die
creative gruppe
das
dritte-welt-problem Februar
1993, ausgedruckt 20 Seiten
- Einleitung
- Zur
Geschichte des Kolonialismus
- Zum
Entwicklungsbegriff
- Der Status
Quo 1993
- Komponenten
einer neuen Entwicklungspolitik
- 7 Anhang
Dabei waren:
Niels
Boeing, Markus "Moschess" Hacker, Richard "Ritschi"
von Heusinger, Robert von Heusinger, Ruprecht von Heusinger,
Frank Müller, Martina Pauly, Oliver Peltzer
1 Einleitung
[zurück
zum Anfang]
Warum diskutieren wir ein Wochenende über dieses Thema,
über das schon so viel geschrieben wurde? Lest die Bücher
und fangt endlich an, mögt Ihr sagen. Zwei Tatsachen
sprechen jedoch dafür, die dinge erneut zu durchdenken: Zum
einen sind seit dem 1. Bericht des Club of Rome gut 20 Jahre ohne
spürbare Erfolge verstrichen, die Lage hat sich noch
verschlechtert. Zum andern könnte jetzt zum ersten Mal
Entwicklungspolitik ohne die Zwänge des Ost-West-Konflikts
stattfinden. Stattdessen wächst sich der Nord-Süd-Gegensatz
zu einem viel unberechenbareren Nachfolger aus. Warum passiert
nichts? Sind vielleicht ganz neue Konzepte nötig? Aber sind
sie auch möglich?
2 Zur Geschichte des Kolonialismus
[zurück
zum Anfang]
Der Begriff "Dritte Welt" verschleiert die
Eigenarten und die unterschiedlichen Probleme der jeweiligen
Regionen, die aus unterschiedlichen Vor- und Kolonialgeschichten
resultieren. Im Anhang findet ihr eine knappe tabellarische
Zusammenfassung desssen, nach Regionen geordnet. Zwei Dinge
fallen bei näherer Betrachtung auf: 1. Unterschiede
zwischen den kolonisierten Regionen: In Lateinamerika wurden
die alten Kulturen nahezu vollständig zerstört, so daß
die Kolonialgesellschaften keine Kontinuität zu den alten
hatten, sondern große Gemeinsamkeiten mit den ehemaligen
Strukturen der Kolonialmächte Spanien und Portugal
aufwiesen. In Indien und Tropisch-Afrika war die Identität
aufgrund kultureller und politischer Zersplitterung zu schwach,
um sofort starken Widerstand zu mobilisieren. Im Nahen Osten
sowie in Südost- und Ostasien war die kulturelle Identität
hingegen so stark, daß entweder früh starker
Widerstand losbrach oder die Europäer von vorneherein auf
eine Kolonialherrschaft verzichteten und sich auf wirtschaftliche
Kontrolle beschränkten (China, Japan, Thailand, Korea). Dies
scheint immerhin ein wenig die Tatsache zu erhellen, daß
Lateinamerika und Tropisch-Afrika im Gegensatz zum Fernen Osten
nicht auf die Beine kommen. 2. Im Falle Nord- und
Lateinamerikas läßt sich erkennen, daß die
unterschiedlichen Gesellschaftsstrukturen der Kolonialmächte
verschiedene Entwicklungsvoraussetzungen schaffen. Der Norden
(Frankreich, Großbritannien): überwiegend
protestantisch, individualistisch, kapitalistisch mit
gleichmäßiger Landverteilung. Der Süden (Spanien,
Portugal): katholisch, feudal, agrarisch; Landverteilung in Form
von Haziendas und Encomiendas (führen zu parasitärer
Oberschicht in den Städten).
3 Zum Entwicklungsbegriff
[zurück
zum Anfang]
Die Modernisierungstheorie1 hat noch immer viele Anhänger,
leider auch in den Entwicklungsländern (EL) selbst. Zwei
Gründe sprechen dafür, Entwicklung nicht mehr in diesem
Sinne zu definieren: 1. Die ganze Welt auf den Standard der
jetzigen Industrieländer (IL) zu bringen, würde die
globale ökologie definitiv ruinieren (abgesehen davon
reichen die Metallvorkommen auf der Erde nicht aus, um alle
Haushalte der Welt mit Auto, Kühlschrank, Fernseher etc. zu
versorgen). 2. Alle Staaten dieser Welt mit demselben Standard
und auf der Jagd nach größtmöglichem
Wirtschaftswachstum würden sich einen mörderischen
Konkurrenzkampf auf dem Weltmarkt liefern. Dies kann
zynischerweise gar nicht im Interesse der IL seink, so daß
man sich fragen kann, ob sie es mit der Entwicklungspolitik je
ernst gemeint haben. Entwicklung bedeutete bisher
Industrialisierung, Konzentration und Rationalisierung, übergang
von kleineren zu größeren Einheiten. Politische und
materielle Freiheit wurden als voneinander unabhängig
gesehen. Diese Trennung läßt sich aber nicht einmal
bei einem modifizierten Entwicklungsbegriff aufrechterhalten.
Entwicklung der EL kann wahrscheinlich nur im Sinne der
"Endlichkeitstheorie"2 stattfinden, d.h. mit einer
gewissen Einschränkung politischer Freiheiten in den IL (der
Begriff stammt von mir, die Idee hingegen dürfte schon viele
Vorläufer haben). Wie ist diese Einschränkung mit den
westlichen Grundwerten vereinbar, und wie ist sie im Westen
durchführbar? Man darf vorerst bezweifeln, daß sich
der Westen zu dieser Einsicht durchringen kann. Wahrscheinlich
bedarf es der Autorität einer reformierten UNO.
Wir
haben uns auf folgenden Entwicklungsbegriff geeinigt. Entwicklung
beinhaltet demnach: 1. als Minimalforderung die Befriedigung
der Grundbedürfnisse, wie sie von der ILO3 definiert
wurden: - elementare Voraussetzungen für das physische
Wohlergehen, - vier "qualitative" Voraussetzungen:
Arbeit, gesunde Umwelt, politische Partizipation und
Freiheit. Die Auslegung der beiden letzten ist jedoch nicht
unabhängig von Religion oder Ideologie einer Kultur. 2.
Die Schaffung von Strukturen in einem Land, die die langfristige,
selbständige Befriedigung dieser Grundbedürfnisse
sichert.
4 Der Status Quo 1993
4.1 Wirtschaftlich
[zurück
zum Anfang]
Drückendstes Problem ist zur Zeit die Verschuldungskrise
(vgl. Beitrag von Robert im Anhang). Die Verschuldung der EL
begann in den 60er Jahren mit der Kreditaufnahme zur Finanzierung
des industriellen Aufbaus (auf der Linie der
Modernisierungstheorie). Nach der 1. ölkrise 1973/74 mußten
die EL ohne eigene ölvorkommen Kredite aufnehmen, um die
lebenswichtigen ölimporte bezahlen zu können. Die 2.
