Vorwort

Wissenschaftler haben herausgefunden, daß dieses Thema eine notwendige Bedingung für die weitere Arbeit der Creativen Gruppe ist, die sich bisher immer nur mit esoterischem Kram beschäftigt hat. Wenn das kein Grund ist...
Jeden Tag finden wir irgendwo in den Medien diese Formulierung, einer amtlichen Verlautbarung gleich, und für kein Problem scheint eine gewichtigere Begründung denkbar. Wer eine Entscheidung, die die Allgemeinheit betrifft, begründen will, muß wissenschaftliche Argumente bringen, auch wenn er nichts davon versteht. Das muß nicht so weit gehen, daß irgendwelche Idioten Schädel und Intelligenzquotienten vermessen, um damit Rassismus "wissenschaftlich" abzusichern. Die Wissenschaftsgläubigkeit sitzt tief und verborgen, auch bei manchen Technologiekritikern, Fortschrittsskeptikern oder Öko-Freaks, die ihre Argumentation zuerst auf neueste Meßwerte alternativer Institute stützen. Wohin führt das alles? Gibt es ein Entkommen aus den "antiseptischen Traumschlössern Kants und Hegels und den Hundehütten Carnaps und Poppers", wie Paul Feyerabend ihre Theorien zur (wissenschaftlichen) Rationalität als Voraussetzung für Erkenntnis nannte?

1 Wissen und Erkenntnis

Im Bewußtsein unserer philosophischen Naivität haben wir Arbeitsdefinitionen von Wissen und Erkenntnis formuliert.

Danach verstehen wir Wissen als durch sinnliche Wahrnehmung erlangte Information - Erfahrung - und durch Denken verschiedenster Art zu neuer Information, zu einer Erwartung verknüpfte Erfahrungen, die in einem Träger - dem Bewußtsein, dem Unterbewußtsein, dem Gedächtnis - gespeichert sind. Die Verknüpfung stellt den Akt der Erkenntnis oder des Lernens dar, je nachdem, ob sie aus dem Subjekt heraus oder von der Umwelt initiiert wurde (eine unscharfe Unterscheidung, die aber im weiteren Verlauf keine Rolle spielt). Erkenntnis ist intersubjektiv, wenn sie nach einer allgemein anerkannten oder zumindest verständlichen Methoden erlangt wurde. Sonst bleibt sie subjektiv. Eine strikte Trennung zwischen Wissen und Erfahrung läßt sich außer im frühen Säuglingsalter nicht aufrechterhalten, da Erfahrung immer durch vorhandenes Wissen beeinflußt wird.
Zugleich ist eine "Antidefinition" ins Spiel gebracht worden: Wissen ist sowohl Mittel zur Macht als auch Macht aufgrund der normativen Eingrenzung, was überhaupt Wissen sein kann.

2 Erkenntnisarten

Der Erkenntnisakt, die Verknüpfung vorhandener Informationen zu neuen, kann auf verschiedene Arten zustande kommen:
1. Wissenschaftliche Erkenntnis. Sie ist nachprüfbar, intersubjektiv, da sie einer bestimmten Methode unterliegt, und damit allgemein zugänglich. In den Naturwissenschaften gilt ausschließlich die logisch-analytische Methode, d.h. Formalisierung und Mathematisierung des Erkenntnisgegenstands und Anwendung der Logik auf denselben. In den Geisteswissenschaften spielt die Hermeneutik, in den Sozialwissenschaften auch die Dialektik eine große Rolle, letztere allerdings nicht unumstritten.
2. Meditative Erkenntnis. Im hinduistischen und im buddhistischen Kulturkreis sind Methoden der Meditation derart ausgearbeitet und akzeptiert, daß diese Erkenntnisart dort nachprüfbar und intersubjektiv ist.
3. Religiöse Offenbarung. Dies ist eine singuläre, völlig subjektive Art der Erkenntnis, die nicht überprüfbar ist. Die Verknüpfung folgt keiner Methode, sondern kommt durch eine "göttliche Hand" (so bei Mohammed in der Höhle, bei Moses auf dem Berg Sinai) zustande.
4. Intuition. Das Bewußtsein und das Unterbewußtsein stehen miteinander in Verbindung, so daß Informationen beider Ebenen ständig zufällig verknüpft werden. Liegt ein Erkenntnisdruck in Form einer Frage, eines Suchmusters vor, kann die zufällig entstandene Verknüpfung als bedeutsam ins Wissen "aufgenommen" werden. Andernfalls "verpufft" sie. Thomas Kuhn weist in "Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen" auf die Bedeutung eines Suchmusters hin, um neue Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten entdecken zu können, die zu einem neuen Paradigma führen. Diese von uns als Intuition bezeichneten Geistesblitze (z.B. unter der Dusche, auf dem Klo, im Rausch) fallen wohl für religiöse Menschen mit Offenbarung zusammen.

3 Die Dominanz wissenschaftlicher Erkenntnis unter den Erkenntnisarten

3.1 Das Szientismusproblem

Es ist unbestreitbar, daß Meditation, Intuition, geschweige denn Offenbarung im westlichen Kulturkreis nicht als ernstzunehmende Erkenntnisarten angesehen, sondern vielmehr belächelt werden. Erkenntnis ist gleichbedeutend mit wissenschaftlicher Erkenntnis. Wie dieses wissenschaftliche Erkenntnisunternehmen sein soll, ist von Karl Popper maßgeblich formuliert worden, zum ersten Mal in "Logik der Forschung" (1934). Imre Lakatos hat versucht, den eigentlich normativen Popperschen Ansatz mit der wissenschaftlichen Realität in Einklang zu bringen (s. Anhang). Dies beantwortet jedoch nicht die drängende Frage, wie sich wissenschaftliche Erkenntnis zur Ethik, zur Moral, zu Problemen des menschlichen Alltags und der Gesellschaft verhält. Diese Frage bildet letztlich den Kern des Szientismusstreits, der seit Ende des letzten Jahrhunderts auf verschiedenen Feldern ausgetragen wird.

Im weiteren Sinne fallen darunter (nach Hans Lenk: "Zwischen Wissenschaftstheorie und Sozialwissenschaft", S. 91 ff):

  • Der traditionelle Werturteilsstreit der Sozialwissenschaften seit Max Weber: Enthalten realwissenschaftliche Theorien Wertaussagen? Gibt es normative Sozialwissenschaften?
  • Der Positivismusstreit: Spielen nicht verifizierbare (mit Popper nicht-falsifizierbare) metaphysische Element in wissenschaftlichen Theorien eine Rolle?
  • Die soziologisch-politologische Technokratiedebatte: Kann man von den Wissenschaften eindeutig beste Lösungen für gesellschaftliche Probleme erwarten?
  • Das Ethikproblem der angewandten und der Grundlagenforschung.

