die creative gruppe

das dritte-welt-problem
Februar 1993, ausgedruckt 20 Seiten

  1. Einleitung
  2. Zur Geschichte des Kolonialismus
  3. Zum Entwicklungsbegriff
  4. Der Status Quo 1993
  5. Komponenten einer neuen Entwicklungspolitik
  6. 7 Anhang


Dabei waren:

Niels Boeing, Markus "Moschess" Hacker, Richard "Ritschi" von Heusinger, Robert von Heusinger, Ruprecht von Heusinger, Frank Müller, Martina Pauly, Oliver Peltzer




1 Einleitung

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Warum diskutieren wir ein Wochenende über dieses Thema, über das schon so viel geschrieben wurde? Lest die Bücher und fangt endlich an, mögt Ihr sagen. Zwei Tatsachen sprechen jedoch dafür, die dinge erneut zu durchdenken: Zum einen sind seit dem 1. Bericht des Club of Rome gut 20 Jahre ohne spürbare Erfolge verstrichen, die Lage hat sich noch verschlechtert. Zum andern könnte jetzt zum ersten Mal Entwicklungspolitik ohne die Zwänge des Ost-West-Konflikts stattfinden. Stattdessen wächst sich der Nord-Süd-Gegensatz zu einem viel unberechenbareren Nachfolger aus.
Warum passiert nichts? Sind vielleicht ganz neue Konzepte nötig? Aber sind sie auch möglich?

2 Zur Geschichte des Kolonialismus

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Der Begriff "Dritte Welt" verschleiert die Eigenarten und die unterschiedlichen Probleme der jeweiligen Regionen, die aus unterschiedlichen Vor- und Kolonialgeschichten resultieren. Im Anhang findet ihr eine knappe tabellarische Zusammenfassung desssen, nach Regionen geordnet.
Zwei Dinge fallen bei näherer Betrachtung auf:
1. Unterschiede zwischen den kolonisierten Regionen:
In Lateinamerika wurden die alten Kulturen nahezu vollständig zerstört, so daß die Kolonialgesellschaften keine Kontinuität zu den alten hatten, sondern große Gemeinsamkeiten mit den ehemaligen Strukturen der Kolonialmächte Spanien und Portugal aufwiesen.
In Indien und Tropisch-Afrika war die Identität aufgrund kultureller und politischer Zersplitterung zu schwach, um sofort starken Widerstand zu mobilisieren. Im Nahen Osten sowie in Südost- und Ostasien war die kulturelle Identität hingegen so stark, daß entweder früh starker Widerstand losbrach oder die Europäer von vorneherein auf eine Kolonialherrschaft verzichteten und sich auf wirtschaftliche Kontrolle beschränkten (China, Japan, Thailand, Korea). Dies scheint immerhin ein wenig die Tatsache zu erhellen, daß Lateinamerika und Tropisch-Afrika im Gegensatz zum Fernen Osten nicht auf die Beine kommen.
2. Im Falle Nord- und Lateinamerikas läßt sich erkennen, daß die unterschiedlichen Gesellschaftsstrukturen der Kolonialmächte verschiedene Entwicklungsvoraussetzungen schaffen. Der Norden (Frankreich, Großbritannien): überwiegend protestantisch, individualistisch, kapitalistisch mit gleichmäßiger Landverteilung. Der Süden (Spanien, Portugal): katholisch, feudal, agrarisch; Landverteilung in Form von Haziendas und Encomiendas (führen zu parasitärer Oberschicht in den Städten).

3 Zum Entwicklungsbegriff

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Die Modernisierungstheorie1 hat noch immer viele Anhänger, leider auch in den Entwicklungsländern (EL) selbst. Zwei Gründe sprechen dafür, Entwicklung nicht mehr in diesem Sinne zu definieren:
1. Die ganze Welt auf den Standard der jetzigen Industrieländer (IL) zu bringen, würde die globale ökologie definitiv ruinieren (abgesehen davon reichen die Metallvorkommen auf der Erde nicht aus, um alle Haushalte der Welt mit Auto, Kühlschrank, Fernseher etc. zu versorgen).
2. Alle Staaten dieser Welt mit demselben Standard und auf der Jagd nach größtmöglichem Wirtschaftswachstum würden sich einen mörderischen Konkurrenzkampf auf dem Weltmarkt liefern. Dies kann zynischerweise gar nicht im Interesse der IL seink, so daß man sich fragen kann, ob sie es mit der Entwicklungspolitik je ernst gemeint haben.
Entwicklung bedeutete bisher Industrialisierung, Konzentration und Rationalisierung, übergang von kleineren zu größeren Einheiten. Politische und materielle Freiheit wurden als voneinander unabhängig gesehen. Diese Trennung läßt sich aber nicht einmal bei einem modifizierten Entwicklungsbegriff aufrechterhalten. Entwicklung der EL kann wahrscheinlich nur im Sinne der "Endlichkeitstheorie"2 stattfinden, d.h. mit einer gewissen Einschränkung politischer Freiheiten in den IL (der Begriff stammt von mir, die Idee hingegen dürfte schon viele Vorläufer haben). Wie ist diese Einschränkung mit den westlichen Grundwerten vereinbar, und wie ist sie im Westen durchführbar? Man darf vorerst bezweifeln, daß sich der Westen zu dieser Einsicht durchringen kann. Wahrscheinlich bedarf es der Autorität einer reformierten UNO.

Wir haben uns auf folgenden Entwicklungsbegriff geeinigt. Entwicklung beinhaltet demnach:
1. als Minimalforderung die Befriedigung der Grundbedürfnisse, wie sie von der ILO3 definiert wurden:
- elementare Voraussetzungen für das physische Wohlergehen,
- vier "qualitative" Voraussetzungen: Arbeit, gesunde Umwelt, politische Partizipation und Freiheit.
Die Auslegung der beiden letzten ist jedoch nicht unabhängig von Religion oder Ideologie einer Kultur.
2. Die Schaffung von Strukturen in einem Land, die die langfristige, selbständige Befriedigung dieser Grundbedürfnisse sichert.