ölkrise 1979/80 und der Verfall der Rohstoffpreise lösten
eine neue Kreditaufnahmewelle aus, mit der der Teufelskreis aus
Zinszahlung, Umschuldung und Neuverschuldung einsetzte. Seitdem
ist ein Nettokapitalfluß aus den EL in die IL zu
verzeichnen. Neben diesen externen Verschuldungsgründen
kommen interne hinzu, wie etwa die Finanzierung von
Prestigeobjekten, die entwicklungspolitisch sinnlos sind.
Aufgrund mangelnder Diversifikation sind die meisten EL nach wie
vor von den Rohstoffpreisen abhängig. Wo Diversifikation
vorhanden ist, liegt aber eine totale Abhängigkeit von den
multinationalen Konzernen vor. Das Engagement der Multis bringt
nicht unbedingt Vorteile für die EL mit sich, da die
entstehende dualistische Wirtschaftsstruktur aus Hi-Tech und
traditioneller Landwirtschaft die Landflucht fördert: Ein
Multi-Arbeitsplatz zieht zwei oder mehr Bewerber vom Land ab.
Andererseits entfällt weniger als 1 % der Multi-Engagements
auf die 36 ärmsten EL. Damit die IL in den Metropolen ihre
Luxusgüter besser absetzen können (womit die Eliten der
EL die Stadtbevölkerung ruhighalten), sind die Währungen
der EL oft überbewertet. Dies wiederum verschlechtert die
Exporterlöse der EL, die aufgrund der zu niedrigen
Rohstoffpreise ohnehin nicht riesig sind, so daß ein
Leistungsbilanzdefizit entsteht. Die Folge ist ein Zwang zu
weiterer Verschuldung. Mit einer Unterbewertung könnten sich
die EL durch die entstehenden Leistungsbilanzüberschüsse
allmählich entschulden (marktmäßgie
Entschuldung), was die IL jedoch zu verhindern versuchen. Ein
weiteres Problem ist die Kapitalflucht, da die Eliten ihr Kapital
lieber in Ländern mit stabilen Währungen zur
Werterhaltung aufbewahren. Verhindern könnte man dies nur
mit Kapitalverkehrskontrollen nach einer internationalen
Aufhebung des Bankgeheimnisses. Ein ethisches Argument für
diesen Schritt wäre, daß ein Anteil am Volksvermögen
Verpflichtungen beinhaltet, denen man sich nicht entziehen darf
(abweichend davon der monetärkeynesianische Ansatz bei
Robert). Auf der UNCTAD III und IV4 haben die EL ein Programm für
eine Neue Weltwirtschaftsordnung vorgelegt, das folgende
Kernpunkte enthält:
Umstrukturierung des IWF, der jetzt von den G7-Staaten
beherrscht wird.
- Entschuldung.
- Preisindexierung: Rohstoffpreise (als Hauptexportgüter)
werden an Importgüterpreise gekoppelt.
Verwirklichung der Ziele der UNO.
Die IL lehnten dieses Programm wegen marktfeindlichen
Dirigismusses und Bürokratie ab. Die Handelsbeziehungen der
EL untereinander (Süd-Süd-Handel) sind nach wie vor
marginal im Vergleich zum Nord-Süd-Handel, während ein
ausgeprägter Nord-Nord-Handel stattfindet.
4.2 Politisch
[zurück
zum Anfang]
In der UNO sind die EL nicht gleichberechtigt. Alle wichtigen
Entscheidungen der UNO, ihrer Nebenorganisationen und der
Ausschüsse müssen vom Sicherheitsrat abgesegnet werden,
wobei alle 5 ständigen Mitglieder zustimmen müssen.
Gegen den Willen der IL können keine Reformen oder Aktionen
durchgeführt werden. Die wichtigsten Organisationen der
EL umfassen folgende:
- SELA (Sistema Económico Latinoamericano),
lateinamerikanische Organisation, 1975 mit Kuba und ohne die USA
gegründet, als Reaktion auf die Dominanz der USA in der OAS
(Organisation amerikanischer Staaten), um gemeinsame Positionen
Lateinamerikas gegenüber den IL auszuarbeiten.
- Gruppe der 8, gegründet 1987, um Brasilien,
Argentinien, Peru und Uruguay erweiterte Contadora-Gruppe
(Kolumbien, Mexiko, Panama und Venezuela), zunächst zur
Konfliktregelung in Lateinamerika gedacht, auch zur Stärkung
der Kooperation und des interregionalen Handels.
- OAU (Organisation für afrikanische Einheit), gegründet
1963, darunter zwei Gruppen: 1. Die Casablanca-Gruppe
(sozialistisch, "progressistisch"), die sich für
einen afrikanischen Bundesstaat einsetzt, ggf. mit änderung
der Kolonialgrenzen und 2. die gemäßigte
Monrovia/Brazzaville-Gruppe.
- CEAO (Communauté de l'Afrique de l'Ouest), gegründet
1974, westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft.
- ASEAN (Association of South-East Asian Nations), gegründet
1967, südostasiatische Wirtschaftsgemeinschaft (Malaysia,
Thailand, Singapur, Brunei, Philippinen, Indonesien, seit 1995
auch Vietnam).
Gruppe der 77. Das Zentrum-Peripherie-Modell5 weist
darauf hin, daß die Machteliten der EL zum Teil dieselben
Interessen verfolgen wie die Eliten der IL. Auch dies verhindert
eine wirkungsvolle Entwicklungspolitik, die sich an den
Bedürfnissen der Bevölkerung orientiert.
4.3 Globalpolitisch
[zurück
zum Anfang]
Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts ist der politische Anreiz
für Entwicklungshilfe weggefallen, ein EL ins eigene Lager
zu ziehen. Als neues Motiv zeichnet sich ein Art "Containment"
gegen Migrationsströme aus den EL ab. Derzeit ist die
Vergabe von Entwicklungshilfe an wirtschaftliche Kriterien sowie
an die Einhaltung der Menschenrechte gebunden. Die EL sehen sich
aber mit einer Verlagerung der Hilfe nach Osteuropa konfrontiert,
da der dortige Umbruch Westeuropa direkt betrifft.
