die creative gruppe

rasse - klasse - nation
Dezember 1994, ausgedruckt 17 Seiten

  1. Vorwort
  2. Klasse
  3. Rasse und Rassismus
  4. Nation, Nationalismus und Nationalbewußtsein
  5. Die Suche nach Identität
  6. Die multikulturelle Gesellschaft
  7. Konsequenzen
  8. Anhang: Die Begriffe bei Balibar/Wallerstein
  9. Kommentare


Dabei waren:
Niels Boeing, Andreas Gröhn, Richard von Heusinger, Robert von Heusinger, Ruprecht von Heusinger, Hilde Hoherz, Christina Meinecke, Oliver Peltzer, Jens Peters, Martin Roddewig, Justin Stauber.




Vorwort

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Dies ist kein übliches Protokoll des Treffens, sondern ein Kommentar meinerseits, der die Diskussion reflektiert, ohne neutral zu bleiben. Der Grund ist schlicht und etwas lächerlich: die Diskette mit dem tatsächlichen Protokoll ist mir in der Uni abhanden gekommen, bevor ich einen ersten Ausdruck gemacht hatte. Da die Diskussion aufgrund der großen, politisch sehr heterogenen Gruppe hitziger und langwieriger war als sonst, gab es diesmal nicht so viele greifbare Erkenntnisse. Für die praktischen Konsequenzen aus unseren Überlegungen über Klassen, Rassismus, Nation, Nationalismus und Multikulturalität fehlte am Ende die Zeit, es hätte eines weiteren Wochenendes bedurft. Bereits im August 93 hatten wir einen Abend lang uns diesem Themenkomplex angenähert, auf vielfache Anregung all unserer Freunde angesichts der Ereignisse von Mölln und Solingen, aber letztlich mehr neue Fragen als Antworten gefunden. Inspiriert wurde dieses Treffen durch das hervorragende Buch von Etienne Balibar und Immanuel Wallerstein, "Rasse, Klasse, Nation - Ambivalente Identitäten" (Argument-Verlag, Hamburg - Berlin 1992). Im letzten Abschnitt werde ich anhand einiger Zitate kurz vorstellen, wie diese Begriffe von den Autoren gefaßt werden, da sie (einige von) uns nicht unerheblich beeinflußt haben. Dennoch haben wir die Begriffe und Phänomene nicht in bewußter Anlehnung daran untersucht.

2 Klasse

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Ganz allgemein kann man Klassen als die Stufen der gesellschaftlichen Machthierarchie bezeichnen. Die Übergänge zwischen ihnen sind semipermeabel: runter geht es wesentlich leichter als rauf. Allerdings lassen sich die Grenzen nicht ohne weiteres scharf definieren. Insofern ist der zweifache Klassenbegriff bei Marx wichtig: die Klasse "an sich", als Objekt der historischen Betrachtung und der Analyse sozialer Verhältnisse, und die Klasse "für sich" als Subjekt in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Die Existenz der letzteren impliziert also ein Klassenbewußtsein, also auch Kriterien, an denen die eigene Klassenzugehörigkeit festgemacht werden kann, und ist Voraussetzung für die revolutionäre Veränderung einer Gesellschaft.
Die Entwicklung in den meisten westlichen Industriestaaten hat dieses Klassenbewußtsein jedoch erodiert, und es ist sinnvoller, von Interessengruppen zu sprechen, die ihre Ziele innerhalb politischer Spielregeln durchsetzen wollen. Das setzt einen Common Sense hinsichtlich dieser Regeln voraus, der, ob freiwillig oder nicht, ob mit oder ohne Begeisterung, durchaus vorhanden ist (eine Veränderung der Gesellschaft durch Revolution steht heute nicht mehr ernsthaft zur Debatte). Gleichzeitig hat der Begriff Klasse im allgemeinen Sprachgebrauch seine politisch-ökonomische Bedeutung verloren und dient lediglich zur soziologischen Gliederung: man spricht von Bildungsbürgertum, von "Mantafahrern", von "Prolls" und von den Oberen Zehntausend und bezieht sich dabei auf Bildung, Statussymbole und Geld. Mehr gibt der Begriff Klasse einfach nicht mehr her. Da in den modernen Sozialstaaten die Lebensbedingungen unvergleichlich besser und sicherer als im 19. und frühen 20. Jh. sind, wäre die wirtschaftliche Komponente in ihrer früheren Dominanz zu einseitig als Kriterium der Machtschichtungen. Macht ist heute auch an Information geknüpft, die über die Medien geliefert und gehandelt wird, ohne daß die Akteure im Medienspiel alle sagenhaft reich wären, geschweige denn Miteigentum an den Verlagen hätten. Bildung bedeutet in diesem Zusammenhang die Fähigkeit, Information so auszuwerten, daß man sich an die Spitze gesellschaftlicher und ökonomischer Trends setzen kann.
Daß die Klassenidee für die heutigen Verhältnisse hierzulande zu grob und undifferenziert ist, um auf ihr noch eine politische Bewegung aufzubauen, bedeutet aber nicht, daß wir das goldene Zeitalter fast erreicht haben. Gerade jetzt in den Neunzigern ist eine breite politische Bewegung wieder vonnöten, um die Verkrustungen der altbundesrepublikanischen Strukturen aufzubrechen. Die Grünen oder die Friedensbewegung sind für mich Prototypen dieser neuen Träger politischer Veränderung, sozial heterogene Gruppen mit einem bestimmten Problembewußtsein, die sich mit dem herkömmlichen Klassenbegriff nicht mehr fassen lassen.

