmentfonds und Versicherungen haben sich ihren Volkswirtschaften entzogen – jeder Volkswirtschaft. Sie bilden eine neue Gruppe exterritorialer Unternehmen, die den Großteil ihrer Geschäfte untereinander abwickeln. Eine ungekannte Machtballung.

Dieser Vorgang setzte Mitte der 70er Jahre ein. Auf Druck der Konzerne, getrieben von neoliberalen Theoretikern der Chicago-Schule, schleiften die Politiker der Industrienationen Zölle, Sozialstandards, Gewerkschaftsrechte, Kündigungsschutz, Devisenkontrollen, Investitionsvorschriften und Hunderte von Gesetzen, welche die Unternehmen in die Wirtschaft ihrer Staaten einbanden. Die Weltbank, der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Welthandelsorganisation (WTO) setzten die Deregulierung international durch.

Eine einseitige Entfesselung freilich: Während die meisten Entwicklungsländer gezwungen wurden, sich für das westliche Kapital zu öffnen, hielten Käuferkartelle die Rohstoffpreise niedrig und die Zollschranken für Importe aus der Dritten Welt hoch. Die Zinsknechtschaft gab manchem Land den Rest: Argentinien, potenziell eine reiche Nation, fällt dieser Tage in den Bankrott; seine Schulden liegen viermal höher als seine Exporteinnahmen.

Nicht ein großes, globales kapitalistisches System also entstand in der Globalisierung, sondern drei nebeneinander wirtschaftende Systeme: Das erste betreibt die Gruppe exterritorialer Konzerne, in der Mehrzahl von amerikanischem Kapital beherrscht. Seine Kartelle versuchen, die Hand auf alle rentablen Stücke der Welt zu legen. Rohstoffe, fruchtbaren Boden, neue Technologien, Wissen, Arbeitskraft. Neuerdings sogar auf das Leben: Sie schicken sich an, in der WTO den Patentschutz auf Gene, Pflanzen, lebende Substanzen zu erzwingen. Setzen sie das durch, müsste eine Indio-Bäuerin Royalties für Medikamente bezahlen, die sie mit ihrem alten Wissen aus Heilpflanzen gewinnt.

Lokale Unternehmen aus dem Norden und kleinere Multis betreiben das zweite System. Es hängt stark von den exterritorialen Konzernen ab, zieht seine Profite aber vor allem aus regionalem Handel. Lokale Kleinindustrien, Gewerbe, Bauern in der Peripherie bilden das dritte System – es ist zunehmend von der globalen Wirtschaft abgekoppelt.

So zeichnen die Manager der exterritorialen Unternehmen die Weltkarte neu: Um Inseln des Wohlstands (die großen Dienstleistungsmetropolen) gruppieren sich Industriegebiete. Nützliche Produktionszonen, wie die Erdölfelder Nigerias, südostasiatische Manufakturgebiete oder die Hightech-Zentren Indiens, werden in die globale Ökonomie integriert, wachsende Teile der Welt aber – ganze Landstriche Afrikas und nun auch Lateinamerikas – ausgegrenzt. Neue weiße Flecken. Dazwischen, als Pufferzonen, bevölkerungsstarke Nationen – Absatzmärkte und Reservoire der Arbeitskraft.

Diese Entwicklung ist politischer Sprengstoff pur. Die jungen Nationen der Dritten Welt, nach der Krise der Tigerstaaten sogar die Südostasiaten, leiden unter dem Bruch ihrer Hoffnung, irgendwann besser zu leben. Das fördert Radikalisierungen. Einen entscheidenden Entwicklungssprung für alle sollte die Globalisierung bringen; jetzt erweist sie sich als harter, selektiver Ausgrenzungsschub.

Die Einkommensunterschiede explodieren, zwischen der armen und der reichen Welt, innerhalb der Dritten Welt, aber auch im Norden. Über 1 Milliarde Menschen versuchen, mit weniger als 1 Dollar pro Tag zu überleben. Das Gefälle zwischen den reichsten und den ärmsten 20 Prozent lag 1930 bei 30:1 – 1997 stand es schon auf 74:1. Ein Drittel der Amerikaner, ein Fünftel der Europäer verfügt über weniger Geld als vor zehn Jahren.