Die eigentliche Szientismusthese im engeren Sinne existiert in verschiedenen Formulierungen:

  • Der methodologische Szientismus vertritt die Auffassung, daß die Methoden der exakten Wissenschaften (in der radikalen Variante nur der Naturwissenschaften) anwendbar auf und ausreichend für den Aufbau der Humanwissenschaften sind.
  • Der moralische Szientismus vertritt den "technologischen Imperativ": Was man versteht, sollte man umsetzen - can implies ought. Eine moralische Beschränkuung der Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnis ist demnach nicht gerechtfertigt.
  • Die These der Szientokratie: Menschliche Beziehungen und Gesellschaften können ausschließlich nach wissenschaftlichen Kriterien organisiert werden, auch Ethik kann wissenschaftlich begründet werden.

Unter den wissenschaftlichen Methoden läßt sich, wohl im Zuge des Szientismus, eine wachsende Dominanz der logisch-analytischen Methode der Naturwissenschaften konstatieren. Die Philosophen der Frankfurter Schule haben dies lautstark beklagt und stattdessen die Dialektik propagiert.1 Zu recht haben sie auf die Defizite einer alles erfassenden Formalisierung und die Unterwerfung unter die Logik sowie auf den Zusammenhang zwischen logisch-analytischer Methode und Machtstrukturen hingewiesen.

Als unvorhergesehene Wendung im Streit um die beste Methode wissenschaftlicher Erkenntnis, möglicherweise sogar hinsichtlich der verschiedenen Erkenntnisarten, könnte sich allerdings die Bedeutung der Quantenmechhanik (die nach wie vor unklar ist, oder besser unklar gelassen wird) erweisen. Sie legt nämlich einen Einfluß des messenden Subjekts auf das physikalische Geschehen, die Begrenztheit der Geltung der Kausalität und den Einbruch der Statistik in die Sphäre eherner, deterministischer Naturgesetze nahe. Diese Elemente scheinen das szientistische Anliegen zu untergraben, in den Sozialwissenschaften nach dem Beispiel der Naturwissenschaften Gesetze zu formulieren, die eine sichere Entscheidungsgrundlage gesellschaftliche Probleme liefern und alle normativen Momente überflüssig machen.

Wie kann man gegen die Dominanz der logisch-analytischen Methode argumentieren? Die Auseinandersetzung muß dabei auf zwei Ebenen ablaufen: zum einen eben die Defizite der Methode selbst angehen, zum anderen aber die Beschränktheit wissenschaftlicher Erkenntnis, sei sie nun logisch-analytisch, dialektisch oder sonst was, im Verhältnis zu anderen Erkenntnisarten (z.B. den oben genannten) aufzeigen.
Der logisch-analytische Methode läßt sich entgegenhalten, daß ihre Anwendung selbst eine normative Setzung ist, daß in der Formalisierung versteckte Wertungen einfließen, die auf einem vorgegebenen Wertesystem und Weltbild beruhen (Richtungsstreit der Logik-Schulen). Dies betrifft vor allem den Teil des Szientismusstreits, der sich mit der Möglichkeit einer normativen Wissenschaft befaßt. Außerdem ist die Reduzierung des Menschen auf ein Objekt, das durch formalisierte Parameter vollständig beschrieben und kontrolliert werden kann äußerst fragwürdig, wenngleich sie für die Methode absolut notwendig ist, da Subjekte in ihr keine Rolle spielen können. Ist aber der Mensch nicht ein Subjekt, das in seinem alltäglichen Leben ständig zwischen Alternativen abwägt, Entscheidung trifft und dadurch in seinen Lebenszusammenhang eingreift, ein Akteur, nicht ausschließlich Gegenstand quasi-naturgesetzlicher Abläufe?

3.2 Wissenschaftliche Erkenntnis und Macht

Die Vermutung liegt nahe, daß die wissenschaftliche Erkenntnis unter den Erkenntnis und die logisch-analytische Methode unter den Methoden wissenschaftlicher Erkenntnis nicht zufällig zu dieser Dominanz gelangt sind. Gerade die logisch-analytische Methode scheint dem kapitalistisch-industriellen Zeitalter immanent zu sein. Sie ermöglicht große Effizienz beim Erkenntniszuwachs und führt zu einer schnellen Ausdifferenzierung in Spezialdisziplinen, analog der Entwicklung des Wirtschaftssystems, vor allem der Produktion. Sie ist in der Lage, Herrschaftswissen für die Mächtigen des Industriezeitalters zu produzieren, technisch verwertbares Wissen. Den Zwang zur Quantifizierung finden wir auch im Kapitalismus in Gestalt des Preises, der allein alles wirtschaftliche Geschehen regeln soll, wieder. Gibt es Argumente aus der Geschichte, die für diese Vermutung sprechen? Im Mittelalter gab es keine strikte Trennung zwischen Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften, und wegen des im wesentlichen nichtempirischen Charakters der damaligen Wissenschaften hatte das Messen, also das Quantifizieren keine zentrale Bedeutung. Die Wissenschaft war Adel und Klerus vorbehalten und brachte Wissen hervor, das ihre Macht legitimieren konnte. Und diese beruhte nicht zuerst auf wirtschaftlichen Bedingungen, sondern auf solchen Konstrukten wie dem Gottesgnadentum. Technisch verwertbares Wissen stand in einem mehr oder weniger theokratischen Staat nicht im Vordergrund.
Der Aufstieg des Bürgertums in den freien Städten, den neuen Handelszentren, seit der Renaissance fällt nicht zufällig mit der Aufklärung und der Erfindung der modernen Naturwisschenschaften zusammen. Die Gründung von Universitäten in den Städten, in denen sich ein reiches, selbstbewußtes Bürgertum formierte, erweist sich so als Machtpolitik. Die kommende Elite fördert ein neues Weltbild. Etablieren sich neue Machtstrukturen und neue Paradigmen von Wissenschaftlichkeit, von relevanter Erkenntnis gleichzeitig und unabhängig voneinander, quasi als Trend, der in der Luft liegt, oder bedingt eines von beiden das jeweils andere? Die kopernikanische Revolution (16. Jh.) fand zumindest lange vor der ersten großen bürgerlichen Revolution (1789) statt.
Wie ist in diesem Zusammenhang der eben angedeutete Paradigmenwechsel im physikalischen Weltbild im 20. Jh., für den neben der Quantenmechanik auch die Relativitätstheorie und die noch junge Chaostheorie stehen, zu bewerten? Sind diese Theorien mit ihrer noch nicht voll erfaßten Bedeutung Indikatoren einer bevorstehenden Umwälzung von Machtstrukturen? Welche gesellschaftliche Gruppe entspräche dem?
Bisher läßt sich allerdings keine Lobby des neuen Paradigmas ausmachen. Vielmehr scheint der Paradigmenwechsel den kapitalistischen Status Quo nicht angetastet zu haben. Die Mächtigen konnten die neuen Theorien sogar machtsteigernd einsetzen, in Form von Kernwaffen und Kernkraft.