3 Rasse und Rassismus

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Die Vorstellung, daß es biologisch definierte Rassen gibt, ist in den Stand eines Volksaberglaubens abgesunken und wird von halbwegs gebildeten Menschen nicht mehr geteilt. Die phänotypischen Merkmale wie Hautfarbe, Augen- und Nasenform sind als Kategorisierung höchstens folkloristisch zu gebrauchen. Da dies auch von den Neorassisten nicht bestritten wird und diese ihre Kategorisierung an kulturellen Eigenheiten festmachen, erhebt sich die Frage, warum man überhaupt noch an dem Begriff Rassismus festhält. Im Prinzip muß dann die Diskriminierung von Polen, Weißrussen, Ukrainern und anderen Osteuropäern auch rassistisch genannt werden, was zumindest dem gängigen Sprachgebrauch zuwiderläuft (der ja nicht korrekt sein muß). Angesichts des inflationären Gebrauch des Vorwurfs:"Rassismus!" stellt sich für mich die Frage: Verwende ich Rassismus synonym für die Diskriminierung, die die Angehörigen der Dritte-Welt-Staaten von seiten der Industriestaaten erfahren, als Erbe des Kolonialismus, oder allgemeiner für die Diskriminierung, die Angehörige einer wirtschaftlich schwächeren Kultur durch diejenigen der stärkeren in deren Staat erleiden, oder geht es nur um die Diskriminierung Kulturfremder innerhalb einer Kultur/ eines Kulturkreises an sich?
Letzteres wäre wohl von der althergebrachten Xenophobie kaum zu unterscheiden. Ich plädiere deshalb und, weil die Entstehung des Rassismus vom Kolonialismus nicht zu trennen ist, für die erste Variante. Dies wirft allerdings gleich einige weitere Fragen auf: Gibt es einen umgekehrten Rassismus der Dritten Welt gegen die Erste? Impliziert nicht diese Betrachtung die Gleichsetzung der Diskriminierten mit einem fremden Kulturkreis, ja mit dem Phänotyp (z.B. schwarz), die man ja ablehnt? Läßt sich der Prototyp des Rassismus schlechthin, die Diskriminierung der Schwarzen in den USA, überhaupt in dieses Verhältnis "Erste gegen Dritte Welt" einordnen, da sich doch genügend schwarze US-Amerikaner als Amerikaner fühlen? Ich glaube schon, da dieser Konflikt das Ergebnis des Kolonialismus ist. Würde es sich um zwei alteingesessene Volksgruppen handeln, wie z.B. im ruandischen Bürgerkrieg, spräche niemand von Rassismus, sondern von Minderheitenunterdrückung.
Rassismus ist eben der Ausdruck einer kruden Rassentheorie, die eine Hierarchie der großen Kulturkreise (also in Zeiten des direkten Kolonialismus der Rassen, welche nicht nur kulturell, sondern auch biologisch definiert wurden) aufstellt und den abendländischen (heute besser: den westlichen) an die Spitze setzt. Ihn zu konstatieren, bedeutet jedoch mitnichten eine Akzeptanz der ihm zugrunde liegenden Definitionen, sondern die Offenlegung bestimmter Denkmuster.
Wir sollten also Rassismus in eine Reihe mit Antisemitismus, Xenophobie und der Unterdrückung von kulturellen/ ethnischen Minderheiten stellen und nicht als Oberbegriff all dieser Phänomene definieren, da sie verschiedene historische und wirtschaftliche Ursachen haben, die sich nicht auf ein Muster reduzieren lassen. Die Subsumption dieser Phänomene unter Rassismus impliziert für mich gewisse Wertigkeiten, die inakzeptabel sind. Die Opfer von z.B. Xenophobie leiden nicht weniger als die von Rassismus, Antisemitismus ist nicht "nur" eine Variante des überall anzutreffenden Rassismus. Gegenteilige Behauptungen riechen stark nach Apologien und Instrumentalisierung in ideologischen Debatten. Rassismus (genauso wie Faschismus) ist längst zum undifferenzierten, intellektuellen Totschläger verkommen, der nichts mehr erklärt und von der Analyse konkreter Probleme ablenkt.

4 Nation, Nationalismus und Nationalbewußtsein

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Die Entstehung der Nation ausschließlich aus der Industriellen Revolution und der Entstehung des Kapitalismus erklären zu wollen, scheint mir wiederum zu einseitig. Der philosophische Nährboden der Aufklärung, die die politischen Emanzipationsbestrebungen des Bürgertums formulierte, aber nicht mit dem Ziel, den Kapitalismus zu errichten, sondern generell erst einmal wirtschaftliche Handlungsfreiheit zu erlangen, kam besonders in der Geburtsstunde der ersten modernen Nation, Frankreich, zum Tragen. Die Republik als Ergebnis der französischen Revolution kam zu ihrem Selbstverständis als Nation doch vor allem durch die Bedrohung der europäischen Monarchien.
Hier wird schon ein wesentlicher Punkt deutlich, nämlich das Vorhandensein eines identitätsstiftenden Gründungsmythos, der auf einer schicksalhaften historischen Situation beruht: einer Revolution, eines Befreiungskampfes gegen fremde Besatzer, einer Reichseinigung durch eine Führerfigur. Die Nation ist die Fiktion einer großen, mythischen Familie, die über den Identitätsrahmen des Volkes hinausgeht. Gleichzeitig ist der Wunsch nach Abgrenzung gegen den Rest der Welt stärker ausgeprägt als beim bloßen Volk in Form von strengen
Zugehörigkeitskriterien. Die Glaubwürdigkeit und Stärke des Wunsches, einer Nation beizutreten, muß jetzt unter Beweis gestellt werden, es sei denn man wird in die Nation hineingeboren, was aber nicht allen Fällen genügt (z.B. in Deutschland). Zu dem ursprünglichen Merkmal Sprache und Kultur treten jetzt Zustimmung zu einer bestimmten Staatsform und/oder Abstammung hinzu. Das subjektive Empfinden für die Nation kann verschiedene Intensitäten annehmen, von Nationalbewußtsein oder Patriotismus über Nationalgefühl bis hin zum Nationalismus, der übersteigerten Form, deren Abgrenzung gegen das andere, das Fremde sehr aggressive Züge annimmt. Hierbei gibt es eine heftige Kontroverse, ab welcher dieser Stufen die negativen Seiten überwiegen. Sind Frankreich oder die USA Vorbilder eines positiven Patriotismus, den die Deutschen jetzt nach der Wiedervereinigung erlernen müssen? Ist eine Absage auch an Patriotismus, wie sie in der alten Bundesrepublik recht verbreitet war, ein weiterer deutscher "Sonderweg"? Falls ja, liegt eine Gefahr darin? Hat Wolfgang Schäuble etwa recht?
Ich halte das alles für Quatsch. Zum einen können sich auch in den anderen westlichen demokratischen Nationalstaaten nicht alle für einen "harmlosen" Patriotismus begeistern (siehe Balibar und Wallerstein), da die eigene Überhöhung bzw. die Abwertung des anderen immer latent vorhanden ist und in politischen Krisensituationen wieder hervorbrechen kann. Zum andern bin ich davon überzeugt, daß die Nationen nicht das Ende der geschichtlichen Entwicklung, sondern in der gegenwärtigen globalen Situation ein Auslaufmodell sind. In den letzten Jahrzehnten tritt immer deutlicher zutage, daß die Grenzen der Nationalstaaten weder mit denjenigen größerer ökologischer Systeme noch mit denjenigen kultureller Gruppen übereinstimmen. Selbst von einem kapitalistischen Standpunkt aus (immerhin hat der Kapitalismus lange Zeit die Ausbildung der Nationalstaaten maßgeblich gefördert) werden sie zunehmend anachronistisch. Welche wirtschaftliche Entwicklung auch kommen mag, ob forciert kapitalistisch oder alternativ-ökologisch, die Idee der Nationalstaaten wird austrocknen, da sie nicht mehr gebraucht, ja sogar hinderlich wird. Es ist übrigens bemerkenswert, daß in anderen Kulturkreisen bis zur Mitte dieses Jahrhunderts keine Nationalstaaten in unserem Sinne existierten (dies als historische Rückständigkeit gegenüber Europa zu bewerten, ist indiskutabel). In der islamischen Welt stand, vergleichbar dem christlichen Mittelalter, die religiöse Autorität des Islam (verkörpert durch die Imame) über jeder weltlichen Macht eines Fürsten. Erst in der jüngsten Zeit haben sich sämtliche Staaten auf der Erde als Nationalstaaten deklariert, was mitunter völlig unüberzeugend ist, da die Grundlagen mancher Nationen, z.B. in Afrika an den Haaren herbeigezogen sind und mit der Identität der Leute nichts, aber auch gar nichts zu tun haben. Selbst im Europa der 90er erfahren wir die Sinnlosigkeit der Bildung neuer Nationen, die den kulturellen und wirtschaftlichen Realitäten nicht gerecht werden. Im übrigen sollte man hier auch überlegen, ob jede Unabhängigkeitsbewegung unterdrückter Völker in den letzten 200 Jahren als national, als Auftakt zur Bildung eines eigenen Nationalstaates gesehen werden kann. Unabhängigkeitsbewegungen und Aufstände gibt es seit Jahrtausenden, aber denjenigen vor dem 18. Jh. wird kaum jemand das Etikett "national" anheften wollen. Man muß sich endlich von dieser Logik befreien, daß alle Völker am "Ende" zwangsläufig Nationen werden. Aus diesen Gründen halte ich von Nationen und Nationalstaaten nichts mehr und hoffe, daß ein Zeitalter ohne Nationen heranbricht.

5 Die Suche nach Identität

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Was könnte nach den Nationen kommen? Daß es irgendeinen Identität stiftenden Rahmen geben muß, halte ich für unvermeidbar, da die Menschen als Einzelwesen nur ganz selten die Kraft aufbringen, die Identität ihres Selbst als einen sicheren Standpunkt im Zusammenleben aufzufassen. Ein derartiges Selbstbewußtsein ist das Ziel vieler Religionen und Philosophien, sei es Gottvertrauen, Erleuchtung oder Ataraxie und Autarkie (bei den Stoikern). Leider scheint es nur selten zu gelingen.
Birgt eine wie auch immer geartete Gruppenidentität jedoch zwangsläufig eine gegen Außenstehende aggressive Komponente, die Konflikte heraufbeschwört? Möglicherweise kann die Verhaltensforschung darauf eine Antwort geben, etwa derart, daß "Identität" bei Säugern, speziell bei Primaten, gleichbedeutend mit der Festlegung eines eigenen Territoriums ist, dessen Betreten durch "Fremde" automatisch Abwehrreaktionen hervorruft. Zumindest müssen wir uns damit abfinden, daß jede Art von Gruppen-Identität eine gewisse Abgrenzung nach "außen" beinhaltet.
Immerhin bieten sich zwei Aspekte an, die eine unangestrengte, ja vielleicht natürliche Identität stiften können: die Sprache und die Landschaft, in der man lebt. Wer sich für längere Zeit im Ausland mit einer fremden Sprache aufgehalten hat, wird die Bedeutung der Sprache, in der man denkt, fühlt und sich mitteilt, verstehen. Man kann sich nicht in einen Sprach-losen Raum begeben, und die Möglichkeit, mit bestimmten Menschen nuanciert zu kommunizieren, verbindet mit diesen mehr als mit Leuten, die man etwa gleich gut leiden kann, deren Sprache man aber nicht beherrscht. Sprache ihrerseits ist nicht neutral, sondern transportiert in ihrer Struktur Weltbilder und in ihrer Literatur Eigenarten und Lebensweisen einer Kultur, von denen sich zu lösen einer langen und tiefgreifenden Reflexion bedarf. Eine dritte Grundlage für Identität kann eine gemeinsame ethische oder politische Wertordnung, zumindest ein Minimalkonsens hinsichtlich der Formen des Zusammenlebens, sein. Die Identität einer Gruppe muß nicht auf allen drei Elementen gleichzeitig basieren: es gibt Sprachgemeinschaften, die über verschiedene Landschaften verstreut sind, Gemeinschaften, die sich ihrer heimatlichen Landschaft verbunden fühlen, aber mehrere Sprachgruppen umfassen, usw. Alle sind aber offene Gruppen, die von ihrer Natur her nichts verlieren, wenn neue Mitglieder beitreten. Ich sehe überhaupt keinen vernünftigen und zwingenden Grund, warum solche Identitätsgruppen geschlossen sein sollen und warum eine Einheit von Sprache, Landschaft und Wertordnung unter einem nationalen Mythos in einem einzigen Staat angestrebt werden muß. Die Alternative zum Nationalstaat ist der multikulturelle Bundesstaat von der Größe eines kontinentalen oder subkontinentalen Ökosystems. Zwei Prototypen (in dieser, aber auch nur in dieser Hinsicht) sind die USA und Indonesien, wo etwa 360 verschiedene Sprachgruppen/ Kulturen, die diversen Religionen angehören, in einem Staat leben. Allerdings hat diese Alternative nur Chancen, wenn zwischen den Identitätsgruppen (Kulturen) politische Gleichberechtigung herrscht, das Establishment also nicht von einer Gruppe dominiert wird, die den Bundesstaat als ihren Nationalstaat mit sehr vielen Minderheiten betrachtet.