4.4 Strukturprobleme der EL
Als solche sind zu nennen: - Anhaltend hohes
Bevölkerungswachstum: Die EL befinden sich in der
sogenannten Bevölkerungsfalle: Wachstum und Anstieg des
Wohlstandes führen zu einem Bevölkerungsanstieg, der
das Wachstum wieder aufzehrt. Alle sind sich darin einig, daß
ein Sozialversorgungssystem die Grundbedingung ist, um den
Kinderreichtum zu reduzieren. Die Frage ist allerdings, ob
Katastrophen bis zu einer Stabilisierung der Bevölkerungszahl
selbst bei einer ernsthaften, neuen Entwicklungspolitik vermieden
werden können. Bis ein Sozialversorgungssystem einmal
greifen wird, bleibt die Spannung zwischen Wirtschafts- und
Bevölkerungswachstum bestehen. - Landflucht, vor allem
der Altersschicht 16 - 25, die magisch von den Metropolen
angezogen wird und oft kulturell schon entwurzelt ist, ausgelöst
durch die oben (4.1) beschriebene dualistische
Wirtschaftsstruktur. - Analphabetentum und unzureichende
Ausbildung: Da die Ausbildung in den meisten EL vom materiellen
Einkommen der Eltern abhängig ist, in der Landwirtschaft
aber auch Kinder als Arbeitskräfte benötigt werden, ist
die Quote der Schulabbrecher nach der Primary School entsprechend
hoch: Lateinamerika 60 %, Afrika 54 %, Asien 20 %. Solange die
Einkommensmöglichkeiten extrem ungleich verteilt sind, nützt
selbst eine Gleichheit der Ausbildungsmöglichkeiten nichts
(so sie überhaupt besteht). - "Brain Drain": a)
extern: Ausbildung im Ausland ohne Rückkehr; Abwanderung der
Gutausgebildeten ins Ausland, verständlicherweise: die
Arbeitslosigkeit unter Akademikern beträgt z.B. in Indien 40
%, in Bangladesh 47 %; b) intern: Ausbildung im Inland, aber
Konzentration auf Forschung und Prestigeobjekte, nicht auf
praktische, kreative Arbeit; außerdem werden Arbeitsplätze
überqualifiziert besetzt, da Absolventen höherer
Schulen Primary-School- Absolventen vorgezogen werden.
4.5 Migration
[zurück
zum Anfang]
Migration (im weiteren Sinne) findet hauptsächlich
zwischen den EL statt in Form von Flüchtlingsströmen
aus Kriegs-, Bürgerkriegs- und Katastrophengebieten.
Zahlenmäßig nimmt sich die Migration in die IL eher
gering aus. Doch wandern hierbei meist gutausgebildete
Arbeitskräfte ab, die in den IL unterqualifiziert arbeiten
(wie z.B. koreanische Akademiker, die in den USA Gemüseläden
aufmachen).
4.6 Energieversorgung
[zurück
zum Anfang]
Die ölkrisen haben gezeigt, wie abhängig die EL vom
öl sind. Beseitigung dieser ölabhängigkeit wird
von einigen für die erste Bedingung für Entwicklung
gehalten, kann aber nur eine notwendige Bedingung unter mehreren
sein. Das Beispiel Nigeria zeigt, daß eigene ölvorkommen
allein einen desolaten Staat nicht verhindern, wenn dieser wie
hier von ethnischen Konflikten geschüttelt wird. In den EL
sind die Voraussetzungen für eine wirksame Umstrukturierung
der Energieversorgung, etwa zur Solartechnik hin, noch besser als
in den IL. Wie in diesen ist es jedoch ein
wirtschaftlich-technologisches Problem, kein technologisches.
(Anmerkung: Z.B. auf Java hat man in einem Modellversuch in einem
Dorf alle Häuser mit Solarzellen und Speichern ausgestattet.
Nicht nur daß die Energieversorgung funktioniert -
Akzeptanz sowie Handhabung und Wartung durch die Einwohner sind
unerwartet gut.)
5 Komponenten einer neuen
Entwicklungspolitik
Eine Alternative zum freien Weltmarkt und zum Erreichen
westlichen Standards als Entwicklungsziel könnte eine
Regionalisierung der Dritten Welt sein, die mit einer
Entschuldung und einer Reform der UNO einhergeht.
5.1 Regionenbildung
[zurück
zum Anfang]
Es sollte prinzipiell möglich sein, in kleinen
marktwirtschaftlichen, aber relativ abgeschotteten Räumen
einen höheren Standard als den jetzigen in den IL zu
erreichen, aber einen der jeweiligen Kultur der Region
angemessenen ohne den Zwang, den Westen zu kopieren. Diese
Regionen sollen sich am Ende mit allen Grundgütern selbst
versorgen können (self reliance). Sie böten den Vorteil
einer überschaubaren und nicht überstürzten
Entwicklung, die ein freier Weltmarkt nicht zulassen würde.
Eine solche Dezentralisierung der Weltwirtschaft würde zudem
den nötigen ökologischen Umbau fördern, der ein
viel zu komplexes Problem darstellt, als daß es mit einem
großen Plan gelöst werden könnte. Ein Problem
solcher Self-reliance-Regionen wären jedoch
unquantifizierbare Benefits, also etwa die Anziehungskräfte
eines als höher empfundenen Standards einer benachbarten
Region. Außerdem wäre ein Handelgleichgewicht zwischen
den Regionen sinnvoll. Die Verteilung der Handelsgewinne ist aber
schwer kontrollierbar, wenn z.B. Kaffee gegen Hi-Tech-Produkte
aufgerechnet wird. Ansätze von Regionenbildung in den EL
sind durchaus vorhanden (s. 4.2), gerade in letzter Zeit auch als
Antwort auf den aufkommenden Protektionismus der IL, wenn auch
eher als Trotzreaktion denn als Strategie. So plant die ASEAN
bereits die Erweiterung um Burma, Laos, Kambodscha und Vietnam
und die Schaffung eines Binnenmarktes in den nächsten 5 - 10
Jahren.
Wie könnte eine Regionalisierung der EL von
Seiten der IL in Gang gesetzt werden, vorausgesetzt die IL hätten
sich zu diesem Konzept durchgerungen? Eine drastische Reduzierung
des Rohstoffverbrauchs durch hohe Rohstoffbesteuerung in den IL
führt dort einerseits zu verstärktem Recycling,
andererseits in den EL zur Notwendigkeit, zu diversifizieren und
vor allem den Süd-Süd-Handel in Gang zu bringen.
Bestehende Regionen intensivieren sich und neue entstehen. Dies
muß allerdings mit einer koordinierten Entwicklungshilfe
der IL und nach einer Entschuldung vor sich gehen. Diese
Zahlungen werden mit einem Zeitlimit von 20 - 30 Jahren verbunden
(im Sinne einer Rückzahlung der "50-Billionen-$-Schuld"),
an deren Ende eine Autarkie bei den Grundbedürfnissen
erreicht sein soll. In dieser Zeit stellen die Regionen eigene
Strukturpläne auf und geben an, in welcher Form sie die
Hilfe beziehen wollen. Nach Ablauf der Zeit wird die Hilfe
eingestellt. Damit sollen die Machteliten unter Druck gesetzt
werden, die Erstellung der Strukturpläne auch wirklich
voranzutreiben. Weiterer Druck auf die Eliten wird durch
Unterstützung der jeweiligen NGOs6 und der Intelligenzia
ausgeübt. Die Hilfen werden im wesentlichen direkt an schon
bestehende regionale Organisationen gegeben, um einer
Zweckentfremdung durch die Eliten so weit wie möglich
vorzubeugen. Wichtig ist, in der polaren Gesellschaftsstruktur
der EL eine Mitte aufzubauen, die nicht auf Bereicherung aus ist.