3.3 Konsequenzen

Die Geschlossenheit der logisch-analytischen Methode bietet ihrem Absolutsanspruch eine hervorragende Plattform. Die Anwendung der Logik auf die formalisierte Abbildung der Wirklichkeit läßt sich nicht angreifen, sie ist konsistent, nur die Formalisierung selbst ist angreifbar. Diese ist nur möglich bei Abstraktion von individuellen Inhalten des konkreten Problems. Interessanterweise zeigt die Chaostheorie, das die Individualität eines Problems in Gestalt ihrer Randbedingungen erhebliche Auswirkungen auf das Endergebnis haben kann, und daß der Schluß von geringen Ursachen auf geringe Effekt nicht immer gilt. Wer die Formalisierung jedoch vornimmt und beherrscht, kann Macht ausüben. Dies ist ein Punkt, an dem Kritik ansetzen kann, an dem überhaupt mögliche andere Erkenntnis unterdrückt werden kann.

Zwei Alternativen kommen uns in den Sinn: 1. Die Ablehnung der logisch-analytischen Methode und des mit ihr verbundenen Leistungsprinzips des kapitalistischen Systems und der Übergang zum Lustprinzip (Marcuse) als Grundlage des Handelns und Erkennens.
2. Eine ganzheitliche, qualititiv ausgerichtete Erkenntnisart, wie wir sie in den asiatischen Philosophien und Wissenschaften finden, wird etabliert. Versuche dazu sind im Wesentlichen seit den späten 50er Jahren feststellbar.

Wie wollen wir jedoch die hier ebenfalls lauernde Vereinfachung der Dinge und Einseitigkeit des Erkenntnisprozesses vermeiden? Die Betonung eines qualitativen Elements scheint aber unvermeidlich, da es Wissen individualisieren und einen Mißbrauch von Wissen als Herrschaftswissen, was bei quantifiziertem Wissen einfach ist, zumindest erschweren würde.

4 Versuch eines Gegenentwurfs: Der umfassend-qualitative Ansatz zur Erkenntnis

4.1 Grundidee des Ansatzes

Ein dem Menschen angemessenes Erkenntnissystem sollte in der Lage sein, das Lebenssystem des Menschen so zu erforschen und verstehen, daß alle Komponenten, die dieses Lebenssystem bestimmen, und ihr Zusammenspiel berücksichtigt werden.
Das gegenwärtige Erkenntnissystem ist jedoch geprägt von der Dominanz und Einseitigkeit der wissenschaftlichen Erkenntnis im allgemeinen und der logisch-analytisch;; Methode wissenschaftlicher Erkenntnis im besonderen sowie von der Zersplitterung in wissenschaftliche Teildisziplinen, die nicht mehr oder nur unter Schwierigkeiten miteinander kommunizieren können. Es ist offensichtlich nicht in der Lage, den oben formulierten Anspruch zu erfüllen. Antworten auf drängende Probleme der Zivilisation, auf Probleme des einzelnen Menschen in der Gesellschaft kann es nicht liefern. Antworten auf Sinnfragen sind schon von vorneherein ausgeblendet, da Sinn nicht Gegenstand von Erkenntnis = wissenschaftlicher Erkenntnis im heutigen Sinne sein kann, obwohl das moderne, naturwissenschaftlich verfaßte Weltbild den Anspruch erhebt, alle relevanten Fragen beantworten zu können - was wiederum bedeutet, daß alle Sinnfragen irrelevant sind. Der "umfassend-qualitative" Ansatz (eine schönere Bezeichnung ist uns bisher nicht eingefallen) betont nun, daß sämtliche Arten der Erkenntnis zum Verständnis des Lebenssystems des Menschen wichtig sind: wissenschaftliche Erkenntnis - durch Dialektik, Hermeneutik oder die logisch-analytische Methode -, Meditation, Intuition, aber auch Kunst und spirituelle Erfahrung. Das Zusammenspiel der verschiedenen Erkenntnisarten, das ja durchaus vorhanden ist, wenn auch immer unter den Tisch gekehrt, könnte systematisiert werden, z.B. durch neue "interdisziplinäre Kommunikationsknoten", die die wissenschaftlichen Disziplinen untereinander und mit dem wirklichen Leben, in dem die anderen Erkenntnisarten ihren Platz haben, verbindet. Es ist nicht einzusehen, warum der tatsächliche Erkenntnisprozeß, in dem Intuition und Querverbindungen zu sachfremden Bereichen (z.B. Kunst im Verhältnis zu Physik) ständig auftreten, in einen erkenntnispsychologischen und einen erkenntnistheoretischen Teil gespalten wird (Popper). Warum wird der Erkenntnisprozeß nicht als ganzes betrachtet und verbessert? Da der erkenntnistheoretische Teil der Logik zugänglich ist, wird er kurzerhand zum eigentlich relevanten Teil des Prozesses erklärt.