4 Der Status Quo 1993

4.1 Wirtschaftlich

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Drückendstes Problem ist zur Zeit die Verschuldungskrise (vgl. Beitrag von Robert im Anhang). Die Verschuldung der EL begann in den 60er Jahren mit der Kreditaufnahme zur Finanzierung des industriellen Aufbaus (auf der Linie der Modernisierungstheorie). Nach der 1. ölkrise 1973/74 mußten die EL ohne eigene ölvorkommen Kredite aufnehmen, um die lebenswichtigen ölimporte bezahlen zu können. Die 2. ölkrise 1979/80 und der Verfall der Rohstoffpreise lösten eine neue Kreditaufnahmewelle aus, mit der der Teufelskreis aus Zinszahlung, Umschuldung und Neuverschuldung einsetzte. Seitdem ist ein Nettokapitalfluß aus den EL in die IL zu verzeichnen. Neben diesen externen Verschuldungsgründen kommen interne hinzu, wie etwa die Finanzierung von Prestigeobjekten, die entwicklungspolitisch sinnlos sind. Aufgrund mangelnder Diversifikation sind die meisten EL nach wie vor von den Rohstoffpreisen abhängig. Wo Diversifikation vorhanden ist, liegt aber eine totale Abhängigkeit von den multinationalen Konzernen vor. Das Engagement der Multis bringt nicht unbedingt Vorteile für die EL mit sich, da die entstehende dualistische Wirtschaftsstruktur aus Hi-Tech und traditioneller Landwirtschaft die Landflucht fördert: Ein Multi-Arbeitsplatz zieht zwei oder mehr Bewerber vom Land ab. Andererseits entfällt weniger als 1 % der Multi-Engagements auf die 36 ärmsten EL. Damit die IL in den Metropolen ihre Luxusgüter besser absetzen können (womit die Eliten der EL die Stadtbevölkerung ruhighalten), sind die Währungen der EL oft überbewertet. Dies wiederum verschlechtert die Exporterlöse der EL, die aufgrund der zu niedrigen Rohstoffpreise ohnehin nicht riesig sind, so daß ein Leistungsbilanzdefizit entsteht. Die Folge ist ein Zwang zu weiterer Verschuldung. Mit einer Unterbewertung könnten sich die EL durch die entstehenden Leistungsbilanzüberschüsse allmählich entschulden (marktmäßgie Entschuldung), was die IL jedoch zu verhindern versuchen.
Ein weiteres Problem ist die Kapitalflucht, da die Eliten ihr Kapital lieber in Ländern mit stabilen Währungen zur Werterhaltung aufbewahren. Verhindern könnte man dies nur mit Kapitalverkehrskontrollen nach einer internationalen Aufhebung des Bankgeheimnisses. Ein ethisches Argument für diesen Schritt wäre, daß ein Anteil am Volksvermögen Verpflichtungen beinhaltet, denen man sich nicht entziehen darf (abweichend davon der monetärkeynesianische Ansatz bei Robert). Auf der UNCTAD III und IV4 haben die EL ein Programm für eine Neue Weltwirtschaftsordnung vorgelegt, das folgende Kernpunkte enthält:

    Umstrukturierung des IWF, der jetzt von den G7-Staaten beherrscht wird.

  1. Entschuldung.
  2. Preisindexierung: Rohstoffpreise (als Hauptexportgüter) werden an Importgüterpreise gekoppelt.
  3. Verwirklichung der Ziele der UNO.

Die IL lehnten dieses Programm wegen marktfeindlichen Dirigismusses und Bürokratie ab. Die Handelsbeziehungen der EL untereinander (Süd-Süd-Handel) sind nach wie vor marginal im Vergleich zum Nord-Süd-Handel, während ein ausgeprägter Nord-Nord-Handel stattfindet.

4.2 Politisch

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In der UNO sind die EL nicht gleichberechtigt. Alle wichtigen Entscheidungen der UNO, ihrer Nebenorganisationen und der Ausschüsse müssen vom Sicherheitsrat abgesegnet werden, wobei alle 5 ständigen Mitglieder zustimmen müssen. Gegen den Willen der IL können keine Reformen oder Aktionen durchgeführt werden.
Die wichtigsten Organisationen der EL umfassen folgende:

  • SELA (Sistema Económico Latinoamericano), lateinamerikanische Organisation, 1975 mit Kuba und ohne die USA gegründet, als Reaktion auf die Dominanz der USA in der OAS (Organisation amerikanischer Staaten), um gemeinsame Positionen Lateinamerikas gegenüber den IL auszuarbeiten.
  • Gruppe der 8, gegründet 1987, um Brasilien, Argentinien, Peru und Uruguay erweiterte Contadora-Gruppe (Kolumbien, Mexiko, Panama und Venezuela), zunächst zur Konfliktregelung in Lateinamerika gedacht, auch zur Stärkung der Kooperation und des interregionalen Handels.
  • OAU (Organisation für afrikanische Einheit), gegründet 1963, darunter zwei Gruppen: 1. Die Casablanca-Gruppe (sozialistisch, "progressistisch"), die sich für einen afrikanischen Bundesstaat einsetzt, ggf. mit änderung der Kolonialgrenzen und 2. die gemäßigte Monrovia/Brazzaville-Gruppe.
  • CEAO (Communauté de l'Afrique de l'Ouest), gegründet 1974, westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft.
  • ASEAN (Association of South-East Asian Nations), gegründet 1967, südostasiatische Wirtschaftsgemeinschaft (Malaysia, Thailand, Singapur, Brunei, Philippinen, Indonesien, seit 1995 auch Vietnam).
  • Gruppe der 77. Das Zentrum-Peripherie-Modell5 weist darauf hin, daß die Machteliten der EL zum Teil dieselben Interessen verfolgen wie die Eliten der IL. Auch dies verhindert eine wirkungsvolle Entwicklungspolitik, die sich an den Bedürfnissen der Bevölkerung orientiert.

4.3 Globalpolitisch

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Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts ist der politische Anreiz für Entwicklungshilfe weggefallen, ein EL ins eigene Lager zu ziehen. Als neues Motiv zeichnet sich ein Art "Containment" gegen Migrationsströme aus den EL ab. Derzeit ist die Vergabe von Entwicklungshilfe an wirtschaftliche Kriterien sowie an die Einhaltung der Menschenrechte gebunden. Die EL sehen sich aber mit einer Verlagerung der Hilfe nach Osteuropa konfrontiert, da der dortige Umbruch Westeuropa direkt betrifft.

