die diktatur des entweder oder

Die Diktatur des Entweder-Oder liegt wie Mehltau in den Köpfen, verklebt den Verstand und staubt von dort die Nerven bis zur Bewegungsunfähigkeit ein. Wir sind gefangen in bipolarem Denken und gelangen nicht über seine Beschränkungen hinaus. Die Skala unserer Wahrnehmung ist linear: klein - groß, heiß -kalt, hoch - tief, gut - böse... Dazwischen spielt sich in Schattierungen unser Leben ab. Geschichte begreifen wir als Pendelausschlag zweier gegenläufiger Prinzipien, die Möglichkeit, fundamental neue Prinzipien zu entdecken, ausschließend: Demokratie - Autokratie, Markt - Plan, Yin - Yang... Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten schwebt als Dogma über uns.

Die Quantenmechanik hat in diesem Jahrhundert das sogenannte Paradoxon des Welle-Teilchen-Dualismus zutage gefördert. Die Vorstellung, ein und dasselbe Ding sei in einer Situation Welle, in einer anderen Teilchen, verunsichert uns zutiefst. Wir fragen uns, was dieses Ding denn nun wirklich ist? Die Physik behilft sich damit, zu sagen, daß dieses Ding eben weder Welle noch Teilchen sei, sondern sich nur so verhalte. Wir können das Phänomen, das sich einer definitiven Zuordnung entzieht, offensichtlich nicht benennen, da unsere sprachlichen Möglichkeiten mit unserer bipolaren Wahrnehmung völlig übereinstimmen. Hierbei geht es nicht darum, einen physikalischen Sachverhalt als Vorbild für andere Bereiche unseres Denkens zu nehmen, uns eines platten Szientismus zu befleißigen. Vielmehr enthüllt uns dieses Beispiel nur die Struktur unseres bipolaren Denkens.

Die Verabsolutierung einer Perspektive, eines Prinzips, der Zwang, sich für einen Standpunkt entscheiden zu müssen, geht Hand in Hand mit der Vorstellung, es gäbe die eine Wahrheit, die eine Sache restlos erklärt. Dies verbaut jedoch die Einsicht in den Prozeßcharakter allen Seins. Sowohl physikalische Dinge als auch Beziehungsgeflechte zwischen Dingen konstituieren sich durch die permanente Wechselwirkung oder Auseinandersetzung der Dinge miteinander. Bei solchen Beziehungsgeflechten kann es sich auch um soziale, ökonomische und ökologische Systeme handeln. Der einzige Unterschied zur Sphäre der Physik besteht in der partiellen Veränderbarkeit der Gesetze und Regeln der Konstituenten solcher Systeme. Die Konstituenten sind nicht nur den in ihrem Zeithorizont unveränderbaren Naturgesetzen unterworfen, sondern auch Gesetzen, die sie selbst hervorbringen und verhandeln. Dies ist in unseren Augen zudem ein wichtiger Einwand gegen den Szientismus (vor allem seine naturalistische Variante).

Die Ablehnung des Entweder-Oder-Denkens ist also mitnichten Unentschlossenheit oder Opportunismus, sondern die Einsicht in die Prozeßhaftigkeit des Seins, die im Falle sozialer, ökonomischer oder ökologischer Systeme neue Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet.