die creative gruppe

aufruf für einen europäischen bundesstaat
und die abschaffung der nationen
Aix-en-Provence, den 19. März 1992, ausgedruckt 5 Seiten


zur gegenwärtigen lage

Seit dem Maastrichter EG-Gipfel ist die europäische Idee in Gefahr: Im Kreuzfeuer linker und rechter Kritik klingen Bekenntnisse führender Politiker plötzlich halbherzig, werden Rückzugsstrategien ausgearbeitet und Abwiegelungen verbreitet. Nie hatten nationalistische Tendenzen bessere Chancen gehört zu werden. Jetzt, da zum ersten Mal auf Teile der Souveränität verzichtet werden muß, blüht ein totgeglaubter Chauvinismus auf, erinnert man sich an Werte, die vor der Wiedervereinigung keine waren: Durchsetzung rein nationaler Interessen, Anerkennung als politische Groámacht, forcierte Verbreitung deutscher Sprache und Kultur. Die durch die Einführung des Ecu und höhere Abgaben an die EG für den Sozialfonds bevorstehende Umverteilung der Gewinne, die die Bundesrepublik seit 1958 aus der EWG gezogen hat, bereitet unerwartete Bauchschmerzen. Linke Kritik am "Europa der Konzerne" und an mangelndem Demokratiegehalt der EG gerät zur unfreiwilligen Schützenhilfe der nationalistischen Europagegner.
Das Fehlen einer politischen Vision für einen künftigen europäischen Staat macht sich unangenehm bemerkbar, da man wirtschaftlichen Interessen das Feld der Gestaltung Europas überlassen hat. Sämtliche Entscheidungen wurden unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten gefällt, und auf Gebieten ohne ökonomische Zielsetzung konnte keine Einigung erzielt werden.

Es ist Zeit, in neuen Dimensionen zu denken und zu handeln. Europa ist mehr als eine Freihandelszone und etwas anderes als die Summe seiner Nationen. Die nationale Idee hat in knapp 200 Jahren zu einer umfassenden physischen und geistigen Verwüstung Europas geführt und schürt bis heute Intoleranz und Rassismus. Nur mit der endgültigen Beseitigung der nationalen Idee hat Europa eine friedliche und demokratische Zukunft. Man darf sich keinen Illusionen hingeben: 45 Jahre Frieden und Zusammenwachsen Westeuropas waren nur durch den Kalten Krieg möglich. So entlarvt denn auch das Unbehagen der EG angesichts der Beitrittsgesuche der osteuropäischen Staaten die Notwendigkeit, die europäische Idee auf wirklich neue Grundlagen zu stellen.

unsere vision

Ziel der Europapolitik in den nächsten Jahren muß die Schaffung eines europäischen Bundesstaates mit Abschaffung der nationalen Ebene, eines Europas der Regionen sein. Warum Regionen?
Zum einen läßt sich nur so das Hegemonialstreben der großen Staaten verhindern und eine dauerhafte Emanzipation der kleinen Kulturen, insbesondere der nicht souveränen (Basken, Katalanen, Korsen, Bretonen, Schotten, Waliser etc.), erreichen. Die Vielfalt der europäischen Kulturen kann in einem Europa der Nationen auf lange Sicht nicht erhalten werden. Zum anderen läuft die Beibehaltung der nationalen Ebene einer echten föderalen, demokratischen Struktur zuwider, da alle regionalen Angelegenheiten zwischen der europäischen und der jeweiligen nationalen Ebene ausgehandelt werden. Die Regionen als die tatsächlichen Bausteine eines europäischen Staates müssen die Möglichkeit haben, mit der europäischen Ebene direkt zu verhandeln. Darüberhinaus ermöglichen Regionen von überschaubarer Größe (5 - 15 Mio. Einwohner) den Bürgern eine aktivere Mitgestaltung der Politik, größere geistig-kulturelle Autonomie und eine bessere Identifikation als in einem 50 - 80 Mio Einwohner zählenden Nationalstaat bzw. einem Europa-Staat mit 400 - 500 Mio. Angesichts der jetzigen EG-Bürokratie, die mit Sicherheit im künftigen europäischen Bundesstaat nicht kleiner wird, ist es unsinnig, die nationalen Bürokratien beizubehalten. Denn die Regionen sind (gemäß dem Subsidiaritätsprinzip) ohnehin in der Lage, die Verwaltungsaufgaben, die die europäische Bundesebene nicht wahrnimmt, selbst zu lösen - ohne die nationale Ebene. Da in fast allen europäischen Nationalstaaten heute schon Regionen existieren (z.B. die Bundesländer in der Bundesrepublik, die 22 Regionen in Frankreich, die autonomen Gemeinschaften und Provinzen in Spanien), bereitet es keine Probleme, die bestehenden Strukturen in europäische Regionen zu überführen.

was tun?