5.2 Entschuldung
[zurück
zum Anfang]
Eine Entschuldung muß mit einer Neuorganisation des IWF
einhergehen. Der jetzige IWF verfolgt eine für die IL
günstige Entwicklungspolitik, im wesentlichen bei der
Rohstoffgewinnung. Das überbevölkerungs- und
Migrationsproblem scheint derzeit kein Entscheidungskriterium für
den IWF zu sein. Ein vollständiger Schuldenerlaß im
gegenwärtigen System ist problematisch, da die EL zunächst
wieder kreditwürdig wären und eine erneute
Schuldenkrise wahrscheinlich. Eine Schuldenreduktion ist aber
unerläßlich, um wenigstens den Nettokapitalfluß
aus den EL zu stoppen.
5.3 Reform der UNO
[zurück
zum Anfang]
Eine reformierte UNO kann die Kontrollinstanz dieses
konzertierten Entwicklungsprozesses sein. Bisher fußt die
UNO auf dem westlichen Wertesystem. Ein Konsens aller
Weltkulturen hinsichtlich gemeinsamer Grundwerte, der nicht vom
Westen diktiert ist, scheint allerdings schwer formulierbar. Die
reformierte UNO muß möglicherweise ohne ein
Grundwertesystem auskommen, das sich erst im Laufe von
Jahrzehnten entwickeln kann, und sich auf Kontroll- und
Schlichtungsfunktionen beschränken. Das
Einstimmigkeitsprinzip im Sicherheitsrat sowie die westlichen
Vetorechte, die bisher nur die Vorherrschaft des Westens
zementiert haben, werden abgeschafft und durch eine qualifizierte
Mehrheit (2/3) ersetzt.
5.4 Kontrolle der Migration
[zurück
zum Anfang]
Das Migrationsproblem wird durch eine Regionalisierung zwar
nicht automatisch beseitigt, aber doch kleiner und
kontrollierbarer. Eine Koordination der Entwicklung durch eine
reformierte UNO vorausgesetzt, kann Migration in eine
kontrollierte Einwanderung überführt werden. Je nach
Auswirkung der Abwanderung in den verschiedenen EL - also
externer Brain Drain oder Arbeitslosenverminderung - wird die
Immigration in die IL kontingentiert. Die IL können nach wie
vor wirtschaftlichen und kulturellen Nutzen aus der Zuwanderung
ziehen. Hier sei die Frage gestellt, ob es eine humanitäre
Verpflichtung ist, alle Immigranten aufzunehmen, selbst
angesichts drohender Konflikte und deren weiterer Diskriminierung
in den IL. Gibt es so etwas wie eine "Sozialneid-Schmerzgrenze"
der Bevölkerung der IL, und sollte man sie anerkennen oder
auf***alle militärischen und machtpolitischen Aspekte der EL
untereinander ausgeklammert. Viele Fragen bleiben vorerst
unbeantwortet. Wir hoffen aber, daß dieses Papier in seiner
Komprimiertheit (nicht jeder findet Zeit, ein Buch dazu zu lesen)
Euer Interesse an der Materie (wieder) weckt, und sei es nur um
unsere Ansichten zu entkräften. Laßt von Euch hören.
7 Anhang
7.1 Begriffe
[zurück
zum Anfang]
Modernisierungstheorien: Wesentlicher Punkt ist die
Betrachtung der Entwicklung als ein Schema, in dem alle Staaten
dieselben Entwicklungsstufen wie die IL durchlaufen müssen.
Das bedeutet, daß der jetzige westliche Standard der
Maßstab für Entwicklung ist. Unterentwicklung ist ein
frühes Stadium der gesellschaftlichen Entwicklung auf dem
Weg von der Tradition zur Moderne. Die Frage nach der Ursache von
Unterentwicklung wird im Prinzip nicht gestellt, der
Kolonialismus also nicht mit einbezogen. Aus der Kritik hieran
entstanden die Dependencia-Theorien. Faktisch sind aber die
Modernisierungstheorien immer noch die Grundlage heutiger
entwicklungspolitischer Maßnahmen.
Zentrum-Peripherie-Modell: Grundannahme ist eine
hierarchische Struktur der Weltgesellschaft: Das Zentrum bilden
die kapitalistischen IL, die Peripherie die EL. Die autonomen
Wachstumsmöglichkeiten der Peripherie sind aufgrund der
Abhängigkeit vom Zentrum, die auch die Ursache für
Unterentwicklung darstellt, begrenzt. Auch innerhalb einzelner EL
besteht zwischen Ballungsraum und Land eine
Zentrum-Peripherie-Abhängigkeit.
"Endlichkeitstheorie": Viele bürgerliche
Freiheiten in den IL sind nur aufgrund des Wohlstands möglich:
Reisefreiheit, freie Wahl des Wohnortes, aber letztlich auch
politische Freiheiten. Mangelsysteme wiesen immer autoritäre
Züge auf, da nur so der Reichtum der Wenigen geschützt
werden konnte. Die Idee ist nun, daß wegen der globalen
Begrenztheit materiellen Wachstums und Wohlstands im Falle
materieller Entwicklung der EL die IL einen gewissen
Wohlstandsverlust werden hinnehmen müssen. Dieser
Wohlstandsverlust muß auf jeden Fall kontrolliert werden,
soll er nicht in einem anarchistischen Streikchaos enden. Diese
Kontrolle wird faktisch eine Beschränkung der bisherigen
Freiheiten beinhalten. Welche Freiheiten in welchem Maße
davon betroffen sind, wird von der Gesinnung und Phantasie der
politischen Kaste sowie von der Einsicht in globale Zusammenhänge
seitens der Bevölkerung abhängen. Eine wie auch immer
geartete materielle Entwicklung der EL wird diesen eine
politische Liberalisierung ermöglichen. Dies bedeutet aber
nichts anderes, als daß auch die politischen und
bürgerlichen Freiheiten letztlich endlich sind, was nicht
selbstverständlich ist. Da sie an bestimmte Voraussetzungen
und Strukturen gebunden sind, werden sie nicht länger als
unbegrenzte Abstrakta gesehen.