6 Die multikulturelle Gesellschaft

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Das Beispiel USA für eine moderne multikulturelle Gesellschaft ist ambivalent, beinhaltet es doch auch die vielgeschmähte amerikanische Fast-Food-Kultur, die als kleinster gemeinsamer Nenner zwischen den verschiedenen kulturellen Gruppen zu fungieren, ja diese sogar auf einem Level der Unkultur (aus traditioneller europäischer Sicht) zu assimilieren scheint. Besteht also in der multikulturellen Gesellschaft langfristig gar keine Möglichkeit, kulturelle Eigenarten zu bewahren, werden die Identitätsgruppen (Kulturen) am Ende in einer relativ einheitlichen "Mischgesellschaft" - vielleicht einer neuen Nation? - aufgehen, oder eher gesagt untergehen? Gilt dasselbe in globalem Maßstab nicht auch für die großen Kulturkreise in einem sich entwickelnden freien Weltmarkt, der eine multikulturelle Weltgesellschaft vorwegnimmt?
So lauten die Haupteinwände der Gegner der multikulturellen Gesellschaft, hier treffen sich, oberflächlich betrachtet, Nationalisten und Dritte-Welt-Emanzipierer. Ich denke, daß man die multikulturelle Gesellschaft im kleineren und die fiktive im Weltmaßstab unterscheiden sollte. Was erstere anbelangt, sehe ich das Problem nicht. Auf der einen Seite läßt sich die Dynamik der Veränderung einer Kultur nicht aufhalten, man kann den Zustand einer Kultur nicht konservieren. Genau dies aber gaukeln uns die Nationalstaaten vor, die ihre jeweilige Kultur zu einer kanonischen Hochkultur umgedeutet haben, die den Abschluß der historischen Entwicklung darstellt. Die Geschichte zeigt uns jedoch, daß selbst Hochkulturen, die Jahrhunderte, ja sogar 1000 Jahre bestanden, zuletzt in etwas Neuem aufgingen. Ihr Vermächtnis beschränkte sich auf Literatur, auf Philosophie, vielleicht nur auf einige Mythen, aber eine wirkliche Kontinuität bis zu einigen Nachfolgern, die heute ihren Namen beanspruchen, läßt sich kaum finden. Im Falle der europäischen Nationalstaaten der letzten 200 Jahre wurde diese Kontinuität meistens konstruiert, wenn nicht gar erfunden. Was haben die Deutschen des Jahres 1994 mit den Bewohnern des Hl. Römischen Reiches Deutscher Nation - ich will sie gar nicht Deutsche nennen - des Jahres 1100 zu tun? Mit den Griechen des Jahres 450 v. Chr. verbindet sie immerhin die Grundidee der Demokratie. Wenn ich es genau betrachte, ist die lineare Geschichtsschreibung all unserer Nationalkulturen fast eine Fälschung Orwellschen Ausmaßes. Auf der anderen Seite zeigt uns die Geschichte ebenso, daß auf Perioden der Vereinheitlichung, der Angleichung Perioden der Differenzierung, der Zersplitterung folgen. Daher bin ich fest davon überzeugt, daß in einer multikulturellen Gesellschaft quer zu den Ausgangskulturen neue Schichtungen entstehen, die aber erst nach 200, 300 Jahren sichtbar sein werden. Man nehme als Beispiel das Römische Reich: Die Bevölkerung Galliens etwa bestand aus römischen Siedlern, Galliern, sonstigen aus dem Reich Zugewanderten, also vielleicht drei bis vier größeren kulturellen Gruppen. Daraus entstanden später Provencalen, Burgunder, Aquitanier, die Einwohner der Ile de France und andere Gruppen, in denen jeweils alle ursprünglichen "Ingredienzen" enthalten waren sowie einige neue Elemente.
Aber selbst wenn auf die gegenwärtige Periode der Vereinheitlichung keine Differenzierung in neue Kulturen folgen sollte: Folgt am Ende eine Atomisierung in Kleinstgruppen und Individuen, in der jeder Träger seiner persönlichen Kultur ist, die sich aus vielen Elementen zusammensetzt, etwa so, wie die Stadtgesellschaft von New York City? Die Erhaltung einer möglichst großen Zahl von Kulturen kann doch nicht ein Wert an sich sein, weshalb man den jetzigen Status Quo für alle Zeiten institutionalisieren möchte. Im übrigen zeigt New York City auch die Grenzen einer Atomisierung: es existieren nach wie vor diverse Communities der Einwanderergruppen neben dem "atomisierten New Yorker", bei dem man außer seinem Namen nichts mehr eindeutig zuordnen kann.
Die ganze Aufregung um das "multikulturelle Gemauschel" (um R. aus B. zu zitieren) fußt auf der seltsamen Ansicht, wir hätten den sicheren Hafen der Geschichte endlich erreicht, den man nie wieder verlassen müsse. Im globalen Maßstab habe ich jedoch einen Einwand zu erheben: Nach vierhundert Jahren Kolonialismus und 35 Jahren Nord-Süd-Konflikt sollte man den Staaten der Dritten Welt die Chance einräumen, selbständig und gleichberechtigt in einen dynamischen Entwicklungsprozeß einzutreten. Daß das gegenwärtig nicht mehr als ein frommer Wunsch ist, dessen bin ich mir bewußt (siehe auch unser 3.Welt- Treffen). Es geht nicht darum, diese Kulturen vor der Verwestlichung zu bewahren, sondern daß sie die Möglichkeit haben, sich gegen diese zu entscheiden (was das gegenwärtige Weltwirtschaftssystem nicht zuläßt). Ansonsten gilt auch hier dasselbe wie oben. Am Beispiel Japans sieht man nach Meinung vieler Japankenner, wie eine Synthese aus eigener Tradition und westlichen Elementen stattfinden kann, die eine ganz neue, eigenständige Qualität hat.