Als Basis von Erkenntnis wird beim umfassend-qualitativen Ansatz nicht nur die theoretisch-begriffliche Tradition einer Disziplin akzeptiert, sondern zusätzlich auch ein Fundus aus Kunst, Mystik, alten Theorien, Ereignissen des Lebens etc. Umgekehrt sollen Auswirkungen neuer Erkenntnis auf andere Lebensbereiche und Disziplinen auch von den jeweiligen Forschern selbst berücksichtigt und bearbeitet werden. Mit einem Delegieren an "zuständige" Disziplinen (so der Darmstädter Informatik-Professor Encarnacao bei einer Diskussion zu den Auswirkungen von Virtueller Realität) allein ist es nicht mehr getan. Dies hat natürlich Auswirkungen auf das wissenschaftliche Studium. Es reicht dann nicht mehr, im eigenen Fach methodisch und inhaltlich beschlagen zu sein. Der umfassend-qualitative Ansatz könnte z.B. durch ein einjähriges Studium Generale als 1. Phase eines jeden Studiums, oder durch die Verpflichtung, fachfremde Zusatzfächer oder wissenschaftstheoretische Vorlesungen zu belegen, unterstützt werden. Ein Blick auf die zur Zeit gängige Praxis an den Universitäten zeigt, daß die oben konstatierte Parallelität von logisch-analytischer Methode und kapitalistischem Wirtschaftssystem, nicht weit hergeholt ist. Im Zuge der Drittmittelforschung an Universitäten, die wegen der verschuldeten öffentlichen Haushalte immer mehr an Bedeutung gewinnt, werden quantifizierbare, verwertbare Ergebnisse des Wissenschaftsbetriebs bevorzugt.

Es geht bei dem umfassend-pluralen Ansatz nicht darum, die logisch-analytische Methode als solche, sondern ihre Dominanz zu überwinden. Alle wissenschaftlichen Disziplinen auf qualitative Methoden festnageln zu wollen, hieße einen umgekehrten Szientismus zu betreiben. Wie sehen qualitative Methoden wissenschaftlicher Erkenntnis aus? P. Feyerabend gibt in seinem Buch "Wider den Methodenzwang" das Beispiel der anthropologischen Feldforschung (S. 327f.). Deren Methode bei der Erforschung einer unbekannten Kultur besteht aus der Internalisierung von Verhaltensweisen und Beziehungen derart, daß diese jederzeit vom Forscher reproduziert werden können. Hierbei wird ausdrücklich von einem Vergleich mit Bekanntem und von einer logischen Rekonstruktion der Verhaltensweisen abgesehen. Dialektik und Hermeneutik lassen sich wohl ebenfalls unter qualitative Methoden fassen.

Eine offene Frage ist, wie qualitative Methoden in stark formaliserten, mathematisierten Disziplinen, aussehen könnten. Was sollen sie dort leisten? Gerade in den Naturwissenschaften wäre ein qualitativer Aspekt eine Bereicherung (den es übrigens Anfang des 19. Jh. einmal gab, vertreten durch Goethe, Schelling, Oerstedt und einige andere). In den mathematischen Sozialwissenschaften, etwa in den Wirtschaftwissenschaften, wäre eine Stärkung qualitativer Methoden bzw. Rehabilitierung, wo nötig, wünschenswert aus der Überzeugung heraus, daß der Mensch nicht vollständig auf formalisierte Parameter reduzierbar ist. Als Beispiel für eine qualitative, empirische Theorie in der VWL kann Mancur Olsons empirisch gewonnene "Logik kollektiven Handelns" dienen, die ohne eine mathematische Darstellung auskommt.

4.2 Das Problem der Meta-Ebene

Vertreter verschiedener Disziplinen und Lebensbereiche, die verschiedene Methoden haben oder sich nicht-wissenschaftlicher Erkenntnisarten bedienen, können in einem "interdisziplinären Knotenteam" nur zusammenarbeiten, wenn sie gewisse Kriterien für eine interdisziplinäre Arbeit anerkennen. Dieser Kriterienkatalog des umfassend-qualitativen Ansatzes, die Meta-Ebene der verschiedenen Erkenntnisarten und Methoden, müßte auf jeden Fall enthalten:

  • Anerkennung der Motivation des umfassend-pluralen Ansatzes
  • Anerkennung der Notwendigkeit der Methodenpluralität. Diese zieht unter Umständen auch eine Theorienpluralität nach, wie z.B. in der Medizin: Akupunktur und westliche medizinische Behandlungsmethoden sind nicht aufeinander reduzierbar, da mit verschiedenen Erkenntnisarten gewonnen. Die zugehörigen Theorien haben unterschiedliche Geltungs- und Anwendungsbereiche.
  • Gemeinsames Forschungsinteresse.
  • Einordnung der eigenen Forschungsergebnisse in das alltägliche Leben und in ein ganzheitliches Theoriengeflecht, was über eine bloße Koexistenz von kontroversen Theorien hinausgeht. Hans Lenk schreibt in "Zwischen Wissenschaftstheorie und Sozialwissenschaft", daß in der deutschen Soziologie nach dem Positivismusstreit der 60er Jahre zwar Ruhe eingekehrt ist, daß sich Positivisten und Anhänger der Kritischen Theorie miteinander arrangiert haben, sich jedoch nicht akzeptieren:"Man ist eben nett zueinander" (Lenk, S. 162).



5 Wissenschaftliche Erkenntnis, Politik und Gesellschaft

Dieser Abschnitt enthält enthält einige abschließende thesenartige Bemerkungen zum Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft.

Wissenschaftliche Erkenntnisse können dann erfolgreich publiziert werden, wenn sie vorherrschenden Machtinteressen nicht widersprechen (z.B. die 6 renommierten Wirtschaftsinstitute, die mit neoliberalen Koryphäen bestückt sind) oder verschiedenen Institutionen nützen (z.B. den Gewerkschaften). Dies ist reine Interessenpolitik und hat mit einer potentiellen "Verschwörung" nichts zu tun.

Die Aufnahme von wissenschaftlichen Erkenntnissen in der nicht-wissenschaftlich gebildeten Bevölkerung wird durch Barrieren wie Formalisierung, Mathematik, einen nicht allgemein verständlichen Jargon erschwert. Dies führt einerseits zu einer Ghettoisierung der Wissenschaft - das Klischee des zerstreuten, hochintelligenten Wissenschaftlers, der von dem, worauf es im Leben ankommt, keine Ahnung hat -, andererseits zu einem Hohepriestertum, das Herrschaftswissen produziert und kontrolliert (wie Feyerabend beklagt).

Wissenschaftliche Paradigmen verkrusten zu Ideologien, die einen interdisziplinären, interparadigmatischen Dialog oft fruchtlos, wenn nicht gar unmöglich machen. Die Bereitschaft, sich mit dem anderen wissentschaftlichen Lager unvoreingenommen und ehrlich auseinanderzusetzen, ist nicht gerade riesig, was einige von uns schon im Uni-Alltag erlebt haben.

Die wissenschaftlichen Disziplinen grenzen sich gegen populärwissenschaftliche Vorstöße zu neuen Paradigmen ab, um vermeintlich pseudowissenschaftliches Sektierertum nicht eindringen zu lassen (z.B. Sheldrakes morphogenetische Felder). Populärwissenschaftliche Publikationen scheinen aber oft der einzige Weg zu sein, eine Paradigmendiskussion überhaupt erst in Gang zu setzen, da diese in den wissenschaftlichen Disziplinen kaum stattfindet.