7.2 Die Verschuldungskrise,
Entwicklungshilfe und eine Entwicklungstheorie
(Robert)
[zurück
zum Anfang]
Der vorliegende Beitrag dient der Ergänzung des
Protokolls von Niels. Zum einen werde ich die Essentials meines
Vortrags die Verschuldungskrise betreffend noch einmal kurz
darstellen. Die Abhandlung über Entwicklungshilfe und
-theorie füge ich unserer Diskussion hinzu. Aufgrund meiner
Diplomarbeit stieß ich auf weitere Erkenntnisse, die ich
als höchst interessant einschätze und Euch deshalb
nicht vorenthalten möchte. Dies ist darüber hinaus
ein wichtiger Mechanismus der Arbeitsweise der Creativen
Gruppe/Die 98er: die Fundamente, die auf den Treffen gelegt
werden, sind lediglich Ausgangspunkte und erfordern eine
permanente Diskussion. In schriftlicher Form werden alle
Kritikpunkte etc. den schon existierenden Papern hinzugefügt
und erweitern, verändern und verbessern die Basis. A Die
Verschuldungskrise Im folgenden werden die Fakten und das Ausmaß
der Verschuldung der sogenannten Dritten Welt dargelegt.
Anschließend wird auf die Ursachen eingegangen. A.1 Die
Verschuldung der Entwicklungsländer Die externe Verschuldung
der Entwicklungsländer belief sich 1991 auf 1 300 Milliarden
Dollar. Allein zwischen 1971 und 1987 verzwölfachte sich der
Schuldenberg. Das "brutale" Resultat der immensen
Verschuldung ist ein Nettokapitalzufluß von ca. 250
Milliarden Dollar zwischen 1983 und 1991 aus den ärmsten
Staaten der Welt an die Industrienationen, überwiegend aus
Zinszahlungen resultierend. Das heißt, die
Entwicklungsländer zahlen mehr zurück als sie über
neue Kredite und Entwicklungshilfe von den reichen Staaten
bekommen. Eine verrückte Welt wie Le Monde Diplomatique
meint, die ärmsten zahlen die Entwicklung und das Wachstum
der Reichen. (vgl. Anlage 1) Hinsichtlich der
Verschuldungssituation gibt es unter den Ländergruppen
erhebliche Unterschiede. 1987 entfielen rund 40% der Schulden auf
die Länder Süd- und Mittelamerikas, 17% auf Afrika und
29% auf die Länder Süd- und Südostasiens. Die
Unterschiede zwischen den einzelnen Staaten sind noch erheblich
größer als zwischen den Weltregionen. Brasilien und
Mexiko vereinten 1985 mehr als 20% der Gesamtschulden auf sich.
Zu berücksichtigen sind allerdings nicht nur die absoluten
Zahlen, das relative Verhältnis zwischen Verschuldung und
Bruttosozialprodukt ist entscheidender. Hier liegen meist kleine
Staaten mit absolut zu vernachlässigenden Schulden ganz weit
oben auf der Liste der abhängigen Länder. A.2 Die
Ursachen der Verschuldung Grob vereinfacht kann der
Verschuldungsprozeß wie folgt beschrieben werden. Ende der
60er, Anfang der 70er Jahre bildeten sich mehrere erfolgreiche
Rohstoffkartelle in den Entwicklungsländern, zum einen um
die starken Schwankungen der Rohstoffpreise einzudämmen, zum
anderen um zusätzliche Renten bei den Industrieländern
abzuschöpfen. Das Resultat waren steigende Exporterlöse
und Ansätze einer staatlich finanzierten
Infrastrukturpolitik (Ausbildung, Gesundheitswesen und andere
soziale Einrichtungen) in den Entwicklungsländern. Hinzu
kamen sehr günstige Weltmarktbedingungen für Wachstum
und leichte Geldpolitik, aufgrund der Kriegswirtschaft der USA.
Berühmtestes Kartell war die OPEC. Es waren vor allem die
Zahlungsbilanzüberschüsse der OPEC-Staaten, die auf den
Kapitalmarkt drängten (Euro-Märkte). Da die
Entwicklungsländer auf einmal kreditwürdig erschienen
und es an alternativen Anlagemöglichkeiten mangelte, wurden
seitens der westlichen Banken massive Kredite an jene Ländern
gewährt. Dies ist vor allem an der Zusammensetzung der
Kreditarten deutlich zu sehen. So sank der Anteil öffentlicher
Kredite7 (Entwicklungshilfe- und Exportkredit) von 58% auf 31% in
der Zeit zwischen 1971 und 1985, wohingegen die privaten
Bankkredite von 12% auf über 40% anstiegen. Das Problem der
Bankkredite ist die variable Verzinsung8, die 1972/73 noch bei
8,3% lag. Der Zusammenbruch kam aufgrund wieder fallender
Rohstoffpreise, da die Kartelle nicht hielten, und wegen
zurückgehender Nachfrage, indem die Industriestaaten
Rohstoffe substituierten oder recycleten. Hier zeigt sich ein
weiteres Hauptproblem der Entwicklungsländer. Die meisten
Staaten haben nur 2-3 Rohstoffe, die die einzigen Exportgüter
darstellen und zudem einer hohen Nachfrageelastizität
ausgesetzt sind, d.h. kleine Preisänderungen führen zu
starken Mengenänderungen9. Durch diese Entwicklung fielen
die Exporterlöse. Als dann in der Reagan-ära die USA
versuchten die Abwertung des Dollars zu stoppen, stiegen die
Zinssätze bis auf 17, 4% (1982) um dann 1986 wieder auf 8,6%
zu sinken. Ebenso stagnierte Ende der 70er Jahre das
internationale Wachstum erheblich.
Das war zuviel auf
einmal. Im Jahr 1982 betrugen die Zinszahlungen im Verhältnis
zu den Ausfuhren 179% für Argentinien, 129% für Mexiko
und 122% für Brasilien. Die Länder waren pleite, der
Weltmarkt hatte sie zerstört.
Weitere Ursachen sollen
nur stichwortartig erwähnt werden, da sie z.T. im Protokoll
behandelt werden:
B Kritisches zur Entwicklungshilfe In diesem Abschnitt soll
die Kritik unorthodoxer ökonomen an der herrschenden Lehre
Entwicklung betreffend vorgestellt werden. Wahrscheinlich
leuchten Euch diese Argumente schneller ein als über Jahre
hinweg verblendeten ökonomen. Ich beziehe mich hierbei
besonders auf Arbeiten der "Berliner Schule" auch
Monetärkeynesianer genannt, in deren Mittelpunkt Professor
Riese steht und auf den Einzelkämpfer Professor Stützel,
der schon nicht mehr unter den Lebenden weilt.