4.4 Strukturprobleme der EL

Als solche sind zu nennen:
- Anhaltend hohes Bevölkerungswachstum: Die EL befinden sich in der sogenannten Bevölkerungsfalle: Wachstum und Anstieg des Wohlstandes führen zu einem Bevölkerungsanstieg, der das Wachstum wieder aufzehrt. Alle sind sich darin einig, daß ein Sozialversorgungssystem die Grundbedingung ist, um den Kinderreichtum zu reduzieren. Die Frage ist allerdings, ob Katastrophen bis zu einer Stabilisierung der Bevölkerungszahl selbst bei einer ernsthaften, neuen Entwicklungspolitik vermieden werden können. Bis ein Sozialversorgungssystem einmal greifen wird, bleibt die Spannung zwischen Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum bestehen.
- Landflucht, vor allem der Altersschicht 16 - 25, die magisch von den Metropolen angezogen wird und oft kulturell schon entwurzelt ist, ausgelöst durch die oben (4.1) beschriebene dualistische Wirtschaftsstruktur.
- Analphabetentum und unzureichende Ausbildung: Da die Ausbildung in den meisten EL vom materiellen Einkommen der Eltern abhängig ist, in der Landwirtschaft aber auch Kinder als Arbeitskräfte benötigt werden, ist die Quote der Schulabbrecher nach der Primary School entsprechend hoch: Lateinamerika 60 %, Afrika 54 %, Asien 20 %. Solange die Einkommensmöglichkeiten extrem ungleich verteilt sind, nützt selbst eine Gleichheit der Ausbildungsmöglichkeiten nichts (so sie überhaupt besteht).
- "Brain Drain": a) extern: Ausbildung im Ausland ohne Rückkehr; Abwanderung der Gutausgebildeten ins Ausland, verständlicherweise: die Arbeitslosigkeit unter Akademikern beträgt z.B. in Indien 40 %, in Bangladesh 47 %; b) intern: Ausbildung im Inland, aber Konzentration auf Forschung und Prestigeobjekte, nicht auf praktische, kreative Arbeit; außerdem werden Arbeitsplätze überqualifiziert besetzt, da Absolventen höherer Schulen Primary-School- Absolventen vorgezogen werden.

4.5 Migration

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Migration (im weiteren Sinne) findet hauptsächlich zwischen den EL statt in Form von Flüchtlingsströmen aus Kriegs-, Bürgerkriegs- und Katastrophengebieten. Zahlenmäßig nimmt sich die Migration in die IL eher gering aus. Doch wandern hierbei meist gutausgebildete Arbeitskräfte ab, die in den IL unterqualifiziert arbeiten (wie z.B. koreanische Akademiker, die in den USA Gemüseläden aufmachen).

4.6 Energieversorgung

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Die ölkrisen haben gezeigt, wie abhängig die EL vom öl sind. Beseitigung dieser ölabhängigkeit wird von einigen für die erste Bedingung für Entwicklung gehalten, kann aber nur eine notwendige Bedingung unter mehreren sein. Das Beispiel Nigeria zeigt, daß eigene ölvorkommen allein einen desolaten Staat nicht verhindern, wenn dieser wie hier von ethnischen Konflikten geschüttelt wird. In den EL sind die Voraussetzungen für eine wirksame Umstrukturierung der Energieversorgung, etwa zur Solartechnik hin, noch besser als in den IL. Wie in diesen ist es jedoch ein wirtschaftlich-technologisches Problem, kein technologisches. (Anmerkung: Z.B. auf Java hat man in einem Modellversuch in einem Dorf alle Häuser mit Solarzellen und Speichern ausgestattet. Nicht nur daß die Energieversorgung funktioniert - Akzeptanz sowie Handhabung und Wartung durch die Einwohner sind unerwartet gut.)

5 Komponenten einer neuen Entwicklungspolitik

Eine Alternative zum freien Weltmarkt und zum Erreichen westlichen Standards als Entwicklungsziel könnte eine Regionalisierung der Dritten Welt sein, die mit einer Entschuldung und einer Reform der UNO einhergeht.

5.1 Regionenbildung

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Es sollte prinzipiell möglich sein, in kleinen marktwirtschaftlichen, aber relativ abgeschotteten Räumen einen höheren Standard als den jetzigen in den IL zu erreichen, aber einen der jeweiligen Kultur der Region angemessenen ohne den Zwang, den Westen zu kopieren. Diese Regionen sollen sich am Ende mit allen Grundgütern selbst versorgen können (self reliance). Sie böten den Vorteil einer überschaubaren und nicht überstürzten Entwicklung, die ein freier Weltmarkt nicht zulassen würde. Eine solche Dezentralisierung der Weltwirtschaft würde zudem den nötigen ökologischen Umbau fördern, der ein viel zu komplexes Problem darstellt, als daß es mit einem großen Plan gelöst werden könnte.
Ein Problem solcher Self-reliance-Regionen wären jedoch unquantifizierbare Benefits, also etwa die Anziehungskräfte eines als höher empfundenen Standards einer benachbarten Region. Außerdem wäre ein Handelgleichgewicht zwischen den Regionen sinnvoll. Die Verteilung der Handelsgewinne ist aber schwer kontrollierbar, wenn z.B. Kaffee gegen Hi-Tech-Produkte aufgerechnet wird.
Ansätze von Regionenbildung in den EL sind durchaus vorhanden (s. 4.2), gerade in letzter Zeit auch als Antwort auf den aufkommenden Protektionismus der IL, wenn auch eher als Trotzreaktion denn als Strategie. So plant die ASEAN bereits die Erweiterung um Burma, Laos, Kambodscha und Vietnam und die Schaffung eines Binnenmarktes in den nächsten 5 - 10 Jahren.

Wie könnte eine Regionalisierung der EL von Seiten der IL in Gang gesetzt werden, vorausgesetzt die IL hätten sich zu diesem Konzept durchgerungen? Eine drastische Reduzierung des Rohstoffverbrauchs durch hohe Rohstoffbesteuerung in den IL führt dort einerseits zu verstärktem Recycling, andererseits in den EL zur Notwendigkeit, zu diversifizieren und vor allem den Süd-Süd-Handel in Gang zu bringen. Bestehende Regionen intensivieren sich und neue entstehen. Dies muß allerdings mit einer koordinierten Entwicklungshilfe der IL und nach einer Entschuldung vor sich gehen. Diese Zahlungen werden mit einem Zeitlimit von 20 - 30 Jahren verbunden (im Sinne einer Rückzahlung der "50-Billionen-$-Schuld"), an deren Ende eine Autarkie bei den Grundbedürfnissen erreicht sein soll. In dieser Zeit stellen die Regionen eigene Strukturpläne auf und geben an, in welcher Form sie die Hilfe beziehen wollen.
Nach Ablauf der Zeit wird die Hilfe eingestellt. Damit sollen die Machteliten unter Druck gesetzt werden, die Erstellung der Strukturpläne auch wirklich voranzutreiben. Weiterer Druck auf die Eliten wird durch Unterstützung der jeweiligen NGOs6 und der Intelligenzia ausgeübt. Die Hilfen werden im wesentlichen direkt an schon bestehende regionale Organisationen gegeben, um einer Zweckentfremdung durch die Eliten so weit wie möglich vorzubeugen. Wichtig ist, in der polaren Gesellschaftsstruktur der EL eine Mitte aufzubauen, die nicht auf Bereicherung aus ist.