7 Konsequenzen

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- Die Integration der europäischen Nationalstaaten in einen regionalistischen europäischen Bundesstaat wo immer möglich zu vertreten und voranzutreiben. - Die Notwendigkeit eines neuen Geschichtsverständnisses, das über die Schulen einen tiefgreifenden Bewußtseinswandel in den kommenden Generationen hinsichtlich der Würde und Gleichwertigkeit anderer Kulturen bewirkt. Reisen oder Zusammenleben in Großstädten reichen offenbar noch nicht, um die Leute ein für alle Mal von einem falschen westlichen (bzw. auch deutschen) Überlegenheitsgefühl zu kurieren. Dies wird jedoch tagtäglich durch die Bilder des "Chaos" in den Dritte-Welt-Staaten genährt. Außerdem sehen wir am verordneten Anti-Faschismus der alten DDR, daß man die richtigen Ansichten nicht erzwingen kann. Ein erster Schritt wäre jedoch schon getan, würde man im Geschichtsunterricht die außereuropäischen Kulturen nicht nur als Randerscheinungen auf dem Weg zur westlichen Zivilisation behandeln, als Nebenschauplätze der Weltgeschichte.
- Schwachsinnige, bornierte Ignoranz - wie beispielsweise das Gerede von der Auschwitzlüge - kann jedoch nie ausgeschlossen werden und sollte uns nicht sofort bis ins Mark erschüttern. Da eine Orwellsche Gehirnwäsche selbst um ehrenwerter Absichten willen - wie etwa die Aufklärung über den Holocaust - völlig indiskutabel ist, müssen wir uns mit idiotischen, wider alle Fakten unhaltbaren Ansichten bis zu einem gewissen Grade abfinden. Dies betrifft vor allem die gegenwärtige Unsicherheit der deutschen Demokraten abzuschätzen, wie gefährlich Rechtsextremismus, Neonazismus und Rassismus in Deutschland wirklich sind. Der Grat zwischen Hysterie und Indifferenz scheint extrem schmal zu sein und noch dazu für jeden woanders zu verlaufen. Solange hier keine breite gemeinsame Basis der Demokraten gefunden wird und jeder die Bemühungen der jeweils anderen im politischen Tagesgeschäft gegen diese kehrt, kann dieser Sumpf aus Akteuren, Claqueuren und Souffleuren nicht trockengelegt werden. - Für mich persönlich: außer Selbstverständlichkeiten - d.h. "richtig" zu wählen, die Augen auf zu halten und keine Provokationen hinzunehmen, mitzuhelfen, wenn es "brennt" (was ich bisher noch nicht erlebt habe) - immer noch viel Ratlosigkeit.




8 Anhang: Die Begriffe bei Balibar/Wallerstein

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Alle Zitate aus: Etienne Balibar, Immanuel Wallerstein - Rasse Klasse Nation. Ambivalente Identitäten. Argument 1990

Neo-Rassismus:
"Ideologisch gehört der gegenwärtige Rassismus, der sich bei uns um den Komplex der Immigration herum ausgebildet hat, in den Zusammenhang eines 'Rassismus ohne Rassen', wie er sich außerhalb Frankreichs, vor allem in den angelsächsischen Ländern, schon recht weit entwickelt hat: eines Rassismus, dessen vorherrschendes Thema nicht mehr die biologische Vererbung, sondern die Unaufhebbarkeit der kulturellen Differenzen ist; eines Rassismus, der - jedenfalls auf ersten Blick - nicht mehr die Überlegenheit bestimmter Gruppen und Völker über andere postuliert, sondern sich darauf 'beschränkt', die Schädlichkeit jeder Grenzverwischung und die Unvereinbarkeit der Lebensweisen und Traditionen zu behaupten. Diese Art von Rassismus ist zu Recht als ein differentialistischer Rassismus bezeichnet worden..." (Kap. 1, Balibar, S. 28)
"...wenn die irreduzible kulturelle Differenz die wahrhafte 'natürliche Umwelt' des Menschen bildet, gleichsam die Atmosphäre, ohne die sein historischer Atem nicht möglich wäre, dann muß jede Verwischung dieser Differenz notwendige Abwehrreaktionen auslösen, zu 'interethnischen' Konflikten und generell zu einem Anstieg der Aggressivität führen. Dabei handelt es sich, wie man uns erklärt, um 'natürliche' Reaktionen, die aber zugleich gefährlich sind. In einer staunenswürdigen Kehrtwendung [zum früheren Rassismus] bieten sich uns derart die differentialistischen Lehren für die Aufgabe an, den Rassismus zu erklären (und ihm präventiv zu begegnen)." (Kap. 1, Balibar, S. 30) Die verschiedenen Kulturen sind nicht gleichwertig, sondern hierarchisch gegliedert: "...als die implizit überlegenen Kulturen gelten diejenigen, die die 'individuelle' Initiative, den sozialen und politischen Individualismus, besonders hoch bewerten und fördern, im Gegensatz zu denjenigen, die ihn hemmen und einengen." (Kap. 1, Balibar, S. 34)