Allgemein
wird Unterentwicklung mit Kapitalmangel erklärt. In der
traditionellen Lehre gibt es drei Produktionsfaktoren, Arbeit,
Kapital und Boden, wobei letzterer keine Rolle spielt. Das
Problem so heißt, es läge in dem fehlenden Kapital,
alias einer zu geringen Ersparnis der Entwicklungsländer. Es
existiere eine "Sparlücke", die irgendwie
geschlossen werden müsste. Der traditionelle Vorschlag
lautet, man solle Entwicklungshilfe in Form von verbilligten
Krediten gewähren.
Was ist aber eine "Sparlücke"?
Es heißt einfach, es fehlt Geld, aber wem von uns fehlt das
nicht? Was ist Geld? Es ist ein "Nichts" das zur
Aneignung von "Etwas" verhilft und auf
Gläubiger-Schuldner-Beziehungen beruht. Geld wird von
Zentralbanken geschaffen. Geschäftsbanken verschulden sich
bei der Zentralbank um an Geld zu gelangen und verleihen dieses
dann an Unternehmen weiter. Diese produzieren mittels Kredit,
indem sie Arbeiter und Ressourcen kaufen. Die Eigentümer von
Ressourcen und Arbeitskraft (also die Arbeiter selbst) kaufen mit
dem Geld die Produkte und legen die Ersparnis - so vorhanden -
an. Dadurch sind die Geschäftsbanken nicht mehr nur bei der
Zentralbank, sondern auch bei den Geldeigentümern
verschuldet. Die Unternehmen müssen durch den Verkauf der
Produkte die Kosten und den Zins erwirtschaften. Geld
(Kapital) kann demnach gar nicht fehlen. Die Zentralbank ist
jederzeit in der Lage, Geld zu drucken, sollten die
Geschäftsbanken Kredite an Unternehmen vergeben wollen und
sich bei der Zentralbank verschulden wollen. Darüber hinaus
kommt vor der Ersparnis das Einkommen, alias die Investition.
Diese Erkenntnis stellt die herrschende Auffassung auf den Kopf!
In der traditionellen Lehre braucht man erst Ersparnis, bevor man
investieren kann. Die vorgestellte Funktionsanalyse einer
Geldwirtschaft erfordert Institutionen wie ein zweistufiges
Bankensystem, eine unabhängige Zentralbank und das Vertrauen
in die heimische Währung. Wesentlichster Gesichtspunkt für
den Vermögenseigentümer stellt die Möglichkeit
dar, sein Geld in andere Währungen umtauschen zu können
und das ohne Realwertverluste. Das impliziert, daß die
Aufrechterhaltung des Geldsystems die wichtigste Anforderung
darstellt. Solange ein Geldsystem nicht erodiert ist, kann von
Kapitalmangel keine Rede sein. Damit ist Entwicklungshilfe in
Form von verbilligten Krediten überflüssig. Ein anderer
Aspekt spricht noch viel stärker gegen Entwicklungshilfe.
Die gewährten Kredite dienen den Entwicklungsländern
Produktionsanlagen und andere wertproduktive Güter in den
Industriestaaten zu kaufen. Dies erhöht die Exporte der
Industriestaaten und stellt ein Mittel zur Wahrung von
Leistungsbilanzüberschüssen dar. Spiegelbildlich muß
natürlich ein Leistungsbilanzdefizit entstehen. Dies
geschieht dort, wo zusätzlich zu den Exporterlösen
Kredite aufgenommen wurden, also in den Entwicklungsländern.
Damit sichern die Industriestaaten ihre protektionistische
Unterbewertung, wohingegen die unterentwickelten Staaten
überbewertete Währungen in Kauf nehmen
müssen. Zusammenfassend kann behauptet werden, daß
das Gerede von einem Kapitalmangel der falschen Auffassung der
Funktionslogik des Kapitalismus zuzurechnen ist und traditionelle
Entwicklungshilfe den Industriestaaten nutzt. Entwicklungshilfe
die marktkonform ist, erfordert einen Schuldenverzicht der
reichen Staaten (die Schulden sind längst abgeschrieben,
sprich sozialisiert, die Bürger der westlichen Staaten haben
weniger Steuern von seiten der Banken erhalten), ein Offenhalten
unserer Exportmärkte für Güter aus diesen Ländern,
damit ausreichend Devisen erwirtschaftet werden und last but not
least das Tolerieren von Leistungsbilanzüberschüssen
der Entwicklungsländer, dadurch kann in diesen Ländern
ein interner Investitions-Einkommensmechanismus in Gang gesetzt
werden, der einen Weg aus der Abhängigkeit darstellt. Gegen
Entwicklungshilfe in Form von Experten, solange diese die
Interessen der Entwicklungsländer vertreten, ist natürlich
nichts einzuwenden. C Die Entwicklungstheorie der Berliner Schule
C.1 Eine Geldwirtschaft vs einer Tauschwirtschaft Leben wir in
einer Geldwirtschaft oder einer Tauschwirtschaft, das ist die
paradigmatische Frage, welche die Berliner Schule von fast allen
anderen Theorien unterscheidet. Bekanntlich faßt die
herrschende Lehre Geld als neutral, die Geldmenge als exogen, die
irgendwie von einem Hubschrauber verteilt wird und spricht dem
Geld einzig die Tauschmittelfunktion zu. Das impliziert, die
Güter untereinander haben relative Preise, die durch Geld
normiert werden. Aber Geld spielt eigentlich keine Rolle,
erleichtert eben nur den Tausch, oder wie die ökonomen zu
sagen pflegen, senkt die Transaktionskosten. Der Wechselkurs ist
konsequenterweise ebenfalls neutral. d. h. er dient der
Saldierung von Güterströmen an den jeweiligen Grenzen.
Dominanz, Abhängigkeit und Hierarchie sind den herrschenden
liberalen Theorien völlig fremd, oh wie schön muß
diese Welt sein!
Der Funktionsmechanismus einer
Geldwirtschaft aus monetärkeynesianischer Sicht wurde
bereits im zweiten Kapitel aufgezeigt und entspricht darüber
hinaus der Realität, denn daß Geld vom Hubschrauber
verteil wird habe ich in den letzten 26 Jahren nicht feststellen
können. In der Theorie des Monetärkeynesianismus steht
der Vermögenseigentümer, der Kapitalist, oder genau
genommen sein Kalkül im Mittelpunkt. Das Kalkül
erfordert Realwertsicherheit des Geldvermögens, sonst wird
der Vermögenseigentümer sich weigern, Geldvermögen
zu halten bzw. er flüchtet in Sachvermögen. Im
internationalen Kontext existiert als weitere Möglichkeit
die Flucht in eine andere, sicherere Währung. Diesem Kalkül
hat sich die Zentralbank zu beugen, will sie nicht, daß ihr
Geldsystem erodiert. Deshalb kann sie nicht beliebig Geld
produzieren, sondern nur soviel, daß der Außenwert
der jeweiligen Währung einigermaßen fix bleibt. Fragen
die Geschäftsbanken zum Zwecke der Kreditgewährung Geld
bei der Zentralbank nach, so muß sie mittels ihrer
Zinssatzpolitik den Wert des Geldes konstant halten, sprich zu
starke Inflation vor allem aber Abwertung
verhindern. Kapitalkontrollen bewirken somit langfristig
nichts, da der Vermögenseigentümer nicht gezwungen
werden kann, eine reale Kreditmenge zu halten, er wird in
unproduktives Sachvermögen flüchten, Betongold genannt,
sprich Grundstücke, die nicht bewirtschaftet werden etc..