5.2 Entschuldung

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Eine Entschuldung muß mit einer Neuorganisation des IWF einhergehen. Der jetzige IWF verfolgt eine für die IL günstige Entwicklungspolitik, im wesentlichen bei der Rohstoffgewinnung. Das überbevölkerungs- und Migrationsproblem scheint derzeit kein Entscheidungskriterium für den IWF zu sein.
Ein vollständiger Schuldenerlaß im gegenwärtigen System ist problematisch, da die EL zunächst wieder kreditwürdig wären und eine erneute Schuldenkrise wahrscheinlich. Eine Schuldenreduktion ist aber unerläßlich, um wenigstens den Nettokapitalfluß aus den EL zu stoppen.

5.3 Reform der UNO

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Eine reformierte UNO kann die Kontrollinstanz dieses konzertierten Entwicklungsprozesses sein. Bisher fußt die UNO auf dem westlichen Wertesystem. Ein Konsens aller Weltkulturen hinsichtlich gemeinsamer Grundwerte, der nicht vom Westen diktiert ist, scheint allerdings schwer formulierbar.
Die reformierte UNO muß möglicherweise ohne ein Grundwertesystem auskommen, das sich erst im Laufe von Jahrzehnten entwickeln kann, und sich auf Kontroll- und Schlichtungsfunktionen beschränken. Das Einstimmigkeitsprinzip im Sicherheitsrat sowie die westlichen Vetorechte, die bisher nur die Vorherrschaft des Westens zementiert haben, werden abgeschafft und durch eine qualifizierte Mehrheit (2/3) ersetzt.

5.4 Kontrolle der Migration

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Das Migrationsproblem wird durch eine Regionalisierung zwar nicht automatisch beseitigt, aber doch kleiner und kontrollierbarer. Eine Koordination der Entwicklung durch eine reformierte UNO vorausgesetzt, kann Migration in eine kontrollierte Einwanderung überführt werden. Je nach Auswirkung der Abwanderung in den verschiedenen EL - also externer Brain Drain oder Arbeitslosenverminderung - wird die Immigration in die IL kontingentiert. Die IL können nach wie vor wirtschaftlichen und kulturellen Nutzen aus der Zuwanderung ziehen.
Hier sei die Frage gestellt, ob es eine humanitäre Verpflichtung ist, alle Immigranten aufzunehmen, selbst angesichts drohender Konflikte und deren weiterer Diskriminierung in den IL. Gibt es so etwas wie eine "Sozialneid-Schmerzgrenze" der Bevölkerung der IL, und sollte man sie anerkennen oder auf***alle militärischen und machtpolitischen Aspekte der EL untereinander ausgeklammert. Viele Fragen bleiben vorerst unbeantwortet. Wir hoffen aber, daß dieses Papier in seiner Komprimiertheit (nicht jeder findet Zeit, ein Buch dazu zu lesen) Euer Interesse an der Materie (wieder) weckt, und sei es nur um unsere Ansichten zu entkräften. Laßt von Euch hören.




7 Anhang

7.1 Begriffe

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Modernisierungstheorien:
Wesentlicher Punkt ist die Betrachtung der Entwicklung als ein Schema, in dem alle Staaten dieselben Entwicklungsstufen wie die IL durchlaufen müssen. Das bedeutet, daß der jetzige westliche Standard der Maßstab für Entwicklung ist. Unterentwicklung ist ein frühes Stadium der gesellschaftlichen Entwicklung auf dem Weg von der Tradition zur Moderne. Die Frage nach der Ursache von Unterentwicklung wird im Prinzip nicht gestellt, der Kolonialismus also nicht mit einbezogen. Aus der Kritik hieran entstanden die Dependencia-Theorien. Faktisch sind aber die Modernisierungstheorien immer noch die Grundlage heutiger entwicklungspolitischer Maßnahmen.

Zentrum-Peripherie-Modell:
Grundannahme ist eine hierarchische Struktur der Weltgesellschaft: Das Zentrum bilden die kapitalistischen IL, die Peripherie die EL. Die autonomen Wachstumsmöglichkeiten der Peripherie sind aufgrund der Abhängigkeit vom Zentrum, die auch die Ursache für Unterentwicklung darstellt, begrenzt. Auch innerhalb einzelner EL besteht zwischen Ballungsraum und Land eine Zentrum-Peripherie-Abhängigkeit.

"Endlichkeitstheorie":
Viele bürgerliche Freiheiten in den IL sind nur aufgrund des Wohlstands möglich: Reisefreiheit, freie Wahl des Wohnortes, aber letztlich auch politische Freiheiten. Mangelsysteme wiesen immer autoritäre Züge auf, da nur so der Reichtum der Wenigen geschützt werden konnte. Die Idee ist nun, daß wegen der globalen Begrenztheit materiellen Wachstums und Wohlstands im Falle materieller Entwicklung der EL die IL einen gewissen Wohlstandsverlust werden hinnehmen müssen. Dieser Wohlstandsverlust muß auf jeden Fall kontrolliert werden, soll er nicht in einem anarchistischen Streikchaos enden. Diese Kontrolle wird faktisch eine Beschränkung der bisherigen Freiheiten beinhalten. Welche Freiheiten in welchem Maße davon betroffen sind, wird von der Gesinnung und Phantasie der politischen Kaste sowie von der Einsicht in globale Zusammenhänge seitens der Bevölkerung abhängen. Eine wie auch immer geartete materielle Entwicklung der EL wird diesen eine politische Liberalisierung ermöglichen. Dies bedeutet aber nichts anderes, als daß auch die politischen und bürgerlichen Freiheiten letztlich endlich sind, was nicht selbstverständlich ist. Da sie an bestimmte Voraussetzungen und Strukturen gebunden sind, werden sie nicht länger als unbegrenzte Abstrakta gesehen.