Schnellstmöglich muß eine Verfassungskommission sowohl der jetzigen als auch der künftigen Mitgliedsstaaten einberufen werden. Die ausgearbeitete Verfassung wird durch Volksentscheid angenommen und nicht durch die Ratifizierung der nationalen Parlamente.

Zur Neustrukturierung Europas in Regionen arbeitet eine ebenfalls neu zu schaffende Kommission Vorschläge aus. Es sollen Regionen mit 5 - 15 Mio Einwohnern eingerichtet werden, kleine Kulturen wie das Baskenland sollen auf jeden Fall eine eigene Region bilden. Die Vorschläge der Kommission, welche Gebiete sich zu einer Region zusammenschließen können, berücksichtigen gemeinsame Geschichte und geographische Gegebenheiten ebenso wie kulturelle Zusammenhänge. Grenzüberschreitende Regionen wie Saarland/Lothringen/Luxemburg/Westpfalz sind denkbar. über die Vorschläge wird ebenfalls durch Volksentscheid in den betreffenden Gebieten abgestimmt. Einmal gebildet, kann jede Region über ihre eigene Struktur entscheiden und sich in Untereinheiten teilen.

Für die Übergangszeit bis zur Verabschiedung der europäischen Verfassung (die nächsten 10 - 15 Jahre) müssen dem Europaparlament schrittweise legislative Vollmachten übertragen werden, bis es gleichberechtigt neben dem Ministerrat steht. Es übernimmt dann die Kontrolle und Wahl der EG-Kommission, die bis zur Einsetzung der ersten demokratisch gewählten europäischen Regierung fortbesteht. Außerdem wird der Rat der Regionen vorbereitet, ein europäisches Analogon zum Bundesrat.

Mit Inkrafttreten der europäischen Verfassung löst der Rat der Regionen den Ministerrat und die erste europaweit gewählte Regierung die EG-Kommission ab, wird die jetzige Struktur der Nationalstaaten durch die neue Struktur der Regionen ersetzt. Die nationale Ebene hört damit auf zu existieren. Lediglich die nationalen Straf- und Zivilrechtssysteme, verkörpert durch die alten nationalen Berufungsgerichte, bleiben bis zur Schaffung einer regionalen Rechtsstruktur bestehen.

Zur Verhinderung zu großer Machtkonzentration in den Händen der europäischen Regierung, vor allem hinsichtlich der militärischen Mittel, muß der Rat der Regionen mit weitreichenderen Kompetenzen als vergleichsweise der Bundesrat ausgestattet werden. Um der föderalen Struktur Rechnung zu tragen, muß außerdem eine gleichgewichtige Kompetenzverteilung zwischen Europaparlament und Rat der Regionen geschaffen werden. Jede Region besitzt im Rat dieselbe Stimmenzahl, während das Parlament proportional zur Bevölkerungszahl der Regionen besetzt wird. In allen Angelegenheiten gilt für das Verhältnis von Regionen und Zentralgewalt das Subsidiaritätsprinzip.

Das europäische Staatsgebiet wird auf die Länder beschränkt, die durch eine gemeinsame Geistesgeschichte, und zwar die Ideen der Aufklärung und des Humanismus, verbunden sind und sich innerhalb der geographischen Grenzen Europas befinden. Die uneingeschränkte Aufnahme von benachbarten Staaten in Nordafrika, im Nahen Osten und im westlichen Zentralasien würde dort zu neo-kolonialistischen Strukturen führen. Vielmehr müssen Tendenzen unterstützt werden, dort eigene Staatenbünde/Bundesstaaten zu gründen, gerade auch zum Schutz ihrer kulturellen Identität gegenüber dem europäischen Bundesstaat. Wirtschaftliche Assoziierungsverträge zwischen einzelnen oder mehreren Regionen und Anrainerstaaten und kultureller Austausch müssen auf jeden Fall gefördert werden.



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