Die Funktion des Rassismus in der kapitalistischen Wirtschaft:
"In seiner Funktion hat der Rassismus die Form dessen angenommen, was man als 'Ethnisierung' der Arbeiterschaft nennen könnte...
Ein so geartetes System, d.h. ein der Form und Bösartigkeit nach konstanter, bezüglich der Grenzziehungen [der Rassen] aber einigermaßen flexibler Rassismus, ist in dreierlei Hinsicht äußerst leistungsfähig. Zum einen erlaubt es, zu jeder Zeit und an jedem Ort entsprechend den aktuellen Bedürfnissen die Anzahl der Menschen, welche die niedrigsten Löhne erhalten und die anspruchslosesten Arbeiten verrichten, zu vergrößern oder zu verringern. Zum zweiten führt es zur Entstehung und kontinuierlichen Reproduktion von Gemeinschaften, deren Sozialisationsformen Kinder auf die Übernahme entsprechender Rollen vorbereiten (wobei diese Sozialisation allerdings auch widerständige Haltungen hervorruft). Zum dritten schafft das System eine nicht auf Verdienst und Leistung beruhende Grundlage, um Strukturen der Ungleichheit zu rechtfertigen. Gerade weil der Rassismus eine anti-universalistische Lehre vertritt, erweist er sich bei der Aufrechterhaltung des [in seinen Grundlagen universalistischen] kapitalistischen Systems als hilfreich." (Kap. 2, Wallerstein, S. 45/46)

Volk, Rasse, Nation, ethnische Gruppe:
"...die drei meistverwendeten Begriffe sind vielmehr 'Rasse', 'Nation' und 'ethnische Gruppe'. Dabei handelt es sich offensichtlich um verschiedene Gestalten von 'Völkernd' in der modernen Welt...
'Rasse' gilt im allgemeinen als eine genetische Kategorie; eine Rasse hat, so nimmt man an, eine sichtbare physische Form. Über die Namen und Charakterzüge von Rassen hat es während der letzten 150 Jahre eine Vielzahl von gelehrten Diskussionen gegeben, die ebenso berühmt wie (in vielerlei Hinsicht) berüchtigt sind. - 'Nation' wird im allgemeinen für eine soziopolitische Kategorie gehalten; eine Nation hängt auf irgendeine Weise mit den tatsächlichen oder möglichen Grenzen eines Staates zusammen. - Der Ausdruck 'Ethnische Gruppe' gilt im allgemeinen als eine Kategorie des Kulturellen; eine ethnische Gruppe, so wird gesagt, ist durch eine Kontinuität von Verhaltensweisen gekennzeichnet, die von Generation zu Generation weitergegeben werden, und die theoretisch normalerweise nicht mit Staatsgrenzen zusammenhängen...
Mit Hilfe dieser Kategorien können wir erklären, warum die Dinge so und nicht anders sind und nicht verändert werden sollten, oder warum sie so und nicht anders sind und nicht verändert werden können... Die zeitliche Dimension des Vergangenen ist ein dem Begriff 'Volk' zentrales und innewohnendes Moment... [Diese Kategorien] sind Konstruktionen, um sich das Vergangene zu erfinden, es sind zeitgenössische politische Phänomene. Wenn dem jedoch so ist, dann stehen wir erneut vor einem analytischen Rätsel. Warum gibt es drei Kategorien, wo doch eine einzige ausgereicht hätte? Für die Aufspaltung einer logischen in drei gesellschaftliche Kategorien muß es irgendeinen Grund geben. Wir müssen nur die historische Struktur der Weltwirtschaft betrachten, um ihn zu finden.
Jede dieser drei Kategorien hängt mit einem der strukturellen Grundzüge der kapitalistischen Weltwirtschaft zusammen. Der Begriff der 'Rasse' ist auf die horizontale Aufteilung in der Weltwirtschaft, auf die Antinomie von Zentrum und Peripherie bezogen. Der Begriff der 'Nation' ist auf den politischen Überbau dieses historischen Systems bezogen, auf die souveränen Staaten, die internationale Staatensystem bilden und sich von ihm herleiten. Der Begriff der 'ethnischen Gruppe' ist auf die Entstehung von Haushaltsstrukturen bezogen, die innerhalb der Kapitalakkumulation dafür sorgen, daß beträchtliche Kontigente an nicht entlohnter Arbeit aufrechterhalten werden. Keine dieser Kategorien bezieht sich direkt auf soziale Klassen, was seinen Grund darin hat, daß 'Klasse' und 'Volk' auf zwei senkrecht zueinander stehenden Ebenen verortet sind." (Kap. 4, Wallerstein, S. 95 - 98)