7.2 Die Verschuldungskrise, Entwicklungshilfe und eine Entwicklungstheorie

(Robert)

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Der vorliegende Beitrag dient der Ergänzung des Protokolls von Niels. Zum einen werde ich die Essentials meines Vortrags die Verschuldungskrise betreffend noch einmal kurz darstellen. Die Abhandlung über Entwicklungshilfe und -theorie füge ich unserer Diskussion hinzu. Aufgrund meiner Diplomarbeit stieß ich auf weitere Erkenntnisse, die ich als höchst interessant einschätze und Euch deshalb nicht vorenthalten möchte.
Dies ist darüber hinaus ein wichtiger Mechanismus der Arbeitsweise der Creativen Gruppe/Die 98er: die Fundamente, die auf den Treffen gelegt werden, sind lediglich Ausgangspunkte und erfordern eine permanente Diskussion. In schriftlicher Form werden alle Kritikpunkte etc. den schon existierenden Papern hinzugefügt und erweitern, verändern und verbessern die Basis. A Die Verschuldungskrise Im folgenden werden die Fakten und das Ausmaß der Verschuldung der sogenannten Dritten Welt dargelegt. Anschließend wird auf die Ursachen eingegangen. A.1 Die Verschuldung der Entwicklungsländer Die externe Verschuldung der Entwicklungsländer belief sich 1991 auf 1 300 Milliarden Dollar. Allein zwischen 1971 und 1987 verzwölfachte sich der Schuldenberg. Das "brutale" Resultat der immensen Verschuldung ist ein Nettokapitalzufluß von ca. 250 Milliarden Dollar zwischen 1983 und 1991 aus den ärmsten Staaten der Welt an die Industrienationen, überwiegend aus Zinszahlungen resultierend. Das heißt, die Entwicklungsländer zahlen mehr zurück als sie über neue Kredite und Entwicklungshilfe von den reichen Staaten bekommen. Eine verrückte Welt wie Le Monde Diplomatique meint, die ärmsten zahlen die Entwicklung und das Wachstum der Reichen. (vgl. Anlage 1)
Hinsichtlich der Verschuldungssituation gibt es unter den Ländergruppen erhebliche Unterschiede. 1987 entfielen rund 40% der Schulden auf die Länder Süd- und Mittelamerikas, 17% auf Afrika und 29% auf die Länder Süd- und Südostasiens. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Staaten sind noch erheblich größer als zwischen den Weltregionen. Brasilien und Mexiko vereinten 1985 mehr als 20% der Gesamtschulden auf sich. Zu berücksichtigen sind allerdings nicht nur die absoluten Zahlen, das relative Verhältnis zwischen Verschuldung und Bruttosozialprodukt ist entscheidender. Hier liegen meist kleine Staaten mit absolut zu vernachlässigenden Schulden ganz weit oben auf der Liste der abhängigen Länder. A.2 Die Ursachen der Verschuldung Grob vereinfacht kann der Verschuldungsprozeß wie folgt beschrieben werden. Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre bildeten sich mehrere erfolgreiche Rohstoffkartelle in den Entwicklungsländern, zum einen um die starken Schwankungen der Rohstoffpreise einzudämmen, zum anderen um zusätzliche Renten bei den Industrieländern abzuschöpfen. Das Resultat waren steigende Exporterlöse und Ansätze einer staatlich finanzierten Infrastrukturpolitik (Ausbildung, Gesundheitswesen und andere soziale Einrichtungen) in den Entwicklungsländern. Hinzu kamen sehr günstige Weltmarktbedingungen für Wachstum und leichte Geldpolitik, aufgrund der Kriegswirtschaft der USA. Berühmtestes Kartell war die OPEC. Es waren vor allem die Zahlungsbilanzüberschüsse der OPEC-Staaten, die auf den Kapitalmarkt drängten (Euro-Märkte). Da die Entwicklungsländer auf einmal kreditwürdig erschienen und es an alternativen Anlagemöglichkeiten mangelte, wurden seitens der westlichen Banken massive Kredite an jene Ländern gewährt. Dies ist vor allem an der Zusammensetzung der Kreditarten deutlich zu sehen. So sank der Anteil öffentlicher Kredite7 (Entwicklungshilfe- und Exportkredit) von 58% auf 31% in der Zeit zwischen 1971 und 1985, wohingegen die privaten Bankkredite von 12% auf über 40% anstiegen. Das Problem der Bankkredite ist die variable Verzinsung8, die 1972/73 noch bei 8,3% lag.
Der Zusammenbruch kam aufgrund wieder fallender Rohstoffpreise, da die Kartelle nicht hielten, und wegen zurückgehender Nachfrage, indem die Industriestaaten Rohstoffe substituierten oder recycleten. Hier zeigt sich ein weiteres Hauptproblem der Entwicklungsländer. Die meisten Staaten haben nur 2-3 Rohstoffe, die die einzigen Exportgüter darstellen und zudem einer hohen Nachfrageelastizität ausgesetzt sind, d.h. kleine Preisänderungen führen zu starken Mengenänderungen9. Durch diese Entwicklung fielen die Exporterlöse. Als dann in der Reagan-ära die USA versuchten die Abwertung des Dollars zu stoppen, stiegen die Zinssätze bis auf 17, 4% (1982) um dann 1986 wieder auf 8,6% zu sinken. Ebenso stagnierte Ende der 70er Jahre das internationale Wachstum erheblich.

Das war zuviel auf einmal. Im Jahr 1982 betrugen die Zinszahlungen im Verhältnis zu den Ausfuhren 179% für Argentinien, 129% für Mexiko und 122% für Brasilien. Die Länder waren pleite, der Weltmarkt hatte sie zerstört.

Weitere Ursachen sollen nur stichwortartig erwähnt werden, da sie z.T. im Protokoll behandelt werden:

  • Prestigeobjekte
  • Eliten bereichern sich, Korruption
  • Kapitalflucht (wird auf etwa 50% des Schuldenbestandes geschätzt)
  • überbewertung der Währungen
  • Erhöhung der Erdölpreise
  • Wirtschaftspolitik des Westens (unterbewertete Währungen, Protektionismus etc.)

B Kritisches zur Entwicklungshilfe In diesem Abschnitt soll die Kritik unorthodoxer ökonomen an der herrschenden Lehre Entwicklung betreffend vorgestellt werden. Wahrscheinlich leuchten Euch diese Argumente schneller ein als über Jahre hinweg verblendeten ökonomen. Ich beziehe mich hierbei besonders auf Arbeiten der "Berliner Schule" auch Monetärkeynesianer genannt, in deren Mittelpunkt Professor Riese steht und auf den Einzelkämpfer Professor Stützel, der schon nicht mehr unter den Lebenden weilt.