Was von den Wissenschaften über die Medien in die Öffentlichkeit dringt, sind meist gelöste "Rätsel" (im Kuhnschen Sinne), die entweder spektakulä oder technisch verwertbar sind, oder Wissenschaftsmythen. Damit ist die Fiktion eines linearen Erkenntniszuwachses gemeint, die Reduktion auf schlagwortfähige Thesen oder Beziehungen wie E = mc2, die Ikonisierung genialer Wissenschaftler (Einstein und seine herausgestreckte Zunge). Dies gilt vor allem für die Naturwissenschaften.

In den Sozial- und Geisteswissenschaften ist der Streit verschiedener Schulen in den Medien schon eher wahrnehmbar. Je enger die Verknüpfung der Forschungsprobleme mit der Gesellschaft ist, desto stärker werden Forschungsergebnisse in die Öffentlichkeit getragen und Forschungssteit dort ausgetragen.

Wissenschaft dient auch der Objektivierung von Aberglauben und Meinung ("Wissenschaftler haben herausgefunden...") - manchem Wissenschaftler würden jetzt natürlich die Haare zu Berge stehen. Aber gerade der Objektivitätsanspruch wissenschaftlicher Erkenntnis lädt dazu ein, Wissenschaftlichkeit in einer politischen Auseinandersetzung oder für ökonomische Zwecke als Waffe zu gebrauchen. Die Frage ist, ob es sich hierbei um einen Mißbrauch handelt, oder ob dieser nicht von vorneherein in der Konzeption wissenschaftlicher Rationalität enthalten ist. In diesen Zusammenhang gehört die Zahlengläubigkeit: Zahlen machen aus Meinungen Fakten, was mit Zahlen belegbar ist, kann den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben. Wissenschaft muß, vielleicht sogar kann, also ebenso wie Kunst, Literatur und Musik nicht gesellschaftlich neutral bleiben, sondern wird wie diese ideoligisiert und Macchtinteressen dienstbar gemacht.

Aufgrund ihres Objektivitätsanspruchs will die Wissenschaft absolut sichere Entscheidungsgrundlagen liefern, um dem Dilemma der Beliebigkeit, der bloßen Meinung, des unbegründeten Aberglaubens zu entgehen, das bei Entscheidungen mit politischer Bedeutung angesichts verschiedener Alternativen auftritt. Damit geht Wissenschaft über die bloße Reflexion der Gegenwart, über die Erkenntnis "l'art pour l'art", über die Kontemplation, die sie mit Kunst, Literatur und Musik gemeinsam hat, hinaus.

Es existiert ein wesentlicher Unterschied zwischen Sozial- und Naturwissenschaften: Erstere können eine neue Realität schaffen, da sie auf ihren Forschungsgegenstand zurückwirken und umgekehrt. Hierzu sei eine Interpretation Alfred North Whiteheads von M. Hampe (Neue Hefte für Philosophie 32/33) zitiert: "Da, wo unsere Lebenszeit und technische Macht nicht ausreicht, um auf die Entwicklung der beschriebenen Regularitäten Einfluß zu nehmen, nämlich in der unbelebten und dem überwiegenden Teil der belebten Natur, haben die betreffenden Gesetzmäßigkeiten keinen normativen Charakter. In dem Moment aber, in dem durch die Beschreibung einer Regularität eine Distanzierung von ihr möglich wird, die uns die Möglichkeit gibt, über ihr Weiterbestehen zu entscheiden, verwandelt sich die Beschreibung in eine potentielle Norm."


6 Anhang: Imre Lakatos' "Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme"

A. Vom Rechtfertigungsdenken zum Falsifikationismus

1. Das Rechtfertigungsdenken

Jahrhundertelang verstand man unter Wissen bewiesenes Wissen - bewiesen entweder durch die Kraft der Vernunft oder durch die Evidenz der Sinne. Die Rechtfertigungsdenker hatten drei Fraktionen:
1. Die klassischen Rationalisten; sie haben auch nichtlogische "Beweisarten" zugelassen (Offenbarung, intellektuelle Intuition, Erfahrung) in Verbindung mit der Logik. Für sie gab es synthetische Sätze a priori, die eine unumstößliche Grundlage bildeten. Wurde durch die nicht-euklidische Geometrie und die nicht-newtonsche Physik widerlegt.
2. Die klassischen Empiristen; beweiskräftig war nur die empirische Basis aus Tatsachenaussagen, deren Wahrheitswert die Erfahrung begründete. Mithilfe der induktiven Logik konnten sie auf ihnen Theorien aufbauen, die dann wahr "waren". Wurde durch die Kantianer widerlegt, die zeigten, daß Tatsachen logisch nicht Sätze begründen können und daß Logik nicht Gehalt vermehren kann, also induktive Schlüsse nicht gelten.
3. Der Probabilismus; Rückzug auf die Behauptung der Wahrscheinlichkeit von Theorien, nachdem 1. und 2. mit ihren Wahrheitsansprüchen gescheitert waren. Es wurde gezeigt, daß unter allgemeinen Bedingungen und für beliebige Evidenz alle Theorien die Wahscheinlichkeit null haben.

2. Der dogmatische Falsifiktionismus

Dies ist die schwächste Variante des Rechtfertigungsdenkens, empiristisch und nichtinduktivistisch. Da die Forderung der Beweisbarkeit keine wissenschaftlichen Theorien mehr übrig lassen würde, muß ein neues Kriterium her. Seine Theorie: Alle wissenschaftlichen Theorien sind fallibel. Es kann zwar nichts mehr bewiesen, aber mit voller logischer Sicherheit das Falsche widerlegt werden mithilfe einer absolut sicheren empirischen Basis. Zur Widerlegung reicht eine endliche Zahl von falsifizierenden Beobachtungen. Wissenschaftliche Redlichkeit besteht in der Angabe von falsifizierenden ???enten. Der Wachstumsprozeß der Wissenschaft ist das wiederholte Verwerfen von Theorien aufgrund harter Tatsachen.