Entstehung und Kennzeichen der Nation-Form:
"Die nationalen Einheiten... konstituieren sich gegeneinander als konkurrierende Instrumente der Herrschaft des Zentrums über die Peripherie,... [obwohl] in der Geschichte des Kapitalismus auch andere 'staatliche' Formen als die nationale entstanden sind und sich in Konkurrenz zu ihr eine Zeit lang behauptet haben, bevor sie dann schließlich zurückgedrängt oder instrumentalisiert wurden: die Form des Reiches und vor die des transnationalen politisch-kommerziellen Netzes, das um eine oder mehrere Städte zentriert war...
Wenn die 'nationalen Bourgeoisien' schließlich die Oberhand gewonnen haben, ...dann wohl deswegen, weil sie nach außen und nach innen die bewaffnete Macht der bestehenden Staaten einsetzen mußten, weil sie die Bauern der neuen Wirtschaftsordnung unterwerfen und das flache Land durchdringen mußten, um daraus Märkte für Manufakturprodukte und Reservoirs 'freier' Arbeitskräfte zu machen...
Der Vorrang der Nation-Form rührt daher, daß sie zumindest auf lokaler Ebene die
Eindämmung der heterogenen Klassenkämpfe erlaubte und daraus nicht nur eine 'Kapitalistenklasse' hervorgehen ließ, sondern Bourgeoisien im eigentlichen Sinne, d.h. Staatsbourgeoisien, die fähig waren, die politische, ökonomische und kulturelle Hegemonie auszuüben, und die ihrerseits durch diese Hegemonie geschaffen wurden." (Kap. 5, Balibar, S. 110 - 112)
"Keine moderne Nation hat eine gegebene 'ethnische' Basis, selbst wenn sie aus einem nationalen Unabhängigkeitskampf hervorgegangen ist. Und andererseits gibt es keine moderne Nation, wie 'egalitär' sie auch sein mag, in der es keine Klassenkonflikte gibt. Das grundlegende Problem besteht folglich darin, das Volk zu schaffen. Besser gesagt: das Volk muß sich permanent als nationale Gemeinschaft schaffen..." (Kap. 5, Balibar, S. 115)
"Als fiktive Ethnizität bezeichne ich die durch den Nationalstaat geschaffene Gemeinschaft... Die fiktive Ethnizität fällt nicht einfach mit der ideellen Nation zusammen, die der Gegenstand des Patriotismus war, aber sie ist für diesen unverzichtbar, denn ohne sie würde die Nation eben doch nur als ein Idee oder eine willkürliche Abstraktion erscheinen: der Appell des Patriotismus würde sich an niemanden wenden...
Wie wird die Ethnizität geschaffen? Und wie wird sie so geschaffen, daß sie eben nicht als eine Fiktion, sondern als ein höchst natürlicher Ursprung erscheint? Die Geschichte zeigt uns, daß es zwei große konkurrierende Wege zu diesem Ziel gibt: die Sprache und die Rasse... " (Kap. 5, Balibar, S. 118/119)
"Ideell assimiliert [die Sprache] 'jeden', hält sie niemanden zurück. Sie hat zwar tiefstgehende Auswirkungen auf jedes Individuum (auf seine Art, sich als Subjekt zu konstituieren), aber ihre historische Besonderheit ist nur an austauschbare Institutionen gebunden. Je nach den äußeren Umständen kann sie verschiedenen Nationen dienen (wie das Englische, Spanische oder auch das Französische)... Um an den Grenzen eines bestimmten Volkes festgemacht zu werden, bedarf sie folglich einer zusätzlichen Besonderheit bzw. eines Prinzips der Abschließung, der Ausgrenzung.
Dieses Prinzip ist die rassische Gemeinschaft... Der symbolische Kern der Idee der Rasse (und ihrer demographischen, kulturellen Äquivalente) ist das Schema der Genealogie, d.h. ganz einfach die Idee, daß die Verkettung der Individuen dazu führt, daß jede Generation der anderen eine biologische und geistige Substanz übermittelt und sie gleichzeitig in eine zeitliche Gemeinschaft stellt, die man 'Verwandtschaft' nennt... Die Idee einer rassischen Gemeinschaft kommt auf, wenn sich die Grenzen der Zusammengehörigkeit auf der Ebene der Sippe, der Nachbarschaftsgemeinschaft und zumindest theoretisch, der sozialen Klasse auflösen, um imaginär an die Schwelle der Nationalität verlagert zu werden..." (Kap. 5, Balibar, S. 122/123)

9 Kommentare

Ritschis Kommentar

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I. Einleitung

Rasse, Klasse, Nation - schon vor dem Treffen, während der gedanklichen Vorbereitung, versuchte ich, zunächst meine Gefühle bezüglich dieser drei Begriffe zu ordnen. Klasse erinnerte mich an längst vergangene, vielleicht "monarchische" Ständesystem; Rasse erinnerte mich an Tiere und vor allem an Züchtung; Nation ließ mich Abgeschlossenheit, Eingeschlossensein und erzwungene Dazugehörigkeit empfinden. Auch nach der dreitägigen Analyse, der Diskussion über diese Begriffe, hat sich meine Einstellung nicht geändert.

II: Definition

Zu den Wörtern Rasse, Klasse, Nation, deren ausführliche Erklärung, Hintergrund etc. in Niels' Zusammenfassung erscheint, in aller Kürze.
1. Klasse Es ist möglich, die Menschen in verschiedene Klassen, die nach ihrem Wert oder ihren Werten bemessen werden, einzuteilen. Die Abgrenzung geschieht vorrangig nach unten; "mit denen haben wir nichts mehr zu tun". Umgekehrt, nach oben, sorgt das subjektive Wollen für Ungenauigkeiten. Es muß dabei beachtet werden, daß ein Mensch nicht ausschließlich einer Klasse angehören muß, sondern sehr wohl verschiedenen gleichzeitig angehören kann. Es kommt dabei nur auf die Fragestellung, die vorzunehmende Abgrenzung an, also darauf, was man einteilen bzw. unterscheiden möchte. So kann zum Beispiel ein Künstler zur "höchsten Klasse" seinesgleichen gerechnet werden, im wirtschaftlichen Vergleich aber der untersten (verarmten) Klasse angehören.

2. Rasse
Rasse, verschiedene Rassen, das bezieht sich zunächst auf das Biologisch. Es bedeutet, geographisch lokalisierbare Formengruppen, die sich durch erbbedingte charakteristische Merkmale mehr oder weniger deutlich voneinander unterscheiden lassen. Rassentheorien, Rassenideologien versuchen Zusammenhänge zwischen Körpertypen und Kulturentwicklungen aufzustellen. Dabei werden kulturelle Fähigkeiten und Entwicklungen der menschlichen Geschichte auf biologische Ursachen zurückgeführt.

3. Nation
Nation könnte mit Staat gleichgesetzt werden, vgl. UNO/VN. Ein Staat besteht juristisch aus einem Staatsvolk, einem Staatsgebiet und er Staatsgewalt. Dabei bezieht sich Nation hauptsächlich auf das Staatsvolk. Unter Nation kann man also eine ethnische, rassische, sprachliche, religiöse oder kulturelle Einheit verstehen. Eine andere Definition möchte Nation als die einmalige und unverwechselbare Menge der Ereignisse verstanden wissen, deren Träger sie ist. Das heißt, die Identität einer Nation liegt in ihrer Geschichte.

III. Diskussion

Klasse, Rasse, Nation ist Einteilung, Abgrenzung, Eingrenzung und Gefühlsduselei.