Allgemein wird Unterentwicklung mit Kapitalmangel erklärt. In der traditionellen Lehre gibt es drei Produktionsfaktoren, Arbeit, Kapital und Boden, wobei letzterer keine Rolle spielt. Das Problem so heißt, es läge in dem fehlenden Kapital, alias einer zu geringen Ersparnis der Entwicklungsländer. Es existiere eine "Sparlücke", die irgendwie geschlossen werden müsste. Der traditionelle Vorschlag lautet, man solle Entwicklungshilfe in Form von verbilligten Krediten gewähren.

Was ist aber eine "Sparlücke"? Es heißt einfach, es fehlt Geld, aber wem von uns fehlt das nicht? Was ist Geld? Es ist ein "Nichts" das zur Aneignung von "Etwas" verhilft und auf Gläubiger-Schuldner-Beziehungen beruht.
Geld wird von Zentralbanken geschaffen. Geschäftsbanken verschulden sich bei der Zentralbank um an Geld zu gelangen und verleihen dieses dann an Unternehmen weiter. Diese produzieren mittels Kredit, indem sie Arbeiter und Ressourcen kaufen. Die Eigentümer von Ressourcen und Arbeitskraft (also die Arbeiter selbst) kaufen mit dem Geld die Produkte und legen die Ersparnis - so vorhanden - an. Dadurch sind die Geschäftsbanken nicht mehr nur bei der Zentralbank, sondern auch bei den Geldeigentümern verschuldet. Die Unternehmen müssen durch den Verkauf der Produkte die Kosten und den Zins erwirtschaften.
Geld (Kapital) kann demnach gar nicht fehlen. Die Zentralbank ist jederzeit in der Lage, Geld zu drucken, sollten die Geschäftsbanken Kredite an Unternehmen vergeben wollen und sich bei der Zentralbank verschulden wollen. Darüber hinaus kommt vor der Ersparnis das Einkommen, alias die Investition. Diese Erkenntnis stellt die herrschende Auffassung auf den Kopf! In der traditionellen Lehre braucht man erst Ersparnis, bevor man investieren kann.
Die vorgestellte Funktionsanalyse einer Geldwirtschaft erfordert Institutionen wie ein zweistufiges Bankensystem, eine unabhängige Zentralbank und das Vertrauen in die heimische Währung. Wesentlichster Gesichtspunkt für den Vermögenseigentümer stellt die Möglichkeit dar, sein Geld in andere Währungen umtauschen zu können und das ohne Realwertverluste. Das impliziert, daß die Aufrechterhaltung des Geldsystems die wichtigste Anforderung darstellt. Solange ein Geldsystem nicht erodiert ist, kann von Kapitalmangel keine Rede sein.
Damit ist Entwicklungshilfe in Form von verbilligten Krediten überflüssig. Ein anderer Aspekt spricht noch viel stärker gegen Entwicklungshilfe. Die gewährten Kredite dienen den Entwicklungsländern Produktionsanlagen und andere wertproduktive Güter in den Industriestaaten zu kaufen. Dies erhöht die Exporte der Industriestaaten und stellt ein Mittel zur Wahrung von Leistungsbilanzüberschüssen dar. Spiegelbildlich muß natürlich ein Leistungsbilanzdefizit entstehen. Dies geschieht dort, wo zusätzlich zu den Exporterlösen Kredite aufgenommen wurden, also in den Entwicklungsländern. Damit sichern die Industriestaaten ihre protektionistische Unterbewertung, wohingegen die unterentwickelten Staaten überbewertete Währungen in Kauf nehmen müssen.
Zusammenfassend kann behauptet werden, daß das Gerede von einem Kapitalmangel der falschen Auffassung der Funktionslogik des Kapitalismus zuzurechnen ist und traditionelle Entwicklungshilfe den Industriestaaten nutzt.
Entwicklungshilfe die marktkonform ist, erfordert einen Schuldenverzicht der reichen Staaten (die Schulden sind längst abgeschrieben, sprich sozialisiert, die Bürger der westlichen Staaten haben weniger Steuern von seiten der Banken erhalten), ein Offenhalten unserer Exportmärkte für Güter aus diesen Ländern, damit ausreichend Devisen erwirtschaftet werden und last but not least das Tolerieren von Leistungsbilanzüberschüssen der Entwicklungsländer, dadurch kann in diesen Ländern ein interner Investitions-Einkommensmechanismus in Gang gesetzt werden, der einen Weg aus der Abhängigkeit darstellt. Gegen Entwicklungshilfe in Form von Experten, solange diese die Interessen der Entwicklungsländer vertreten, ist natürlich nichts einzuwenden. C Die Entwicklungstheorie der Berliner Schule C.1 Eine Geldwirtschaft vs einer Tauschwirtschaft Leben wir in einer Geldwirtschaft oder einer Tauschwirtschaft, das ist die paradigmatische Frage, welche die Berliner Schule von fast allen anderen Theorien unterscheidet. Bekanntlich faßt die herrschende Lehre Geld als neutral, die Geldmenge als exogen, die irgendwie von einem Hubschrauber verteilt wird und spricht dem Geld einzig die Tauschmittelfunktion zu. Das impliziert, die Güter untereinander haben relative Preise, die durch Geld normiert werden. Aber Geld spielt eigentlich keine Rolle, erleichtert eben nur den Tausch, oder wie die ökonomen zu sagen pflegen, senkt die Transaktionskosten. Der Wechselkurs ist konsequenterweise ebenfalls neutral. d. h. er dient der Saldierung von Güterströmen an den jeweiligen Grenzen. Dominanz, Abhängigkeit und Hierarchie sind den herrschenden liberalen Theorien völlig fremd, oh wie schön muß diese Welt sein!