Lange stützten die Tigerstaaten und die aufstrebenden Chinesen die statistische Fiktion vom Glück durch den siegreichen Kapitalismus. UN und Weltbank legten alle Jahre ein Entwicklungsprogramm auf. Dann brach das japanische Bankensystem ein. 1997 schlitterte Thailand in die Krise, löste eine Kettenreaktion über Russland bis nach Brasilien aus. Länder, die als gelehrige Schüler des IWF galten. Jetzt kracht Argentinien zusammen, die Türkei wankt.

Schon kursieren bei der Weltbank Ka-tastrophenszenarien. Paul Krugman, ein führender amerikanischer Ökonom, warnt vor der „großen Rezession“. Die Stimmung kippt, das Modell wird hinterfragt. Joseph E. Stiglitz, Wirtschafts-Nobelpreisträger 2001 und Ex-Chefökonom der Weltbank, kritisiert: Die Deregulierung der Weltmärkte sei von den reichen Ländern für die reichen Länder konzipiert worden. Es gebe keinen Beweis, sagt Stiglitz, dass die Globalisierung den Wohlstand befördere. Im Gegenteil: „Unter IWF und WTO ist die Verarmung gewachsen.“

Schlimmer: Unter den Schlägen der Globalisierung zerfallen immer mehr Staaten und Nationen. Im Kalten Krieg konnten sie sich auf die eine oder andere Seite schlagen, was die Regime stabilisierte, die Nationen zusammenschweißte und ihnen Hilfe eintrug. Wie im Kongo brechen nun überall Verteilungskämpfe aus, als ethnische oder religiöse Bürgerkriege getarnt. Wo kein funktionierender Staat mehr die Länder ordnet, privatisieren Kriegsfürsten, Gangs, regionale Gruppen, Söldner den Krieg, oft von exterritorialen Konzernen finanziert, die sich für Diamanten, Uran oder Öl interessieren. Radikalreligiöse Bewegungen haben Zulauf von frustrierten Eliten. Um ihre Perspektiven geprellt, greifen sie auf vormoderne Gesellschaftsmodelle zurück. Von Indonesien bis Peru gärt die Revolte gegen den Norden. Millionen von Globalisierungskritikern haben sich in regierungsunabhängigen Organisationen versammelt.

Sie finden Kampfgefährten in Europa und Amerika. Nach der Straßenschlacht von Genua steht das nächste Kräftemessen in Ottawa an. Dort tagen vom 16. bis 18. November 20 Industrieländer und die Finanzinstitutionen.

Europas Regierungen suchen den Protest abzufedern. Lionel Jospin und Gerhard Schröder versprechen, für eine „Globalisierung mit menschlichem Gesicht“ einzutreten. Fraglich, ob sie das überhaupt könnten, wenn sie nur wollten – die Konzerne haben sich dem Einfluss der Politik ein gutes Stück weit entzogen.

Doch die Konzernmanager treibt ein doppeltes Problem um: Zum einen versuchen sie den Crash zu verhindern. Dafür wollen sie den von ihnen entfesselten Raubritter-Kapitalismus mit internationalen Regeln bändigen – eine Art Weltinnenpolitik, aber ohne die Bürger. Zum anderen flirten sie wieder mit dem Staat, weil nur er die Globalisierungsverlierer ruhig stellen kann. Gefragt ist kein europäischer Sozialstaat, sondern ein autoritärer Staat. Beim letzten Management-Forum in Davos nannten sie das „Demokratur“. Könnte sein, formuliert der Publizist Robert D. Kaplan, „dass die Demokratie in der Geschichte der Menschheit nur eine kurze Episode war“.

Bin Laden kam ihnen gerade recht. Die Staaten rüsten auf. Die Globalisierungskritiker, frohlockte das „Wall Street Journal“, seien jetzt wohl erledigt.

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