Diese Theorie beruht jedoch auf zwei widerlegbaren Annahmen: 1. Es gibt Beobachtungssätze, Basisssätze und theoretische, spekulative Sätze, zwischen denen es eine angebbare natürliche, psychologische Grenze gibt. 2. Basissätze können wahr sein, d.h. aus Tatsachen bewiesen werden. Abgrenzungskriterium: Eine Theorie ist wissenschaftlich, wenn sie eine empirische Basis hat, wenn sie durch empirische Tatsachen falsifizierbar ist; wenn sie bestimmte Sachverhalte verbietet.
zu 1. Es gibt keine reinen Beobachtungen, sondern immer nur solche im Lichte einer Theorie. Daher ist keine objektives Unterscheidungskriterium anggebbar.
zu 2. Tatsachen können in der Logik keine Sätze beweisen. Es kann also auch kein falsifizierender Basissatz bewiesen werden.
zum Abgrenzungskriterium: Einige bewunderte Theorien sind nicht in der Lage, beobachtbare Sachverhalte zu verbieten, oder zumindest nur sichere Ereignisse unter der Bedingung, daß ander Faktoren keine Auswirkung haben (Ceteris-Paribus-Klausel). Das bedeutet aber, daß nicht sie selbst falsifizierbar sind, sondern höchstens die Ceteris-Paribus-Klausel. Eine endliche Anzahl von Beobachtungen reicht nicht zur Widerlegung aus. Also müßten einige berühmte und funktionierende Theorien als unwissenschaftlich und metaphysisch, da nicht widerlegbar verworfen werden. Konsequenz: Alle Theorien sind nicht nur nicht beweisbar und unwahrscheinlich, sondern auch unwiderlegbar.

3. Der naive methodologische Falsifikationismus

Dies ist eine revolutionäre Variante des Konventionalismus. Seine konservative Ausprägung ist nicht in der Lage zu erklären, warum Theorien, die lange erfolgreich waren, aufgegeben werden.
Wie kann man nun dem drohenden Skeptizismus entkommen, der aus der Widerlegung der Annahmen des dogmatischen Falsifikationismus folgt? Zwei Antworten:
i) Duhems Simplizismus; eine raumzeitlich universelle Theorie wird per Konvention aufgrund ;;;;;;;;klärungskraft und Einfachheit für unwiderlegbar erklärt; eine "morsch" gewordene Theorie kann aufgegeben werden, weil sie nicht mehr einfach genug ist. Mode und Geschmack sind damit aber noch nicht ausgeschlossen.
ii) Poppers methodologischer Falsifkationismus; eine raumzeitlich singuläre Behauptung wird per Konvention für unwiderlegbar erklärt. Dies sind dann "Basissätze".

Analog zu den zwei Annahmen der dogmatischen Falsifikationisten gibt es beim methodologischen Falsifikationismus zwei Entscheidungen zu treffen:
Entscheidung 1. Art: Welche Sätze sind Basissätze?
Entscheidung 2. Art: Welch Basissätze sind akzeptiert?
Ferner werden zu überprüfende Theorien und bereits akzeptierte Beobachtungstheorien gesondert eingestuft. Im Bewußtsein, daß Beobachtung theorie"verseucht" ist, wird der Einfluß und die Notwendigkeit von Beobachtungstheorien nicht mehr in Frage gestellt. Eine Theorie kann jetzt nicht mehr durch ein einziges negatives Experiment widerlegt werden, um Zufälle und Irrtümer (eben aufgrund einer falschen Beobachtungstheorie) auszuschalten. Das negative Experiment muß wiederholbar und intersubjektiv nachprüfbar sein. Eine andere Möglichkeit der Falsikfikation ist die "Erhärtung" einer falsifizierenden Hypothese. Die empirische Basis ist also im Vergleich zu der der dogmatischen Falsifikationisten "aufgeweicht". Als Abgrenzungskriterium ist sie jetzt weiter gefaßt und beinhaltet nicht mehr "Tatsachen", sondern akzeptierte Basissätze mit akzeptierten Beobachtungstheorien. Falsifikation und Fehlerbeseitigung sind nicht länger identisch. Eine Falsifikation zeigt jetzt nur ein "dringendes Bedürfnis, eine falsifizierte Hypothese durch eine bessere zu ersetzen". Von Wahrheit oder Widerlegung ist nicht mehr die Rede. Durch weitere Entscheidungen können mehr Theorien die Bezeichnung wissenschaftlich=falsifizierbar erhalten:
Entscheidung 3. Art: Angabe von Beseitigungsregeln, die als Widerspruch zwischen statistisch interpretierter Evidenz und einer probabilistischen Theorie gewertet werden können.
Entscheidung 4. Art: Wann ist eine spezifische Theorie widerlegt, wenn die Konjunktion einer solchen Theorie mit einer Ceteris-Paribus-Klausel falsifiziert wurde?
Entscheidung 5. Art: Welche Theorie wird als direkte Falsifikationsmöglichkeit akzeptiert für syntaktisch-metaphysische Theorien, deren logische Form keine raumzeitlich singulären Falsifikationsmöglichkeiten zuläßt?

Der Sinn all dieser Entscheidungen ist, die Falsifikations-möglichkeiten so zu modifizieren, daß einerseits genügend Theorien falsifizierbar sind und damit wissenschaftlich, und andererseits vorschnelle Falsifikationen ausgeschlossen werden. Der Preis ist das Risiko, daß sich die Entscheidungen als falsch herausstellen können. Aber Vergleich mit dem Glücksspiel: besser mit Risiko spielen als gar nicht, was die Konsequenz des irrationalen Skeptizismus wäre.
Trotz dieser Liberalisierung sieht sich dieses Konzept bei Konfrontation mit den historischen Tatsachen zwei Problemen gegenüber: 1. Die Auseinandersetzung besteht aber häufig nur zwischen Theorie und Experiment, sondern zwischen mindestens zwei konkurrierenden Theorien und Experiment. 2. Einige der interessantesten Experimente haben zu einer Bewährung und nicht zu einer Falsifikation geführt.