Das größte Problem der Sicherung des Geldwertes stellt
die Notwendigkeit hoher Zinssätze zur Verhinderung von
Abwertung dar. Diese müssten in Entwicklungsländern
oftmals so hoch sein, daß eine Entwicklungsblockade
unausweichlich bleibt. Damit ist natürlich auch nichts
gewonnen, das macht einmal mehr das Dilemma des Weltmarktes aus.
C.2 Stabilitätsorientierte Unterbewertung und selektive
Protektion Die einzige Weltmarkt kompatible Möglichkeit für
nachholende Entwicklung, die die Berliner Schule sieht, besteht
aus einer Kombination der im Titel genannten Instrumente.
Aufgrund der Unterbewertunggsstrategie ist sofort einsichtig, daß
es sich hierbei um kein Patentrezept für alle
Entwicklungsländer handeln kann. Unterbewertete Währungen
werden an Leistungsbilanzüberschüssen festgemacht, d.
h. eine Währung ist dann unterbewertet, wenn aufgrund der
Wechselkursrelationen mehr exportiert als importiert wird. Da
spiegelbildlich zu Leistungsbilanzüberschüsse
Leistungsbilanzdefizite in anderen Ländern erzeugt werden,
ist der Erfolg des einen Währungsraum allemal die
Katastrophe anderer. Der Weltmarkt ist nun mal ein
Nullsummenspiel.
Die Anforderungen an eine stabile
Währung sind oben genannt worden, ebenso die Gründe für
Stabilität. Warum aber muß eine Währung
unterbewertet sein?10 Die Erklärung ist so trivial wie
einfach: es ist eben dominanter Gläubiger im internationalen
Kontext zu sein als Schuldner. Wie schon dargelegt wurde
dominiert beim Vermögenseigentümer das Kalkül aus
einer Währung realwertgesichert "herauszukommen".
Handelt es sich nun um eine Schuldnerwährung11, die
permanent über Exporteinnahmen den Schuldendienst zu leisten
hat, so ist die Gefahr der fehlenden Devisenreserven relativ groß
bzw. der notwendigen Abwertung. Also schaut der auf
Vermögenssicherung fixierte Vermögenseigentümer
auf die Schuldner-/Gläubigerposition im internationalen
Kontext. Da die Gefahr der Illiquidität mit hohen Zinsen zu
bezahlen ist, zeichnen sich die Entwicklungsländer durch
niedrige Reallöhne und hohe Realzinsen aus. Die Strategie
der Unterbewertung erlaubt nun eine Verbesserung der
Schuldnerposition oder einen Aufbau einer Gläubigerposition
und dadurch sinkende Zinssätze, da die Unsicherheit geringer
wird. Niedrigere Zinssätze wirken wiederum stimulierend auf
das Aktivitätsniveau der heimischen Wirtschaft und erlauben
Reallohnsteigerungen. Damit ist die erste Bedingung für
Entwicklung genannt, die Währung muß unterbewertet
sein, um Leistungsbilanzüberschüsse zu generieren und
langfristig eine höhere Vermögenssicherungsqualität
der Währung ermöglichen12. Die Unterbewertung zusammen
mit niedrigen Reallöhnen stellen die absoluten Vorteile13 im
Weltmarkt dar14. Absolute Vorteile wirken auf das
Wettbewerbsniveau, ermöglichen ein anfängliches
Wachstum, induzieren aber keinen Strukturwandel, sondern
schreiben die periphere Situation der unterentwickelten Staaten
fest. Das heißt nur aufgrund der niedrigen Reallöhne
wird sich Industrie ansiedeln, die aber nicht in der Lage sein
wird höhere Löhne zu zahlen. Für die
Wettbewerbsstruktur sind die komparativen Vorteile
verantwortlich, die über selektive Protektion sichergestellt
werden können. Hört ihr sie schon schreien, die
Liberalen? Dabei haben sie überhaupt keinen Grund dazu, denn
jedes Land muß, um im Weltmark überleben zu können
in irgendeiner Weise komparative Vorteile erzeugen. Wie machen
dies die Industriestaaten? Sie subventionieren die Forschung,
bauen Universitäten, um ein höheres Humankapital zu
bilden, das den Unternehmen dann "kostenlos" überlassen
wird, sie fördern die Infrastruktur etc. etc.. Doch wie
können die armen Staaten komparative Vorteile sichern, wenn
nicht über Zölle. Zusammenfassend kann
Unterbewertung als notwendige und selektive Protektion als
hinreichende Bedingung für Entwicklung bezeichnet werden.
Die selektive Protektion steht der von Friedrich List15 im
letzten Jahthundert vorgeschlagenen Erziehungszollidee nahe. Für
Güter die aus der Produktion hervorgehen, die hohes
Fixkapital, hohen Lernaufwand und hohe Aufbaukosten erfordern,
sind Zölle zu erheben. Die Zölle sollen nach
Wertproduktivität gestaffelt sein und unabhängig von
der Produktionsstufe oder der Verwendung erhoben werden16. Die
selektive Protektion dient damit der Diversifizierung der
ökonomie, schafft eine Verbindung zwischen
Binnenmarktentwicklung und Exportsektor und verbessert die
Elastizitätsbedingungen für die Exportgüter auf
dem Weltmarkt. Zum einen kann die selektive Protektion bei
Induzierung eines selbsttragenden Aufschwungs abgebaut werden,
oder aber dauerhafte komparative Vorteile sichern.