Alle drei Begriffe sind gefühlsbesetzte Begriffe. Fast jeder beliebige Sachverhalt läßt sich unter sie subsumieren und sie sind glänzend dafür geeignet, eine menschenverachtende Politik zu rechtfertigen. Es wird keinen Menschen geben, der zugibt, sein Handeln sei im Grunde menschenverachtend. Nein, lieber versucht man, sein Handeln zu rechtfertigen. Auf Gefühlsebene hat das den Vorteil, Massen "Gleichfühlender" hinter sich zu bringen. "...und was viele fühlen, kann nicht falsch sein." Ein Teufelskreis.
Klassen sorgen innerhalb eines Volkes dafür, seinen Platz zu bestimmen. Heute wird eher das Wort "Schicht" benutzt. Auch wenn keine klaren Abgrenzungskriterien mehr bestehen, wird diese Einteilung immer noch vorgenommen. In gewissen Kreisen werden gewissen Menschen (Klassen) diskriminiert, die nicht dazugehören. Hier wird der Wert des Menschen bestimmt (im Grunde völlig übereinstimmend mit der Auslegung des Art 3 I GG, "gleiches soll gleich, ungleiches nach seiner Eigenart behandelt werden." (Sehr polemisch!)).
Rasse, Rassentheorien, Rassenideologien (Rassismus) wollen Einteilungen, Abgrenzungen und Ausgrenzungen schaffen. Um Völker untereinander abzugrenzen, werden in der Regel Rassentheorien eingesetzt. Sie erfüllen den Zweck, machtpolitische Interessen durchzusetzen. Die Rasse ist ein hervorragendes Rechtfertigungsargument für imperiale (koloniale) Außenpolitik. Ebenso eignet sie sich für die Innenpolitik, zur Rechtfertigung von Diskriminierungen (vgl. Asylpolitik).
Es gibt aufgrund vielfältiger Überschneidungen keine klare Trennung der einzelnen Rassen. Für mich tritt bei der Rassen-Diskussion der ganze menschliche Widerspruch zutage. Einerseits wollen wir uns von anderen abgrenzen (Gründe s.o.), andererseits sind wir aber gerade stolz darauf, daß die wunderbare Natur nicht zwei sich völlig gleichende Wesen schafft.
Nation ist eine Zwangsvorstellung einer ethnischen, rassischen, sprachlichen, religiösen oder kulturellen Einheit, die es in Europa kaum gab und immer durch imperiale Unterdrückung und teilweise Vernichtung von Minderheiten oder anderen Nationen herbeigeführt wurde.
Ich kann den Begriff Nation nicht neutral sehen. Jeden Versuch, Nation, nationale Identität etc. salonfähig zu machen, sollte mit äußerster Vorsicht begegnet werden. Nation und alles, was in diesem Namen geschah und geschieht, ist so subjektiv und gefühlsüberladen, daß meiner Meinung nach von vorneherein eine "gute Absicht" nicht Anlaß sein kann, wieder von Nation und Nationalem zu sprechen.
Das Wort Nation, vor zehn Jahren in Deutschland gebraucht, hätte auschließlich die Menschen in der BRD angesprochen, heute spricht er die Menschen in der DDR und der BRD an. Das kann nicht an der Sprache liegen, müßte dann doch auch Österreich dazugehören. Das kann auch nicht an der ähnlichen Lebensweise liegen, dem gleichen Standard, den Menschen in der DDR fehlen 40 Jahre des freien Konsums, besser könnte man dann die gesamte westliche Welt zu unserer Nation zählen. Dächte man an die germanische Seele, auch dann wäre es nicht damit getan, ausschließlich BRD und DDR als eine Nation zu sehen.
Das Argument, ein Nationalitätsgefühl sei vorhanden, das sähe man doch im Sport, dazu kann ich nur milde lächeln, war doch die DDR vor ein paar Jahren noch erbitterter Gegner der BRD, da gab es nichts von irgendeinem Gemeinschaftsgefühl, und gäbe es eine europäische Fußballmannschaft, in einem Weltmeisterschaftsspiel fände sie in der gesamten europäischen Bevölkerung ihre Anhängerschaft.
Selbst die geschichtliche Tradition kann eine Nation nicht objektiv bilden - auch wenn einige Rechte über diesen Weg versuchen, den Begriff Nation wieder salonfähig zu machen - denn wie sollten die letzten 40 Jahre Kapitalismus im Westen und Kommunismus im Osten noch zusammenpassen? Oder wie sollen das Saarland, Elsaß, Lothringen mal die Geschichte Deutschlands, also deutsche Nation, mal die Geschichte Frankreichs, also französische Nation bilden?
Gerade die Wiedervereinigung muß jedem vernünftigen Menschen vor Augen geführt haben, daß Nation ein willkommener und willkürlicher Begriff ist, durch den man auf Gefühlsebene Ausgrenzungspolitik rechtfertigen kann.

Trotzdem: Rasse, Klasse, Nation! Ja, wie hätte man sonst rechtfertigen können vor Europa, vor der Welt, daß die BRD einfach so die DDR übernimmt? Wie könnte man das Eigentum, die Besitzstände schützen, wenn nicht durch Abgrenzungen zu all den Menschen, "die uns nichts angehen?" Nun habe ich die Abgrenzungen durch Klasse, Rasse, Nation abgelehnt, und es bleibt ein weißes Blatt, um die Frage zu beantworten, wie Menschen ein Sicherheitsgefühl vermittelt werden kann, wonach es sie offenbar dürstet. Man muß irgendwo dazugehören, mit allen Menschen kann man nicht Freund sein und alle Kulturen nicht verstehen. Aber dieses Bedürfnis kann durch die Familie, den Freundeskreis und vielleicht noch die Region, Stadt oder Dorf gestillt werden. Der Sachse, der Bayer und der Hamburger (tut mir leid, ich lehne es ab, sprachlich auf Männerinnen einzugehen) hatten sie, außer daß sie eine Machtpolitik unterstützen sollten, jemals etwas gemeinsam?
Ich glaube nicht.

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© 1997 Niels Boeing