B. Vom Falsifikationismus zur Methodologie der Forschungsprogramme

4. Der raffinierte methodologische Falsifikationismus

Dieser versucht, das Problem durch Angabe neuer Vernunftgründe für die Falsifikation zu lösen und nicht wie Kuhn und Polanyi die Veränderung in soziologischen Begriffen zu erklären. er gibt andere Regeln des Akzeptierens (des Abgrenzungskriteriums) und der Falsifikation an. Akzeptabel, d.h. ist eine Theorie nur dann, wenn i) sie einen empirischen Gehaltsüberschuß hat gegenüber ihrem Vorgänger oder Rivalen und ii) ein Teil davon verifiziert ist. Falsifiziert wird eine Theorie T nur dann, wenn der Rivale T' folgende Merkmale aufweist: i) T' sagt neuartige Tatsachen voraus, ii) erklärt den früheren Erfolg von T, der ganze nicht-widerlegte Gehalt ist in T' enthalten und iii) ein Teil des Gehaltsüber-schusses von T' ist bewährt.
Die Betrachtung wird nun aber auf Theorienreihen anstatt auf Theorien bezogen. Gelten für die einzelnen Elemente der Reihe jeweils obige Bedingungen, ist die Reihe theoretisch progressiv, sie bildet eine theoretisch progressive Problemverschiebung. Andernfalls ist sie theoretisch degenerativ, die Problemverschiebung wird als pseudo-wissenschaftlich eingestuft. Fortschritt läßt sich hier als Grad der Progressivität definieren und erlaubt keine Falsifikation mehr vor dem Auftauchen einer besseren Theorie. Manche Falsifikation wird sogar erst aus der historischen Rückschau deutlich erkennbar.
"Der raffinierte methodologische Falsifikationismus verbindet verschiedene Traditionen. Von den Empirikern hat er die Entschlossenheit geerbt, vor allem aus der Erfahrung zu lernen. Von den Kantianern übernimmt er die aktivistische Einstellung zur Erkenntnistheorie. Von den Konventionalisten lernt er die Wichtigkeit von Entscheidungen in der Methodologie."
Der Bewährungsüberschuß einer Theorie ist die relevante Evidenz, nicht die Gemeinsamkeit mit der alten Theorie; durch ihn sind Erfahrungscharakter und theoretischer Fortschritt miteinander ver-bunden. Ein Berufungsverfahren ist jetzt möglich, wenn es gelingt, die Problemverschiebung wieder progressiv zu machen. Man kann sich mit dem Verwerfen jetzt Zeit lassen, und es ist auch egal, ob in der Theorie syntaktisch-metaphysische Kern oder "widerlegbare" Kern sind. Der Konflikt findet zwischen einer interpretativen Theorie, die die Tatsachen bietet, und einer explanatorischen Theorie, die sie erklärt, statt. Beide Theorien können logisch auf derselben Stufe stehen (im Gegensatz zum alten Konflikt Theorie - Hypothese/Satz). Es geht jetzt darum, die Inkonsistenz zwischen beiden Theorien auszumerzen. Aber die Entscheidung, wann eine alte Theorie zu verwerfen ist, ist nur aufgeschoben, denn: "Wir können uns nicht vom Problem der empirischen Basis befreien, wenn wir aus der Erfahrung lernen wollen. Diese Punkte führen nun zur nächsten Stufe: 1. Zum einen das "Klebeparadox": Durch das Hinzufügen ("ankleben") isolierter Theorien niederer Stufe zu einer Theorie kann künstlich eine progressive Problemverschiebung hergestellt werden. Wie läßt sich das vermeiden? 2. Die meisten Theoriereihen weisen eine bemerkenswerte Kontinuität auf, die sie zu Forschungsprogrammen verschmilzt.

5. Die Methodologie der Forschungsprogramme

Jedes Forschungsprogramm enthält methodologische Regeln:
1. zu meidende Forschungswege (negative Heuristik)
2. zu verfolgende Forschungswege (positive Heuristik)

Die negative Heuristik verbietet es, den Modus tollens gegen den harten Kern zu richten. Er muß auf den Schutzgürtel umgelenkt werden. Beispiel: Newtons 3 Axiome und das Gravitationsgesetz waren der harte Kern, der verteidigt werden mußte und jahrhundertelang erfolgreich verteidigt wurde, da man die Beobachtungstheorien der Gegenbeispiele angriff.
Wir können uns rational entschließen (Weiterführung des Konventionalismus), den "Widerlegungen" solange eine Übertragung der Falschheit auf den harten Kern nicht zu gestatten, als der bewährte empirische Gehalt des Schutzgürtels von Hilshypothesen zunimmt. Das Programm als ganzes soll eine gelegentlich progressive empirische Verschiebung aufweisen. Es ist nicht nötig, daß jeder Schritt im Programm sofort eine beobachtete neue Tatsache produziert. Der Grund des Zusammenbruchs ist somit logisch und empirisch, aber nicht ästhetisch (wie bei Duhem).
Die positive Heuristik stellt Strategie und Ordnung des Forschungsprogramms dar. Es geht also nicht nur um Verdauung von Gegenbeispielen, sondern um Modifizierung des Schutzgürtels gegen kommende, potentielle Widerlegungen. Die Verifikationen der vorhergesagten Gegenbeispiele der n+1. Theorie der Reihe sind in diesem Prozeß genau genommen wichtiger als die Widerlegungen. Dieses Programm wird aber von Theoretikern entworfen, oft ohne Berücksichtigung von Tatsachen, im Vertrauen auf die fortschreitende Vergrößerung und Verbesserung ihres Gehalts. Die naiven Falsifikationisten konnten diese relative Autonomie der theoretischen Wissenschaft nicht rational erklären. Wenn die positive Heuristik erst einmal formuliert ist, sind die Schwierigkeiten des Programms eher mathematischer als empirischer Art.

Im Gegensatz zur Kuhnschen Krise als sozialpsychologischem Grund gibt es hier einen objektiven Grund für die Aufgabe eines Forschungsprogramms: ein anderes Programm, das den früheren Erfolg des Rivalen erklärt und diesen durch die Darlegung des heuristischen Potentials überholt. Was ist aber das Maß für die Neuartigkeit eines Tatsachensatzes, der in dem heuristischen Programm steckt? Dies kann oft erst nach längerer Zeit gefunden werden. Entscheidende Experimente werden sogar erst nach Jahrzehnten aus der historischen Rückschau als solche erkannt.