Die
Wirtschaftsgeschichte liefert massig Beispiele für
erfolgreiche Entwicklung mittels Protektion, Kontinentaleuropa im
19. Jahrhundert, Japan im 20. Jahrhundert und auch Taiwan und
Südkorea in jüngster Zeit. C.3 Gedanken zum
Weltmarktzusammenhang Da niemals alle Länder gleichzeitig
Nettogläubiger sein können, der Aufstieg des einen
Landes den Abstieg eines anderen bedingt oder noch mehr
Abhängigkeit für schon am unteren Ende siechende
Staaten bedeutet, wird Dominanz, Hierarchie und Abhängigkeit
nicht aus einer kapitalistischen Wirtschaft verschwinden. Die
einzige Hoffnung, die uns bleibt, ist die Tatsache, daß
aufgrund falschen Verhaltens ehemalige Nettogläubigerländer
absteigen können und somit Platz machen werden für die
Dominanz anderer. Holland im 17./18. Jahrhundert, England bis zum
ersten Weltkrieg und bis zum Ende des 20. Jahrhunderts noch die
USA, danach Japan oder China. Es können andere sein, die
dominieren, an der Funktionslogik des Weltmarktes wird sich
dadurch nichts ändern.
Saarbrücken, den 21.
November 1993
Literaturverzeichnis
Abschnitt A
Sander, Paul und Sommer, Michael (1992), Banken, Kredite
und die "Dritte Welt". Band 1: Verschuldung als moderne
Form der Ausplünderung. Schmetterling Verlag,
Stuttgart.
Kaiser, Martin und Wagner, Norbert (1988),
Entwicklungspolitik. Grundlagen - Probleme - Aufgaben.
Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung.
Bonn, Bd. 239.
Opitz, Peter J. (Hrsg.) (1990),
Weltprobleme. Bundeszentrale für politische Bildung,
München.
Abschnitt B
Stützel, Wolfgang
(1978), Volkswirtschaftliche Saldenmechanik. J. C. B. Mohr (Paul
Siebeck), Tübingen.
Herr, Hansjörg (1992), Geld,
Währungswettbewerb und Währungssysteme: theoretische
und historische Analyse der internationalen Geldwirtschaft.
Campus Verlag, Frankfurt/New York.
Lüken genannt
Klaßen, Mathilde (1993), Währungskonkurrenz und
Protektion. Peripherisierung und ihre überwindung aus
geldwirtschaftlicher Sicht. (Studien zur monetären ökonomie,
Bd. 12). Metropolis Verlag, Marburg.
Abschnitt C
Lüken
genannt Klaßen, Mathilde (1993), Währungskonkurrenz
und Protektion. Peripherisierung und ihre überwindung aus
geldwirtschaftlicher Sicht. (Studien zur monetären ökonomie,
Bd. 12). Metropolis Verlag, Marburg.
Lüken-Klaßen,
Mathilde und Betz, Karl (1989). Weltmarkt und Abhängigkeit.
In: Riese, Hajo und Spahn, Heinz-Peter (Hrsg.), Internationale
Geldpolitik. (Studien zur monetären ökonomie, Bd. 2).
Transfer-Verlag, Regensburg, S. 217-265.
Anmerkungen
- 1siehe Anhang
- 2siehe Anhang
- 3International Labour Organisation, gegr. 1919, seit 1946
Zusammenarbeit mit der UNO
- 4UN- Conference on Trade and Development, III 1973 in
Santiago de Chile, IV 1976 in Nairobi)
- 5siehe Anhang
- 6Non-Governmental Organisations, sog. Nichtstaatliche
Organisationen (z.B. Amnesty International, Greenpeace).
- 7Unter öffentlichen Krediten werden von Staaten und
internationalen Organisationen gewährte Kredite verstanden,
meist zinsverbilligt.
- 8Variable Verzinsung bedeutet, daß die
Kreditkonditionen normalerweise alle drei Monate den Marktzinsen
angepasst werden.
- 9Eine geringe Elastizität weisen im Normalfall die
wertproduktiveren Güter auf. Z. B. fällt die Nachfrage
nach einem Mercedes bei steigenden Kosten nicht so stark wie
etwa nach Rohstoffen, da das Produkt diversifizierter und
schwerer zu substituieren ist.
- 10In der herrschenden Theorie stellt Unterbewertung eine
nicht-rationale Strategie dar, da Wohlfahrtsgewinne verschenkt
werden. So einfach ist der Weltmarkt eben nicht, wie ihr im
folgenden sehen werdet.
- 11Nur im Fall der Leitwährung (z. Z. der US-Dollar)
sieht die Situation anders aus. Das Leitwährungsland kann
sich in eigener Währung verschulden wegen seiner
herausgehobenen Stellung in der Währungshierarchie. Die
Leitwährung stellt mit ihrem Geld die internationale
Liquidität dar. Natürlich ist eine permanent
zunehmende Verschuldung der Leitwährung langfristig nicht
mit der Funktionsanforderung der Leitwährung vereinbar und
es wird zu einem Wechsel kommen. In der übergangszeit
existiert ein Multiwährungsstandard, das impliziert, daß
es keine eindeutige Leitwährung gibt und jede potentielle
versuchen wird über Leistungsbilanzüberschüsse
die Leitwährungsposition an sich zu reißen.
Konsequenz sind international steigende Zinsen und
möglicherweise eine lang anhaltende Rezession.
- 12Da permanente Abwertungen die Vermögenssicherung der
Währung aushöhlen, muß die induzierende
Abwertung durch die inländischen Institutionen (Staat,
Gewerkschaften etc.) gehalten werden, das erfordert einen
Verzicht auf zu starke Lohnsteigerungen und zu expansive
Budgetpolitik. Wenn diese Gegebenheiten nicht gewährleistet
sind, ist die Strategie nicht erfolgreich. Das impliziert wieder
einmal, daß nur gewisse Länder überhaupt in der
Lage sein werden die Strategie erfolgreich zu realisieren.
- 13Hier ist wieder einmal auf einen Unterschied zur
herrschenden Lehre hinzuweisen. Die herrschende Lehre spricht
bei Reallohndifferentialen von komparativen Vorteilen. Das ist
logisch falsch. Ebenso stellte Ricardo seine Theorie der
komparativen Vorteile bei internationalem Handel unter der
Annahme gleicher Reallöhne in England und Portugal auf!
- 14Genau genommen handelt es sich bei den
Reallohndifferentialen natürlich um Nachteile, die
eindeutiger Ausdruck der Unterentwicklung sind.
- 15Friedrich List, ein deutscher ökonom stritt damals
mit Ricardo, einem englischen ökonom. Ricardo, die
Interessen der am weitest entwickelten ökonomie vertretend,
plädierte selbstverständlich für Freihandel. List
sah das aus der Perspektive des unterentwickelten Deutschlands
anders.
- 16Selbst die BRD wandte in der Zahlungsbilanzkrise 1950/51
eine solche Zollstruktur an. Demnach waren z. B. Rohstoffe wie
Erze, Schrott, Kohle und elektrischer Strom zollfrei, Roheisen
und ähnliche Vorprodukte wurden mit 12% Zoll belegt,
Universaleisen (18%), Nägel (20%), Schrauben (25%),
Elektrobleche (28%) und schließlich Kraftfahrzeuge (35%).
|