europas neues demokratie-labor
Oliver Fahrni, Zürich, Juni 2004

Ein bemerkenswertes Projekt lokaler Demokratie, das in Europa seinesgleichen sucht, hat in Bologna bei den italienischen Kommunalwahlen die Abwahl des konservativen Bürgermeisters geschafft und den Gewerkschaftler Sergio Cofferati ins Rathaus von "La Rossa" gebracht. Eindrücke aus der Stadt, die den Anfang vom Ende der Berlusconi-Regierung markieren könnte, aufgenommen wenige Tage vor der Wahl.

Bologna Centrale. Andere haben vielleicht Taj Mahal gesagt, Poona oder New York und dieselbe Erregung verspürt, wie wir beim Ordern der Bahnkarte nach Bologna. Das Leben war besser, in la Rossa, der Roten. Seit dem Weltkrieg regierten hier die Kommunisten. Ein Modell linker Stadtverwaltung. Man kam in Centrale an, setzte sich auf einen Platz und wusste, man würde angesprochen werden, in ein paar Stunden in einem Hörsaal Rossana Rossanda oder Umberto Eco lauschen, in einer Casa del popolo feiern, an einem Pasolini-Meeting über Eurokommunismus, Negri und Sexualität streiten, für unveröffentlichte Film-Cuts von Fellini einen halblegalen Cinéclub suchen, die ersten Punk-Bands hören oder vorübergehend in eine WG aufgenommen werden. Kunstvoll wussten die Bologneser lukullische Lebensart mit Revolution, Avant-garde mit ausgebauter Welfare, elegante Tradition mit Weltzugewandtheit zu verbinden. Bologna war wohlhabend, subversiv und tolerant. Labor einer Linken, die sich in immer rascherem Schritt reformierte, von der KP zur PDS zur DS, von der Internationale zum Eurokommunismus zur Sozialdemokratie ihres Sekretärs Piero Fassino.

Kommt der Reisende heute nach Bologna, steht die atemberaubende Architektur in Ocker noch, die beiden Türme neigen sich weiterhin gefährlich, auch die Uni, die sich die Älteste der Welt heischt, summt mit 100 000 Studenten, davon fast zwei Drittel AusländerInnen (besonders floriert der Ableger der ultrarechten US-Universität John Hopkins). Der Wein hält die Qualität. Doch über der Stadt liegt Grau. Die Luft ist schwer zu atmen. Der menschliche Verkehr stockt. Du bist fremd wie in anderen Städten. Bologna hat sich in sich verkrochen. Zelebriert seine Provinzialität: Bolognesità nennt das der Bürgermeister.

1999 hatte die Stadt beschlossen, kein Modell mehr zu sein. Bei Bürgermeisterwahlen teilte sie dies Europa, Italien und sich selbst mit: Bologna brach mit der Linken und kürte Giorgio Guazzaloca, einen kleinen Unternehmer. Offiziell parteilos, nannte er seine Liste „Dein Bologna“. Mit ihm übernahmen Silvio Berlusconis Leute, die Postfaschisten von Gianfranco Fini, vor allem aber ein Trupp Christdemokraten in neuen Gewand die Geschicke der Rossa.

Keine Stunde in der Stadt, da gellen Sirenen. Der Jahrestag der Republik hat sich zu einer Militärparade ausgewachsen. Protest der Disobbedienti, der Ungehorsamen, und des Forum sociale. Knüppelfest der Polizei. Filmmaterial zeigt einen Ungehorsamen, der am Boden liegt, festgehalten von Gendarmen, ein Kommissar tritt ihn ins Gesicht. Am nächsten Tag wird „Il resto del Carlino“, das Blatt Bolognas, die Geschlagenen beschimpfen. Die Spannung liesse sich mit dem Messer schneiden. Gefälschte Flugblätter zur Wahl tauchen auf, die unter dem Signet linker Parteien die Wahl Guazzalocas empfehlen. Dienstag abend explodiert bei einem Meeting der Postfaschisten ein kleiner Sprengsatz. Fini spricht weiter. Er ist Bolognese, hier heisst jedes dritte Geschäft „Fini-Sport“ oder ähnlich.