7 Kommentar: Ist Paradigmenpluralität möglich? (Kai Mommsen)

Wissenschaftstheoretisch im Kuhnschen Sinne gesehen ist eine Paragdigmenwissenschaft eine solche, die auf einem Paradigma beruht und ;;;;;;;;em erfolgreich Forschung betreibt. Ein Paradigma ist eine Theorie, die so gut bestätigt worden ist, daß sie grundlegend wird. Die Physik als Vorbildwissenschaft beinhaltet mehrere Paradigmen. Die Relativitätstheorie, die den Makrokosmos beschreibt, und die Quantenmechanik, die auf den Mikrokosmos anwendbar ist. Dazu kommt noch die Elektrodynamik. Die Suche nach der Weltformel, von der man ab und zu in den Medien hört, ist nun nichts weiter als der Versuch einer globalen Theorie, die diese Theorien;;û;;û;ûgt. Warum diese Überzeugung, daß es eine solche globale Theorie gibt? Die Physik hat bisher sehr erfolgreich mit ihrer Paradigmenforschung gelebt. Das Paradigma aber sind die obigen Theorien und damit ist es nicht eines, sondern mehrere. Die Chaosforschung hat dazu ein neues Paradigma hervorgebracht. Die paradigmatischen Grundpfeiler der Physik die QM und die RT werden durch diese anderen und durch sich gegenseitig nicht angetastet. Aber an dieser Stelle bemerken wir, daß der Begriff des Paradigma;;;û;;;;klare schwindet. Wenn wir aber nmicht genau wissen, was nun ein Paradigma ist, warum beharren wir darauf, nur eines verwenden zu wollen?

Die bestürzende Vielfalt von Theorien wird dadurch weniger bestürzend, weil alle verschiedene Ebenen des Materiellen und Organischen betrachten. Nun ist die allgemeine Überzeugung, daß nur ein Paradigma jeweils Gültigkeit beanspruchen kann. Ansonsten ist man wiederum im Kuhn´schen Sinne im Stadium der Vorwissenschaftlichkeit. Der Glaube daran, daß nur eine Theori;;;;;;ûûalität richtig darstellen kann (richtig sein kann), ist sehr stark. Er ist verbunden mit dem Glauben an die "ewigen" Naturgesetze. Aber ein Gesetz wie das Fallgesetz erhält innerhalb einer anderen Theorie eine völlig neue Bedeutung. Die Wichtigkeit der Rolle der Beschreibung und der metaphysischen Elemente (der grundsätzlichen Postulate) der jeweiligen Beschreibung rückt damit in das Blickfeld. Die heutige Wissenschaft ist aber überwiegend der Auffassung, daß entweder keine metaphysischen Elemente iûûû;û;;;radigmen bestehen, oder daß sie der Realität entsprechen. So gibt es dann keine Möglichkeit einer Paradigmenpluralität.

Ein Hauptgrund für den Glauben an das eine richtige Modell, die eine richtige Theorie, das eine richtige Paradigma resultiert auch aus der Tatsache, daß in der Physik keine Paradigmen nebeneinander existieren. Aber stimmt das denn? Ist die Newton´sche Physik falsch, wie man sagt? Sie wird immer noch benutzt. Nun sind ihre Grundpostulate falsch und sie wird von der RT als Spezialf;;;ûû;;;eschlossen.

Ein Blick auf die Geometrie gibt nun aber ein Paradebeispiel von Theorienpluralität. Hier existieren euklidische, elliptische, hyperbolische und andere absonderlich anmutende Geometrien nebeneinander. Die Geometrien ähneln verschiedenen Sprachen zur Darstellung des Raums. Das erinnert daran, daß möglicherweise auch Theorien als Sprachen aufgefaßt werden könnten. Dann würde es von der Sprache abhängen, wie die Wirklichkeit sich uns darstellt. Hier liegt aber nun wieder die Schwierigkei;;;;;;;;ie Theorien auf grundlegenden Postulaten, auf einigen Grundsätzen beruhen, auf denen alle übrigen Aussagen aufgebaut werden. Diese müssen richtig sein und es können nicht mehrere widersprechende Grundsätze richtig sein, oder etwa doch? Seit Anfang des Jahrhunderts gelten die aus Theorien abgeleiteten Naturgesetzte nicht mehr als "gottgegeben", sondern als Modelle, die mehr oder weniger ädaquat die Sachverhalte repräsentieren. Andererseits gibt es grundsätzliche Elemente, die diesen Modellcharakter û;;;;;;ûemeingültigkeit erweitern. Die Ansicht, die ich hier vertrete, ist, daß es mehrere solche Grundsätze geben könnte.

Vielleicht sollte die Naturwissenschaft einmal auf die Geisteswissenschaften blicken. Dort gibt es einen freien Streit der Theorien, viele verschiedene stehen nebeneinander, gehen von verschiedenen Voraussetzungen aus und bringen verschiedene Resultate. Niemand würde nun nach einer globalen Theorie suchen, die diese Theorien vereinigt. Vielleicht sollte die Physik sich auch in eine;;;;û;;;n Streit der Theorien begeben. Nun ist das unerhört, denn es gibt ja gar keine anderen Theorien, die neben der Relativitätstheorie (RT) oder der Quantenmechanik (QM) Gültigkeit haben könnten. Doch - wer sucht, der findet. Die Anzahl von alternativen Konstruktionen, Erweiterungen und grundlegenden Veränderungen zu RT und QM ist groß, umgekehrt proportional dazu ist aber die Resonanz und Akzeptanz dieser Entwürfe. Die wirklich revolutionäre Idee für die Wissenschaftstheorie wäre, wenn es verschieden;;;;ûûû;en für das gleiche Gebiet in den exakten Wissenschaften gäbe. Nicht nur, daß die Physik bis dato alle Hinweise auf dynamische Ätherfelder, Orgon, Prana und die offensichtlichen Erfolge solcher Geräte wie Wünschelruten ignoriet und diffamiert, auch in der Erklärung ihrer Gebiete selbst läßt sie keine Alternativen zu. Die Fülle solcher ist erstaunlich.

Die primäre Frage ist, ob eine Theorienpluralität oder der Theorienabsolutismus die richtigen Auffassungen sind. Hier treten wir direkt in die wissenûû;;;ûûûheoretische Debatte ein. Der unstrittige Befunde, daß zu Einzelbeobachten jede Menge Hypothesen passen und daß jede Theorie unwahrscheinlich und falsch ist, könnten einen Hinweis beinhalten: Viele Theorien sind möglich. Die Hoffnung, daß man letztendlich eine Theorie, die Weltformel findet, braucht man trotzdem nicht aufzugeben. Nur ist beim Stand der Dinge noch viel zu wenig erklärt worden und viel zu viel steht außerhalb der Wissenschaft.


1 Kleine Anmerkung von mir: Der Marxismus (in seine;;;;;û;ûiedenen Ausprägungen natürlich) hat immer gro&sztmöglichen Wert auf seine Wissenschaftlichkeit gelegt und jegliche Metaphysik oder Religion abgelehnt. Insofern handelt es sich hier um einen Methodenstreit der wissenschaftlichen Erkenntnis, nicht um einen der verschiedenen Erkenntnisarten.


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© 1997 Niels Boeing