Der Funktionsmechanismus einer Geldwirtschaft aus monetärkeynesianischer Sicht wurde bereits im zweiten Kapitel aufgezeigt und entspricht darüber hinaus der Realität, denn daß Geld vom Hubschrauber verteil wird habe ich in den letzten 26 Jahren nicht feststellen können. In der Theorie des Monetärkeynesianismus steht der Vermögenseigentümer, der Kapitalist, oder genau genommen sein Kalkül im Mittelpunkt. Das Kalkül erfordert Realwertsicherheit des Geldvermögens, sonst wird der Vermögenseigentümer sich weigern, Geldvermögen zu halten bzw. er flüchtet in Sachvermögen. Im internationalen Kontext existiert als weitere Möglichkeit die Flucht in eine andere, sicherere Währung. Diesem Kalkül hat sich die Zentralbank zu beugen, will sie nicht, daß ihr Geldsystem erodiert. Deshalb kann sie nicht beliebig Geld produzieren, sondern nur soviel, daß der Außenwert der jeweiligen Währung einigermaßen fix bleibt. Fragen die Geschäftsbanken zum Zwecke der Kreditgewährung Geld bei der Zentralbank nach, so muß sie mittels ihrer Zinssatzpolitik den Wert des Geldes konstant halten, sprich zu starke Inflation vor allem aber Abwertung verhindern.
Kapitalkontrollen bewirken somit langfristig nichts, da der Vermögenseigentümer nicht gezwungen werden kann, eine reale Kreditmenge zu halten, er wird in unproduktives Sachvermögen flüchten, Betongold genannt, sprich Grundstücke, die nicht bewirtschaftet werden etc.. Das größte Problem der Sicherung des Geldwertes stellt die Notwendigkeit hoher Zinssätze zur Verhinderung von Abwertung dar. Diese müssten in Entwicklungsländern oftmals so hoch sein, daß eine Entwicklungsblockade unausweichlich bleibt. Damit ist natürlich auch nichts gewonnen, das macht einmal mehr das Dilemma des Weltmarktes aus. C.2 Stabilitätsorientierte Unterbewertung und selektive Protektion Die einzige Weltmarkt kompatible Möglichkeit für nachholende Entwicklung, die die Berliner Schule sieht, besteht aus einer Kombination der im Titel genannten Instrumente. Aufgrund der Unterbewertunggsstrategie ist sofort einsichtig, daß es sich hierbei um kein Patentrezept für alle Entwicklungsländer handeln kann. Unterbewertete Währungen werden an Leistungsbilanzüberschüssen festgemacht, d. h. eine Währung ist dann unterbewertet, wenn aufgrund der Wechselkursrelationen mehr exportiert als importiert wird. Da spiegelbildlich zu Leistungsbilanzüberschüsse Leistungsbilanzdefizite in anderen Ländern erzeugt werden, ist der Erfolg des einen Währungsraum allemal die Katastrophe anderer. Der Weltmarkt ist nun mal ein Nullsummenspiel.

Die Anforderungen an eine stabile Währung sind oben genannt worden, ebenso die Gründe für Stabilität. Warum aber muß eine Währung unterbewertet sein?10 Die Erklärung ist so trivial wie einfach: es ist eben dominanter Gläubiger im internationalen Kontext zu sein als Schuldner. Wie schon dargelegt wurde dominiert beim Vermögenseigentümer das Kalkül aus einer Währung realwertgesichert "herauszukommen". Handelt es sich nun um eine Schuldnerwährung11, die permanent über Exporteinnahmen den Schuldendienst zu leisten hat, so ist die Gefahr der fehlenden Devisenreserven relativ groß bzw. der notwendigen Abwertung. Also schaut der auf Vermögenssicherung fixierte Vermögenseigentümer auf die Schuldner-/Gläubigerposition im internationalen Kontext. Da die Gefahr der Illiquidität mit hohen Zinsen zu bezahlen ist, zeichnen sich die Entwicklungsländer durch niedrige Reallöhne und hohe Realzinsen aus.
Die Strategie der Unterbewertung erlaubt nun eine Verbesserung der Schuldnerposition oder einen Aufbau einer Gläubigerposition und dadurch sinkende Zinssätze, da die Unsicherheit geringer wird. Niedrigere Zinssätze wirken wiederum stimulierend auf das Aktivitätsniveau der heimischen Wirtschaft und erlauben Reallohnsteigerungen. Damit ist die erste Bedingung für Entwicklung genannt, die Währung muß unterbewertet sein, um Leistungsbilanzüberschüsse zu generieren und langfristig eine höhere Vermögenssicherungsqualität der Währung ermöglichen12. Die Unterbewertung zusammen mit niedrigen Reallöhnen stellen die absoluten Vorteile13 im Weltmarkt dar14. Absolute Vorteile wirken auf das Wettbewerbsniveau, ermöglichen ein anfängliches Wachstum, induzieren aber keinen Strukturwandel, sondern schreiben die periphere Situation der unterentwickelten Staaten fest. Das heißt nur aufgrund der niedrigen Reallöhne wird sich Industrie ansiedeln, die aber nicht in der Lage sein wird höhere Löhne zu zahlen. Für die Wettbewerbsstruktur sind die komparativen Vorteile verantwortlich, die über selektive Protektion sichergestellt werden können. Hört ihr sie schon schreien, die Liberalen? Dabei haben sie überhaupt keinen Grund dazu, denn jedes Land muß, um im Weltmark überleben zu können in irgendeiner Weise komparative Vorteile erzeugen. Wie machen dies die Industriestaaten? Sie subventionieren die Forschung, bauen Universitäten, um ein höheres Humankapital zu bilden, das den Unternehmen dann "kostenlos" überlassen wird, sie fördern die Infrastruktur etc. etc.. Doch wie können die armen Staaten komparative Vorteile sichern, wenn nicht über Zölle.
Zusammenfassend kann Unterbewertung als notwendige und selektive Protektion als hinreichende Bedingung für Entwicklung bezeichnet werden. Die selektive Protektion steht der von Friedrich List15 im letzten Jahthundert vorgeschlagenen Erziehungszollidee nahe. Für Güter die aus der Produktion hervorgehen, die hohes Fixkapital, hohen Lernaufwand und hohe Aufbaukosten erfordern, sind Zölle zu erheben. Die Zölle sollen nach Wertproduktivität gestaffelt sein und unabhängig von der Produktionsstufe oder der Verwendung erhoben werden16. Die selektive Protektion dient damit der Diversifizierung der ökonomie, schafft eine Verbindung zwischen Binnenmarktentwicklung und Exportsektor und verbessert die Elastizitätsbedingungen für die Exportgüter auf dem Weltmarkt. Zum einen kann die selektive Protektion bei Induzierung eines selbsttragenden Aufschwungs abgebaut werden, oder aber dauerhafte komparative Vorteile sichern.