Bologna, sagt Benedetto Zacchiroli, ist „rotta“ – gebrochen. Zacchiroli gründete 2002 die Bologneser Girotondi. Der 32jährige Theologe und Politwissenschaftler, als „Zac!“ Liebling aller Damen, hat in einem Buch das „System Guazzaloca“ beschrieben: Mehr Polizei. Installierung von 263 Überwachungskameras, zum Beispiel in der Via Zamboni, der Ader des Univiertels. Scharfe Gangart gegen Immigranten, Ausbau des Abschiebelagers (CPT) für Illegale in der Ex-Kaserne Chiarini. Mehr Verkehr, mehr Stadtflucht (die Einwohnerzahl ist auf knapp über 300 000 gesunken), Auszug der Industrie, Überalterung. Rückzug der Politik auf das engste Stadtzentrum (intra muros). Steigende Mieten (ein „Bettplatz“, also ein Bett in einem von anderen bewohnten Zimmer) kostet derzeit um die 240 Euro, wie Hunderte von Flugzetteln an der Via Zamboni zeugen. Dicke Luft, aber 10 000 neue Parkplätze. Schliessung von Schulen. Kommerzialisierung der Kultur, etwa der sehenswerten „Sala Borsa“, wo Geschäfte Bibliotheksplätze für Kinder verdrängten. Was Wunder, kann Zacchiroli ein paar Prestigeobjekte zur Glorie von „Re Giorgio“ anführen. Zuvorderst zwei gläserne Kreisbauten, unter denen eine lange Gallerie die Taten Guazzalocas preist. Im Volksmund heissen sie „palle“ (Hoden). Der Bürgermeister bestätigt die Angaben, preist sie indes als Errungenschaften. „Goccie“ (Tropfen) nennt er die „palle“.

Am kommenden Wochenende möchte Zacchiroli das halbe Jahrzehnt Guazzaloca saldieren. Gleichzeitig mit der Europawahl steht (wie ihn Napoli, der Provinz um Mailand und diversen anderen Landsteilen Italiens), auch die Erneuerung der lokalen Regierung an. Zacchiroli schwebt vor, Bologna wieder zu einem poltischen Labor zu machen – diesmal freilich ganz neuer Art.

Das Vorhaben hat gute Aussichten. Zacchiroli militiert im Komitee von Sergio Cofferati, dem Kandidaten der Vereinigten Linken. Eine effiziente Wahlkampmaschine, in einem modernen Bau unweit der Universität aufgebaut, samt eigenem kleinem Internet-TV. Cofferati lag am Mittwoch früh in den Umfragen 10 Punkte und mehr vor Guazzaloco.

Dass der der populäre frühere Chef der Gewerkschaft CGIL in Bologna antritt, dankt er nicht den Linksparteien. Mancher im eigenen Lager fürchtet den Mann, der bisher als einziger Silvio Berlusconi die Stirne bot. Cofferati brachte Millionen auf die Strasse, gegen die Liquidierung des Kündigungsschutzes, gegen die Rentenreform, für Frieden und Bürgerrechte.

Zacchirolis Girotondi und diverse andere Gruppen der Ziviligesellschaft mussten den Linksdemokraten (ex-KP), der Margherita (Sozialliberale um Francesco Rutelli), der Rifondazione communista von Fausto Bertinotti und den kleineren Linksparteien die Hand führen.

Zu diesem Behufe erfanden sie ein neues Wahlprozedere, das ein Jahr lang dauerte. Sie hielten in den 9 Quartieren Bolognas Bürgerversammlungen ab. Die Assemblee wählten Delegierte in eine Vollversammlung, die schliesslich im Januar Sergio Cofferati gewinnen konnten. In den Worten Zacchirolis „ein genetisches Experiment in Politik“.

Der Prozess hat eine Vorgeschichte, die sich dieser Tage an einem Ereignis erneut zeigte. Eine Gruppe „Ungehorsamer“ um das Forum sociale stürmte das CPT-Abschiebelager und machte es teilweise unbenützbar. Sie fordern die Schliessung des menschenrechtswidrigen Camps. Valerio Monteventi, einer der Köpfe des Forum sociale, das sich gerne im besetzten Theater TPO an der Viale Lenin trifft, Vitrine aller Avantgarden, erhellt das Ereignis: Nicht Guazzaloca hatte das Abschiebelager beschlossen – es war die letzte Amtshandlung der linken Stadtregierung, 1999 kurz vor ihrer Abwahl. Manches von dem, was Guazzaloca zugeschrieben wird, begann schon unter DS und Margherita – inklusive mancher Privatisierung und Deregulierung.