Die Wirtschaftsgeschichte liefert massig Beispiele für erfolgreiche Entwicklung mittels Protektion, Kontinentaleuropa im 19. Jahrhundert, Japan im 20. Jahrhundert und auch Taiwan und Südkorea in jüngster Zeit. C.3 Gedanken zum Weltmarktzusammenhang Da niemals alle Länder gleichzeitig Nettogläubiger sein können, der Aufstieg des einen Landes den Abstieg eines anderen bedingt oder noch mehr Abhängigkeit für schon am unteren Ende siechende Staaten bedeutet, wird Dominanz, Hierarchie und Abhängigkeit nicht aus einer kapitalistischen Wirtschaft verschwinden. Die einzige Hoffnung, die uns bleibt, ist die Tatsache, daß aufgrund falschen Verhaltens ehemalige Nettogläubigerländer absteigen können und somit Platz machen werden für die Dominanz anderer. Holland im 17./18. Jahrhundert, England bis zum ersten Weltkrieg und bis zum Ende des 20. Jahrhunderts noch die USA, danach Japan oder China. Es können andere sein, die dominieren, an der Funktionslogik des Weltmarktes wird sich dadurch nichts ändern.

Saarbrücken, den 21. November 1993

Literaturverzeichnis

Abschnitt A

Sander, Paul und Sommer, Michael (1992), Banken, Kredite und die "Dritte Welt". Band 1: Verschuldung als moderne Form der Ausplünderung. Schmetterling Verlag, Stuttgart.

Kaiser, Martin und Wagner, Norbert (1988), Entwicklungspolitik. Grundlagen - Probleme - Aufgaben. Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn, Bd. 239.

Opitz, Peter J. (Hrsg.) (1990), Weltprobleme. Bundeszentrale für politische Bildung, München.

Abschnitt B

Stützel, Wolfgang (1978), Volkswirtschaftliche Saldenmechanik. J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen.

Herr, Hansjörg (1992), Geld, Währungswettbewerb und Währungssysteme: theoretische und historische Analyse der internationalen Geldwirtschaft. Campus Verlag, Frankfurt/New York.

Lüken genannt Klaßen, Mathilde (1993), Währungskonkurrenz und Protektion. Peripherisierung und ihre überwindung aus geldwirtschaftlicher Sicht. (Studien zur monetären ökonomie, Bd. 12). Metropolis Verlag, Marburg.

Abschnitt C

Lüken genannt Klaßen, Mathilde (1993), Währungskonkurrenz und Protektion. Peripherisierung und ihre überwindung aus geldwirtschaftlicher Sicht. (Studien zur monetären ökonomie, Bd. 12). Metropolis Verlag, Marburg.

Lüken-Klaßen, Mathilde und Betz, Karl (1989). Weltmarkt und Abhängigkeit. In: Riese, Hajo und Spahn, Heinz-Peter (Hrsg.), Internationale Geldpolitik. (Studien zur monetären ökonomie, Bd. 2). Transfer-Verlag, Regensburg, S. 217-265.

Anmerkungen

  1. 1siehe Anhang
  2. 2siehe Anhang
  3. 3International Labour Organisation, gegr. 1919, seit 1946 Zusammenarbeit mit der UNO
  4. 4UN- Conference on Trade and Development, III 1973 in Santiago de Chile, IV 1976 in Nairobi)
  5. 5siehe Anhang
  6. 6Non-Governmental Organisations, sog. Nichtstaatliche Organisationen (z.B. Amnesty International, Greenpeace).
  7. 7Unter öffentlichen Krediten werden von Staaten und internationalen Organisationen gewährte Kredite verstanden, meist zinsverbilligt.
  8. 8Variable Verzinsung bedeutet, daß die Kreditkonditionen normalerweise alle drei Monate den Marktzinsen angepasst werden.
  9. 9Eine geringe Elastizität weisen im Normalfall die wertproduktiveren Güter auf. Z. B. fällt die Nachfrage nach einem Mercedes bei steigenden Kosten nicht so stark wie etwa nach Rohstoffen, da das Produkt diversifizierter und schwerer zu substituieren ist.
  10. 10In der herrschenden Theorie stellt Unterbewertung eine nicht-rationale Strategie dar, da Wohlfahrtsgewinne verschenkt werden. So einfach ist der Weltmarkt eben nicht, wie ihr im folgenden sehen werdet.
  11. 11Nur im Fall der Leitwährung (z. Z. der US-Dollar) sieht die Situation anders aus. Das Leitwährungsland kann sich in eigener Währung verschulden wegen seiner herausgehobenen Stellung in der Währungshierarchie. Die Leitwährung stellt mit ihrem Geld die internationale Liquidität dar. Natürlich ist eine permanent zunehmende Verschuldung der Leitwährung langfristig nicht mit der Funktionsanforderung der Leitwährung vereinbar und es wird zu einem Wechsel kommen. In der übergangszeit existiert ein Multiwährungsstandard, das impliziert, daß es keine eindeutige Leitwährung gibt und jede potentielle versuchen wird über Leistungsbilanzüberschüsse die Leitwährungsposition an sich zu reißen. Konsequenz sind international steigende Zinsen und möglicherweise eine lang anhaltende Rezession.
  12. 12Da permanente Abwertungen die Vermögenssicherung der Währung aushöhlen, muß die induzierende Abwertung durch die inländischen Institutionen (Staat, Gewerkschaften etc.) gehalten werden, das erfordert einen Verzicht auf zu starke Lohnsteigerungen und zu expansive Budgetpolitik. Wenn diese Gegebenheiten nicht gewährleistet sind, ist die Strategie nicht erfolgreich. Das impliziert wieder einmal, daß nur gewisse Länder überhaupt in der Lage sein werden die Strategie erfolgreich zu realisieren.
  13. 13Hier ist wieder einmal auf einen Unterschied zur herrschenden Lehre hinzuweisen. Die herrschende Lehre spricht bei Reallohndifferentialen von komparativen Vorteilen. Das ist logisch falsch. Ebenso stellte Ricardo seine Theorie der komparativen Vorteile bei internationalem Handel unter der Annahme gleicher Reallöhne in England und Portugal auf!
  14. 14Genau genommen handelt es sich bei den Reallohndifferentialen natürlich um Nachteile, die eindeutiger Ausdruck der Unterentwicklung sind.
  15. 15Friedrich List, ein deutscher ökonom stritt damals mit Ricardo, einem englischen ökonom. Ricardo, die Interessen der am weitest entwickelten ökonomie vertretend, plädierte selbstverständlich für Freihandel. List sah das aus der Perspektive des unterentwickelten Deutschlands anders.
  16. 16Selbst die BRD wandte in der Zahlungsbilanzkrise 1950/51 eine solche Zollstruktur an. Demnach waren z. B. Rohstoffe wie Erze, Schrott, Kohle und elektrischer Strom zollfrei, Roheisen und ähnliche Vorprodukte wurden mit 12% Zoll belegt, Universaleisen (18%), Nägel (20%), Schrauben (25%), Elektrobleche (28%) und schließlich Kraftfahrzeuge (35%).

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