Worin das Ende des ersten Bologneser Modells gründete: 1999, nach 54 Jahren linker Regierung, war die Verbindung zwischen Partei und Gesellschaft längst abgerissen. Stadtflucht, Überalterung, Mietwucher, Industrie-Auslagerungen und die wachsende Verunsicherung der Bürger (die gerne den Ruf nach mehr polizeilicher Sicherheit annimmt) trieben viele alte KP-Wähler zur Stimmenthaltung oder gar ins Lager von La Tua Bologna.

Doch dies ist erst die halbe Wahrheit, bekennt Salvatore Caronna, der neue Sekretär der DS: „Sie Partei hat keinen Gedanken daran verschwendet, sie könne die Wahl verlieren. Unmöglich schien das. Wir waren ganz und gar selbstreferentiell, arrogant. Wir hatten den Bezug zur Wirklichkeit verloren.“ Schleichend hatten sich Bürger und Linke entfremdet, seit den Achtziger Jahren schon, glaubt Caronna. Blitzgescheit und ruhig gibt er einen schnellen Abriss über die Selbstdemontage seiner Partei, die am Ende doch nur liberalen Lösungen nachhetzte und damit jeden Grund verlor.

Die lokale Niederlage kündigte eine landesweite an, den Sieg Berlusconis. Gelähmt verharrte die Linke, tatenlos und in innere Querelen verstrickt, liess sie Berlusconis Gesetzesänderungen, die Gewalt am G8 in Genua, die Angriffe auf die Justiz vorüberziehen – bis die Zivilgesellschaft sie vor ihre Verantwortung stellte. Aus einem kleinen Zirkel um Paul Ginsborg und Pancho Pardi in Florenz und Nanni Moretti in Rom wuchsen die Girotondi. Sie sind im wesentlichen die spontane Organisation einer kritischen Elite. Die Arci (1,1 Mitglieder, Freizeit- und Selbsthilfezirkel, die sich von der KP emanzipiert hatten), die Sozialforen, die Cobas (selbstorganisierte Gewerkschafter), die No globals, die Bewegung der Bewegungen, Antikriegsgruppen gesellten sich, je nach Aktion, dazu. Cofferati und seine CGIL führten fast das ganze Spektrum machtvoll zum Generalstreik gegen die Regierung.

Aus der Nähe betrachtet, ahnt man, warum Cofferati so weite Teile der Gesellschaft anspricht. Wir sitzen in einem Garten an der Peripherie Bolognas, um ihn 40 Helfer, Gewerkschafter, der DS-Sekretär, sein Wahlkomitee. Sommertafel. Die Genossen haben gegrillt. „ Fast bewegungslos, wirkt „Coffi“ bis zur Haartolle kompakt, gesammelt, stabil. Er scheint die Energien anzuziehen, gleichzeitig befeuert er sie. Kein Wort entgeht ihm. Man redet über die Pferderennen des Abends. Coffi hat sich ihretwegen „Lo sportsman“ bringen lassen. Man debattiert Kochrezepte. Coffi kennt sich aus. Er spricht sehr wenig. Hört zu, wie er ein Jahr lang in den Quartierversammlungen zugehört hat. Hundert Prozent der Konterpart zu Berlusconi. Der frühere Pirelli-Arbeiter Sergio Cofferati weiss genau, wo er die Füsse hinsetzt.

Guazzaloca begeht den Fehler nicht, ihn zu unterschätzen. In Panik empfahl der Bürgermeister jetzt seinen Wählern, ihn zu wählen, aber auch die Linke. Berlusconi ist nervös, weil er weiss, dass Bologna fallen wird und nach der Rossa-rotta könnten viele Dämme brechen. Nervös sind auch die linken Granden, je nach Temperament. Manche, wie der Ex-Premier Massimo d’Alema fürchten Cofferati, weil sein Experiment einer partzipativen Lokaldemokratie gelingen könnte – andere, so die meisten DS-Kader, erhoffen genau dies. Sie sehen in Bologna nicht bloss ein lokales Laboratorium: Die Stadt könnte zum Modell für eine neue italienische Linke werden und darüber hinaus, für Europa.

Auch radikale Gruppen wie das Forum Sociale oder die Disobbedienti, die nicht in Cofferatis Komitee arbeiten, setzen vorerst auf den Lombarden: Cofferati hat sie angehört und dieser Tage versprochen, er werde das Abschiebelager schliessen.

Interview mit Sergio Cofferati

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